Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. November 2022

Eine große Schar, die niemand zählen kann

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jeden Tag lesen wir im Kalender den Namen eines Heiligen. Gibt es nur 365 Heilige? Wie töricht, so etwas zu meinen! Am Fest Allerheiligen gehen unsere Gedanken hinauf zu der „großen Schar, die niemand zählen kann“. Tag für Tag feiert die Kirche den Gedenktag eines oder mehrerer Heiligen. Sie treten in der Messe ihres Festtages vor uns, sie sprechen zu uns, sie mahnen uns, sie rufen uns. Von nicht wenigen Heiligen haben wir Bilder in unseren Kirchen und Kapellen, ein Gemälde, ein Glasfenster, eine Figur aus Holz oder Stein. Seit dem Tage unserer heiligen Taufe tragen wir den Namen eines Heiligen. Ihnen sollen wir nachstreben, und sie sollen uns schützen. Sie sind unsere Vorbilder und Fürsprecher. Von manchen kennen wir Züge aus ihrem Leben, wissen Worte, die sie gesprochen, haben die Stätten besucht, wo sie gelebt und gewirkt haben. Wir haben schon am Grab dieses oder jenes Heiligen gekniet und gebetet. Wie viele Heilige sind jedoch vergessen! Sind in der großen Schar, die niemand zählen kann, nicht auch unsere lieben Angehörigen, unsere Wohltäter, unsere Priester und Lehrer, die uns mit dem Zeichen des Glaubens vorangegangen sind? Denken wir nicht zu wenig an diese Heiligen? Wie nahe standen sie uns auf Erden! Sollten sie uns jetzt fern sein? Das Fest Allerheiligen erinnert uns an die „Gemeinschaft der Heiligen“, die wir im Glaubensbekenntnis so oft bekennen. Die Angehörigen der triumphierenden Kirche im Himmel treten für uns, die Glieder der kämpfenden Kirche, ein.

In unmittelbarer Nähe zu dem Fest Allerheiligen steht das Fest des heiligen Carl Borromäus, am 4. November. Welche Bewandtnis hat es mit ihm? Er lebte von 1538 bis 1584. Sein Onkel Gian Angelo Medici war Papst Pius IV. Er zog seinen Neffen nach Rom. Dort wurde er der Leiter der politischen Angelegenheiten der Römischen Kurie. Er betrieb nachdrücklich die Wiedereröffnung und den Abschluss des Konzils von Trient, die Durchführung seiner Beschlüsse an der Römischen Kurie und die Abfassung des Römischen Katechismus. Mit 22 Jahren war Carl Borromäus Kardinal der römischen Kirche. Der Papst übertrug ihm außerdem zunächst die Verwaltung und später den vollen Besitz des Erzbistums Mailand. Die große Mailänder Diözese, die ihm übertragen wurde, zählte 2200 Kirchen, darunter 800 Pfarreien, etwa 600 000 Seelen. Der Bezirk des Metropoliten umfasste 15 oberitalienische Bistümer, einen Teil der Schweiz und der Republik Venedig. Das religiöse Leben im Volk war erschlafft, der Sakramentenempfang selten, der religiöse Unterricht mangelhaft. Der Weltgeist hatte sich in den Klöstern breitgemacht. Der Klerus hatte nur dürftige theologische Kenntnisse.

Carl Borromäus ging ans Werk. Zweimal im Jahr durchzog er den ihm anvertrauten Sprengel. Kein noch so kleiner Ort, keine Kirche, keine Kapelle, keine Schule und kein Kloster wurde übergangen. Bei guten Wegen machte er die Reise zu Pferd, bei schlechten zu Fuß, und immer mit so geringem Gepäck, dass er selbst alles im Mantelsack mitführen konnte. In den Schweizer Bergen wurden Steigeisen an den Schuhen befestigt. An manchen Stellen musste er sich mit Händen und Füßen weiterarbeiten, nicht selten kam er mit Hautabschürfungen am Bestimmungsorte an. Das gläubige Volk lohnte diese opferfrohe Hingabe mit kindlicher Anhänglichkeit. Das Trienter Konzil hatte die ganze Erneuerung der Kirche auf dem Bischof aufgebaut und in die Hand des Bischofs gelegt. Der Erzbischof von Mailand zeigte durch sein Beispiel, wie die Dekrete im Einzelnen auszuführen sind und was sich durch ihre verständnisvolle Ausführung erreichen lässt. Er wusste, wie viel in der Kirche von den Geistlichen abhängt. Daher errichtete er Knabenseminare und Priesterseminare für die Heranbildung eines tüchtigen Klerus. Der Bischof zeigte, was Visitation sein muss. Er besichtigte persönlich alle kirchlichen Einrichtungen, vom Tabernakel bis zu den Ölen, von der Kasse bis zum Pfarrhaus. Er stellte Mängel und Nachlässigkeit fest und drang auf ihre Beseitigung, notfalls durch Strafen. An Widerstand fehlte es ihm nicht. Einem Mordanschlag entging er wie durch ein Wunder.

Carl Borromäus war kein rhetorisches Genie, wie ein anderer Bischof von Mailand, der hl. Ambrosius. Er hatte nicht einmal einen angeborenen Sprachfehler völlig überwunden. Und doch strömten ihm die Gläubigen in Scharen zu. Das Volk spürte: Er spricht mit der bezwingenden Glut des Herzens. Ein Freund forderte ihn auf, sich manchmal zur Erholung in seine Gärten zu begeben. Er antwortete: „Der Garten eines Bischofs und eines Geistlichen ist die Heilige Schrift.“ 20 Stunden täglicher Arbeit, nur eine Mahlzeit am Tage, dazu die Strapazen endloser Fußmärsche. In 19 Jahren 17 Synoden, ungezählte Predigten und Briefe (die von ihm enthaltenen Briefe füllen hundert Bände in der Ambrosianischen Bibliothek), die persönliche Leitung des Klerus. Wen wundert es da, dass seine physischen Kräfte abnahmen? Wenn man ihn zum Ausruhen ermahnte, erwiderte er: „Ausruhen kann ich noch lange.“ Im Mailänder Pestjahr stieg die Not ins Ungeheure. Als die Krankheit sich ausbreitete, floh jeder, der konnte, aus Mailand. Sogar Regierungsmitglieder entfernten sich, ausgerechnet als die Probleme der Unterstützung und Versorgung sehr dringend wurden. Carl Borromäus harrte aus bei seiner Herde. Zahllose Kranke blieben sich selbst überlassen, schleppten sich auf die Straßen und Plätze und starben haufenweise dahin. Der Kardinal durchwanderte die Straßen, um die Verlassenen aufzusuchen und ihnen beizustehen. Er gab sein Bett und sein Tafelsilber her, ließ Lebensmittel für die Hungernden herbeischaffen und half, wo er konnte. In der Zeit größter Not zeigte er sich als wahrer guter Hirt, als Muster eines Bischofs und Seelsorgers. Bei einem Konzil kommt alles darauf an, dass seine Beschlüsse in die Praxis umgesetzt werden. Das beste Beispiel dafür in der Kirchengeschichte ist der jugendliche Kardinal Carl Borromäus. Mailand war das erste Bistum, das die Vorschriften des Trienter Konzils in vollem Umfang durchführte und der Welt ein Beispiel gab, wie blühendes katholisches Leben in Dorf und Stadt aussieht.

Carl Borromäus gab sich aus und verbrauchte sich vor der Zeit. Darüber hinaus zwang er seinen Körper schonungslos zu Fasten und Bußübungen. Er starb, erst 46 Jahre alt, mit den Worten auf den Lippen: „Sieh, o Herr, ich komme bald.“

Am 4. November 1610 hielt der Theatiner P. Paul Arese im Dom zu Mailand die Lobrede auf den zum Heiligen erhobenen Carl Borromäus. Er schloss mit der Mahnung: „Das aber, worauf es jetzt am meisten ankommt, ist, dass sein Bild sich in aller Herzen einprägt.“ Der Bischof Ferdinand Piontek von Breslau/Görlitz starb am 2. November 1963. Auf seinem Schreibtisch fand man das Manuskript einer Predigt zum Fest des hl. Carl Borromäus. Er hatte sie vorbereitet, konnte sie jedoch nicht mehr halten. Im letzten Absatz heißt es: „Gott geht mit den Heiligen seine eigenen Wege. Er schenkt sie in einem Zeitpunkt, der gar nicht danach aussieht, und er nimmt sie in einem Zeitpunkt, wo es die Menschen nicht erwarten. Er ist der Herr!“ Was hätte Carl Borromäus noch wirken können, wenn er wie sein Onkel Pius IV. 66 Jahre erreicht hätte! Es sollte nicht sein. Gott wusste es besser. In der Festmesse vom 4. November lässt uns die Kirche beten: „Wache, o Herr, über deine Kirche, durch den fortwährenden Schutz deines heiligen Bekenners und Bischofs Carl; dann wird seine Fürsprache uns allezeit in Liebe zu dir erglühen lassen, gleichwie ihn selber sein Hirteneifer zum Ruhme führte.“

Amen.

Schrift
Seitenanzeige für große Bildschirme
Anzeige: Vereinfacht / Klein
Schrift: Kleiner / Größer
Druckversion dieser Predigt