17. Dezember 2023
Die Befragung des Täufers
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wie die drei älteren Evangelisten, so eröffnet auch der vierte, Johannes, seine Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu mit einem Bericht über den Täufer. Aber sein Bericht unterscheidet sich stark von dem der drei Synoptiker. Diese sehen die Aufgabe des Täufers vornehmlich in der Zubereitung der Herzen des Volkes für die Aufnahme der Predigt des Messias vom Anbruch des Gottesreiches. Für Johannes ist der Täufer einfach und schlechthin der Zeuge für Jesus als den von Gott gesandten Offenbarer. Diesmal ist es nicht der Täufer, der Gesandte schickt, sondern die hohe religiöse Behörde der theokratischen Hauptstadt Jerusalem. Schon seit Wochen ist der Plan gereift. In mehrfachen eingehenden Beratungen hat die höchste Stelle des Judentums den Beschluss gefasst, eine offizielle Abordnung zu dem seltsamen Prediger an die Ufer des Jordans zu schicken, die, mit der vollen Autorität des Hohenpriesters in Schrift und Siegel ausgerüstet, von ihm Auskunft heischen soll. Die religiöse Situation im Land ist bedrohlich und erscheint unhaltbar. Die sechzig Synagogen der Hauptstadt veröden zusehends. Die Masse der Bevölkerung zieht in Strömen zum Jordan, nicht nur die kleinen Leute und der trostbedürftige fünfte Stand. Nein, auch die Oberschicht, Menschen von Rang und Intelligenz und Welt stehen am Jordan zwischen den Zöllnern, den Samaritern, den Landarbeitern, den Arabern, den Zigeunern, und sie sind sichtlich von den Worten und dem Lebensbeispiel des seltsamen Propheten berührt und hingerissen. An den Furten des dunklen Flusses steht wirkliches religiöses Erlebnis auf. Doch niemand erinnert sich, den Täufer je in den Vorlesungen und Übungen der theologischen Hochschule zu Jerusalem gesehen zu haben. Er hat nicht attestiert. Er hat keine Fleißzeugnisse erworben. Er hat keine Reifeprüfung abgelegt. Wer weiß, ob er richtig schreiben kann? Er hat sich nie um die Tempelbehörde bekümmert und offenbar nie um die Erlaubnis nachgesucht, draußen im Lande zu predigen und religiöse Versammlungen abzuhalten, geschweige denn in diesen Versammlungen liturgische Handlungen zu vollziehen wie die Taufe, der sich unglaublicher Weise fast alle unterziehen, die zu ihm ins Tal wandern, selbst die ganz gescheiten und gebildeten Menschen, die in Jerusalem als freisinnig gelten. Das kann nicht so weitergehen, in diesen Dingen muss Ordnung sein. So machen sich die gelehrten Theologen und Juristen auf und fordern Johannes vor ihr Tribunal. Dass die Gesandtschaft an den Täufer aus Priestern und Leviten besteht, hat darin seinen Grund, dass diese der römerfreundlichen Priesteraristokratie nahestanden, die alle neuen religiösen Bewegungen mit Misstrauen beobachtete; denn sie fürchtete, dass sich in ihnen politisch-messianische Aspirationen verbargen. Man fragte sich im Volke ernstlich, ob nicht Johannes der erwartete Messias sei (Lk 3,15). In Jerusalem will man Klarheit darüber gewinnen, ob die vom Täufer entfachte Bewegung messianischen Charakter trägt.
Die Veranlasser der Gesandtschaft sind die Juden von Jerusalem, worunter der Hohe Rat, das Synedrium, gemeint ist. Charakteristisch für den Evangelisten Johannes ist, dass er die Bezeichnung „die Juden“ in der Regel nicht für das ganze Volk, sondern nur für einen Teil derselben, die Hohenpriester und die Pharisäer, die erbitterten Feinde Jesu, gebraucht. In dieser eigentümlichen Verwendung des Ausdrucks „die Juden“ kommt zum Ausdruck, dass Johannes das Volk nicht von den eigentlich Schuldigen, seinen Führern, unterscheidet. Da die große Masse des Volkes sich nicht zu einer anderen Stellung zu Jesus hat bewegen lassen, hat es teil an ihrer Schuld. Der Abstand, der im Evangelium zwischen dem Gottgesandten und dem ihn verwerfenden jüdischen Volk besteht, offenbart sich darin am schärfsten, dass Jesus zu den Juden wie zu Fremden redet. In diesem Sprachgebrauch des Evangelisten spiegelt sich eine Zeit wider, in der die völlige Verwerfung Jesu durch das jüdische Volk als Ganzes und die endgültige Scheidung zwischen diesem und der urchristlichen Kirche eine vollendete geschichtliche Tatsache geworden ist.
Die erste und entscheidende Frage an den Täufer lautet: „Wer bist du?“ Der Täufer weiß, worauf sie hinauswollen: Sie wollen wissen, ob er für sich die Messianität beansprucht. Damit sie es sofort wissen und beruhigt sein können: der Messias, der Heilige, der unsterblich Große, der heiß Ersehnte, ist er nicht. Das betonte „ich“ bin es nicht deutet an, dass ein anderes es ist. „Wer denn? Bist du Elias?“ Nach der jüdischen Zukunftserwartung, die sich auf Mal 4,4f. stützt, soll der Prophet Elias dem Messias als sein unmittelbarer Vorläufer vorausgehen, um das Gottesvolk für die Heilszeit zuzurüsten. Jesus sieht im Täufer den wiedergekommenen Elias. Der Täufer lehnt diese Gleichsetzung ab. „Ich bin es nicht.“ Das ist jedoch nur scheinbar ein Widerspruch. Jesus will ja bloß sagen, dass in dem Wirken des Täufers die Weissagung des Malachias ihre Erfüllung gefunden hat. Johannes verneint die Frage, ob er Elias sei, nur in dem Sinne der Fragesteller, ob er der in Person wiedergekehrte Elias sei. Jesus und das Urchristentum aber haben in ihm den wiedergekommenen Elias gesehen. Er ist in die Rolle und in die Funktion des Elias eingetreten. In diesem Sinne ist der Täufer Elias. Die Fragesteller bohren weiter in den Täufer. „Bist du der Prophet?“ Ist er der sagenumsponnene Prophet? Damit ist der für den Anbruch der Heilszeit erwartete Prophet gemeint. Die Frage setzt eine Zukunftserwartung voraus, die neben dem Messias und dem Elias noch eine dritte Größe, „den Propheten“, kennt. Diese dritte Gestalt stammt aus Deut 18,15, wo Moses verheißt: „Einen Propheten wie mich wird Jahwe, dein Gott, aus der Mitte deiner Volksgenossen erstehen lassen.“ Dazu wird im Ersten Buch der Makkabäer (Makk 14,41) berichtet, die Juden ihrer Zeit hätten beschlossen, der Makkabäer Simon solle ihr Fürst und Hohepriester sein, „bis ein glaubwürdiger Prophet erstünde“. Ist der Wüstenprediger vielleicht diese Gestalt? Der Täufer antwortet mit einem klaren Nein: „Ich bin es nicht.“ Er ist keine dieser drei Figuren.
Die Mitglieder der Jerusalemer Kommission werden ungeduldig. Sie bedeuten dem Täufer, man dürfe mit einer amtlichen Kommission, die im höchsten Auftrag handele, so nicht spielen. Er müsse mit dem Bekenntnis herausrücken; er solle endlich positiv sagen, was er zu seiner Rechtfertigung zu sagen habe. Ihre Auftraggeber wollen genaue Angaben. „Was sagst du von dir selbst?“ Der Täufer antwortet: „Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, wie der Prophet Isaias gesagt hat.“
„Die Abgesandten aber waren Pharisäer.“, daher nicht zufrieden mit der tiefen, wunderbaren Antwort des Täufers. Die Pharisäer, die einen großen Einfluss im Hohen Rate hatten, waren die geistigen Urheber der Kommission. Sie verfolgten ja argwöhnisch alle religiösen Strömungen und Bewegungen im Judentum, die nicht mit ihren Anschauungen übereinstimmten. Sie sahen einen Zusammenhang zwischen der von Johannes entfachten Taufbewegung und der messianischen Zeit. Johannes verkündete ja eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Er kann mit seiner Taufe nur die große Reinigung des Volkes vollziehen wollen, welche die Propheten für die Endzeit geweissagt haben. Die Juden glaubten, dass in der messianischen Zeit eine geistig-religiöse Erneuerung des Volkes durch eine Taufe erfolgen werde. Darum fragen nun die Abgesandten den Täufer: „Warum taufst du denn, wenn du nicht der Messias bist, und nicht Elias, und auch nicht der Prophet?“ Die Tauftätigkeit des Johannes beunruhigt die Kommission. Sie ist misstrauisch. Der Ausspruch des Täufers, der Rufer in der Wüste zu sein, ist in den Augen der Frager keine genügende Legitimation seiner Tauftätigkeit. Johannes gibt keine direkte Antwort, sondern umschreibt einfach den Charakter seiner Taufe. „Ich taufe mit Wasser.“ Da er nur mit Wasser tauft, unterscheidet sich seine Taufe wesentlich von der Taufe, die der Messias spenden wird (Geisttaufe V. 33), und ist also kein Übergriff in dessen Vorrechte und Befugnisse. Dazu braucht er keine andere Legitimation als die Betrauung mit der Aufgabe des Rufers in der Wüste. Aber der Täufer bittet um Abschluss der Debatte. „Eure Sorgen und eure Fragen lohnen nicht die Zeit, die ihr daran setzt. Warum geht ihr dem Wesentlichen aus dem Wege, dem Einzigen, dem Überragenden, das sich in diesen Stunden vollzieht?“ Dann holt er aus zum Bekenntnis des Messias. Die Zeit für die Erfüllung jenes Prophetenwortes ist nun gekommen, denn der Erwartete ist schon unter ihnen gegenwärtig. Sie kennen ihn nicht, aber er kennt ihn. Und nun beschreibt der Täufer sein Verhältnis zu ihm. „In eurer Mitte steht der Riese, der Göttliche, wie ein schneebedecktes Hochgebirge, und eure Blicke kriechen durch die Schatten der Täler. Erhebet eure Häupter zu den Firnen und sehet ihn! Ich bin ein paar Monate früher als er geboren, und doch ist er der Ältere, der vor mir Lebende, der ewige Seiende, an den niemand von uns heranreicht. Wir sind kleiner vor ihm als der ägyptische Sklave und die syrische Dienerin, die den persischen Fürsten die Sandalen knüpfen und lösen dürfen. Des geringsten Knechtsdienstes an ihm sind wir unwürdig; denn er ragt über allem Menschenantlitz. Seit er unter uns steht, ist jede andere Rede leer und widersinnig. Nur ein Gespräch hat Wort und Inhalt: die Ehrfurcht vor ihm.“ Damit ist die Begegnung zu Ende. Der Evangelist berichtete nichts über den Eindruck, den die Antwort des Täufers auf die Abgesandten und ihre Auftraggeber gemacht hat. Ihm kommt es einzig auf das Zeugnis des Johannes an. Die Zweifel des Täufers an der Messianität Jesu sind überwunden. Er tritt wieder in seine Funktion als Vorläufer ein. Er erfüllt die Verheißung, die der Engel Zacharias gemacht hatte: Er wird vor Gott in Geist und Kraft des Elias hergehen. Er wird die Herzen der Väter den Kindern zuwenden und die Ungehorsamen zur Einsicht der Gerechten bringen und so dem Herrn ein bereitetes Volk schaffen.
Amen.