15. Juni 1997
Die übernatürliche Offenbarung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die natürliche Offenbarung, von der wir am vergangenen Sonntag gesprochen haben, geht aus von der uns umgebenden Wirklichkeit und deutet, da sie sich nicht selbst erklärt, auf einen Schöpfer. Die natürliche Offenbarung ist groß und gewaltig, aber sie wird überboten durch die übernatürliche Offenbarung. Gott hat sich nicht begnügt damit, daß die Menschen aus seinen Werken auf den Werkmeister schließen konnten. Nein, er hat eine eigene Geschichte gestiftet, die sich von der Profangeschichte als Heilsgeschichte unterscheidet. Er setzt eine geschichtliche Bewegung in Gang, die unmittelbar von ihm kommt und die Menschen in seine Herrlichkeit hineinruft. Er tritt in einen Kontakt mit den Menschen, der durch Sprechen, selbstverständlich auch durch Handeln, also durch Handeln und Sprechen hergestellt wird.
Die Heilige Schrift bezeugt eindeutig die Wirklichkeit der übernatürlichen Offenbarung. Besonders kraftvoll ist das Zeugnis des Hebräerbriefes. „Vielmals und mannigfach hat einst Gott zu den Vätern durch die Propheten gesprochen. Jetzt, am Ende der Tage, hat er zu uns durch seinen Sohn geredet, den er zum Erben über alles gesetzt hat, durch den er auch Welten geschaffen.“ Dieselbe Lehre der übernatürlichen Offenbarung finden wir im 2. Korintherbrief. Da schreibt Paulus: „Wir reden Gottes Weisheit, die geheimnisvolle, verborgene, die Gott vor Beginn der Welt zu unserer Verherrlichung vorherbestimmt hat. Diese Weisheit hat keiner der Fürsten dieser Welt erkannt; denn hätten sie dieselbe erkannt, nie hätten sie den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt. Vielmehr gilt davon das Schriftwort: ‘Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört und in keines Menschen Herz ist es gedrungen. Gott hat es denen geoffenbart, die ihn lieben.’ Uns hat es Gott geoffenbart durch seinen Sohn.“ Diese beiden Zeugnisse für die übernatürliche Offenbarung werden vom kirchlichen Lehramt bestätigt. Im Ersten Vatikanischen Konzil hat die Kirche ausgesagt: „Es hat Gottes Weisheit und Güte gefallen, auf einem anderen (als dem natürlichen), und zwar übernatürlichen Weg sich selbst und die ewigen Beschlüsse seines Willens dem Menschengeschlecht zu offenbaren.“ Dabei beruft sich das Konzil auf den Hebräerbrief: „Zu vielen Malen und auf vielerlei Art hat Gott einst durch die Propheten zu den Vätern geredet. Zuletzt hat er in diesen Tagen zu uns in seinem Sohn gesprochen.“
Die übernatürliche Offenbarung geschieht in anderer Weise als die Naturoffenbarung. Gott wendet sich darin unmittelbar dem Menschen zu. Er tritt in persönlichen Kontakt, in unmittelbaren Austausch, und zwar geschieht das durch Sprechen. Sprechen ist ja die gegebene Weise, wie Personen miteinander in Austausch treten. Gott spricht, und der Mensch hört. Das erste Wort, das Gott an den Menschen richtet, heißt nicht „Rede!“, sondern „Höre!“ Der Mensch soll, ja muß auf das hören, was die höchste Weisheit ihm vermittelt. Die Art und Weise, wie Gott in der übernatürlichen Offenbarung wirkt, ist mannigfaltig. Wir Menschen haben nur begrenzte Weisen, wie wir miteinander in Austausch treten. Wir schreiben uns, wir sprechen miteinander, wir vermögen auch durch Zeichen und Geschenke sowie durch visuelle Kontakte Beziehungen zueinander aufzunehmen. Gott hat noch viel mehr Möglichkeiten, um zum Menschen zu gelangen. Er kann das Erkenntnisvermögen des Menschen im Inneren seines Herzens anrühren. Er kann ihm Erkenntnisinhalte vermitteln ohne irgendein Medium. Denken Sie etwa an die drei Träume, durch die Josef in seinem Verhalten zu seiner Gattin Maria und dem Jesusknaben gelenkt wurde. Denken Sie an den Traum, den die Weisen aus dem Morgenlande hatten und der sie auf einem anderen Weg in ihre Heimat zurückführte. Da hat Gott sich unmittelbar zu erkennen gegeben im Inneren dieser Menschen.
Gott kann auch von außen einwirken. Er kann Visionen, die äußerlich sichtbar sind, den Menschen vermitteln. Als Petrus in Joppe war, wurde ihm eine solche Vision zuteil, die ihm Aufschluß darüber gab, daß es Gottes Wille sei, auch Heiden in die junge Kirche aufzunehmen. Die Erscheinungen Jesu nach seiner Auferstehung waren ebenfalls äußere, von außen einwirkende Erscheinungen auf diejenigen, denen sie gewährt wurden. Die höchste und ergreifendste Offenbarung Gottes bestand darin, daß er seinen Sohn in die Welt sandte. Die Menschwerdung ist der Gipfel der übernatürlichen Offenbarung Gottes.
Durch die übernatürliche Mitteilung Gottes geschieht etwas, was kein menschliches Nachdenken vermitteln kann. Die Menschen haben selbstverständlich oft versucht, die Welt mit ihren Werken zu deuten. Sie haben den Mythos geschaffen, viele Mythen in den verschiedenen Volkstümern. Der Mythos unterscheidet sich von der übernatürlichen Offenbarung in grundlegender Weise. Die übernatürliche Offenbarung ist Wort Gottes, der Mythos ist Wort des Menschen. Die übernatürliche Offenbarung ist Mitteilung Gottes, der Mythos ist Deutung der Geheimnisse der Welt durch den Menschen. Der Mythos steigt aus dem Inneren des Menschen auf, das Wort Gottes kommt ihm von oben zu.
Die übernatürliche Offenbarung dient dazu, den Menschen in die Herrlichkeit Gottes hineinzurufen. Sie ist der Ausdruck der höchsten Wahrheit des souveränen Gottes. Deswegen verlangt sie Gehorsam. Der Mensch muß horchen, er muß gehorchen, wenn Gott zu ihm spricht. Er darf nicht nur zur Kenntnis nehmen, er darf nicht nur billigen, er muß sich auf die Offenbarung Gottes einlassen. In der Offenbarung gibt es ja nicht nur Mitteilungen, es gibt auch Weisungen. Es wird nicht nur Aufklärung geboten, es werden den Menschen auch Gebote und Verbote auferlegt. Der Mensch ist gehalten, sich ihnen in Gehorsam zu unterwerfen. Wenn Gott spricht, muß der Mensch hören und gehorchen. Aber wie gesagt, das alles geschieht, um den Menschen in die Herrlichkeit Gottes hineinzuziehen. Der Mensch wird dadurch in eine neue Wirklichkeit erhoben. Ist er als Geschöpf nur dem Schöpfer begegnet, so begegnet er als Kind Gottes, das er durch die übernatürliche Offenbarung wird, dem Vater. Hier ist die Huld Gottes, nicht nur sein Schöpferakt am Werke, um den Menschen in die Herrlichkeit Gottes, selbstverständlich auf endliche Weise, hineinzuziehen.
Nun darf man sich die übernatürliche Offenbarung nicht, wie die Modernisten wollten und wollen, nur als einen unbestimmten Impuls vorstellen, den der Mensch dann seinerseits auslegt und in Worte faßt. Nein, die übernatürliche Offenbarung vermittelt einen bestimmten Inhalt, und zwar in einer doppelten Weise. Einmal bekräftigt die übernatürliche Offenbarung das, was der Mensch durch seinen Verstand aus der Naturoffenbarung schon erkannt hat. Er konnte erkennen, daß es einen Gott gibt, daß er voll Macht und Schönheit und Größe ist, daß er der Schöpfer dieser uns umgebenden Wirklichkeit ist. Das alles wird auch durch die übernatürliche Offenbarung gelehrt. Aber es wird uns dadurch gewisser, deutlicher. Wir bekommen jetzt eine Kunde davon, die über jeden Zweifel erhaben ist. Aber nicht nur eine Bekräftigung von Wahrheiten, die uns auch auf natürlichem Wege zugänglich sind, geschieht durch die übernatürliche Offenbarung, sondern auch eine Enthüllung von Wirklichkeiten, die keinem menschlichen Zugriff offenstehen. Was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört hat, das enthält die übernatürliche Offenbarung. Also zum Beispiel, daß Gott in drei Personen existiert, das ist aus der Schöpfung nicht zu entnehmen. Oder daß Gott für die Menschen, die ihm dienen und ihn lieben, eine himmlische Freude bereitet hat, die alles Begreifen übersteigt. Oder daß es nicht nur ein Weiterleben der unsterblichen Geistseele gibt, sondern auch eine Auferstehung des Fleisches am Ende der Tage. Das sind Inhalte, die uns nur durch die übernatürliche Offenbarung vermittelt werden.
Die übernatürliche Offenbarung ist nicht an alle Menschen ergangen. Gott hat sich bestimmte Träger seiner Offenbarung auserwählt. Die Uroffenbarung wurde dem ersten Menschenpaar mitgeteilt. Damals existierte ja die Menschheit nur im ersten Menschenpaar, und an sie ist die Uroffenbarung ergangen. Später berief Gott einen Mann, der der Stammvater eines großen Volkes sein sollte. Er trug den Namen Abraham. Wieder einige Zeit später erwählte Gott einen Mann, der als Knabe aus den Fluten gerettet worden war und nun herangewachsen war, namens Moses. Er sollte sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten in das von Gott versprochene, das verheißene Land führen. Und dieses Volk sollte jetzt als ganzes in einem gewissen Umfang Träger der Offenbarung sein. Daß dieses Volk nicht mythischen Religionsvorstellungen anhing, erkennt man daraus, daß es sich fortwährend gegen den einen, wahren Gott wehrte. Es hatte eine Zuneigung zu den Göttern der Umwelt, zu den babylonischen, zu den persischen Göttern. Sie waren angenehmer, sie waren verheißungsvoller als der eine, wahre Gott, der strenge Forderungen stellte. Daran erkennt man, daß übernatürliche Offenbarung von Gott kommt und nicht aus dem begehrlichen Herzen der Menschen geboren wird. Als das Volk von seiner Sendung immer wieder abzufallen drohte, berief Gott Propheten, Männer des Geistes, die unter dem Gebote Gottes Verheißungen und Drohungen aussprachen, die das Volk in der rechten Weise unterwiesen und ihm den Weg des Heiles zeigten. Der letzte der Propheten hieß Johannes der Täufer. Als die Zeit erfüllt war, nahm Gott Menschengestalt an und wurde in dieser Gestalt der Vollender der Offenbarung. Er berief seinerseits Träger seines Offenbarungswortes. Es waren die Apostel, die wiederum anderen das anvertrauten, was sie selbst gehört hatten. Alle diese Träger der Offenbarung empfingen die Offenbarung für andere. Sie waren Herolde. Sie haben nicht Selbsterdachtes, nicht Selbsterfundenes verkündet, sondern sie haben das weitergegeben, was Gott ihnen in untrüglicher Gewißheit vermittelt hat.
Jetzt sehen wir also, meine lieben Freunde, die wesentliche Verschiedenheit zwischen natürlicher und übernatürlicher Offenbarung. Es sind vor allem vier Unterschiede.
1. Die natürliche Offenbarung geht aus von der Schöpfung und kommt nur zum Schöpfer. Die übernatürliche Offenbarung dagegen begründet ein Kindesverhältnis. Ihr Ziel ist der Vater, der sich in Huld zu seiner begnadeten Menschheit neigt.
2. Die natürliche Offenbarung ist immer bereitliegend, um den Menschen zu Gott zu führen. Zu allen Zeiten und bei allen Völkern kann der Mensch, wenn er will, aus der Offenbarung der Natur den Naturschöpfer erkennen. Die übernatürliche Offenbarung ist dagegen geschichtlich. Sie vollzieht sich zu bestimmten Zeiten, in bestimmten Gegenden, bei einem bestimmten Volk, durch bestimmte Männer und Frauen.
3. Die natürliche Offenbarung vermittelt uns nur wenige Inhalte, und sie sind uns nicht mit unbestreitbarer Sicherheit gegeben. Die übernatürliche Offenbarung ist viel reicher, viel deutlicher, und sie gibt uns eine Gewißheit, die nicht überboten werden kann. Denn was kann wahrer sein als das Wort der höchsten Wahrheit?
4. Die natürliche Offenbarung wird erkannt mit dem Lichte des Verstandes. An sich und mit gutem Willen ist die menschliche Vernunft fähig, aus der Schöpfung auf den Schöpfer zu schließen. Die übernatürliche Offenbarung bedarf, um aufgenommen zu werden, eines neuen Lichtes; es ist das Licht des Glaubens. Hier gilt das Wort: Wen Gott nicht zieht und wer sich von Gott nicht ziehen läßt, der findet ihn nicht.
Das ist, meine lieben Freunde, der Begriff der übernatürlichen Offenbarung, den die katholische Kirche lehrt und hält. Er führt uns in ungeheure Höhen. Er ist so geartet, daß er Überlegenheit über jede andere Religion, die auf dieser Erde existiert, verschafft. Aber jetzt erhebt sich die Frage, der wir nachgehen müssen: Ist denn diese übernatürliche Offenbarung auch wirklich geschehen? Kann man sie erkennen? Kann man ihrer gewiß werden? Das zu bedenken, wird bald unsere Aufgabe sein.
Amen.