Predigtreihe: Die heiligmachende Gnade (Teil 5)
21. August 1988
Die Folgewirkung der Rechtfertigung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Am vergangenen Sonntag haben wir die fünf formalen Wirkungen der heiligmachenden Gnade in der Seele betrachtet. Wie großzügig, wie freigebig ist unser Gott! Wenn er die heiligmachende Gnade gibt, dann heiligt er die Seele, dann gibt er ihr eine wunderbare Schönheit, dann macht er den Menschen zum Freunde, zu seinem Freunde, zum Kinde Gottes und Erben des Himmels. Ja, dann wohnt Gott wie in einem Tempel in der Seele des Gerechten. Das sind die fünf Wirkungen der heiligmachenden Gnade.
Aber damit ist es noch nicht genug. Es gibt noch ein Gefolge der heiligmachenden Gnade, also Folgewirkungen der eben genannten, und das sind
1. die theologischen Tugenden,
2. die sittlichen Tugenden,
3. die Gaben des Heiligen Geistes.
Was kommt noch in unsere Seele, wenn die heiligmachende Gnade einzieht? Nun, es kommen erstens die theologischen Tugenden. Theologisch (oder theologal, wie manche sagen), heißen diese Tugenden, weil sie sich auf Gott ausrichten. Mäßig sein, freundlich sein, gütig sein, das sind auch Tugenden, aber sie richten sich auf den Menschen. Dagegen glauben, hoffen, lieben, das richtet sich auf Gott. Deswegen nennt man diese Tugenden theologische, göttliche Tugenden, weil sie Gott unmittelbar zum Ziele haben. Wir glauben Gott und glauben an Gott, wir hoffen auf Gott und wir lieben Gott. Und diese theologischen Tugenden werden nach der Lehre des Konzils von Trient mit der heiligmachenden Gnade in unsere Seele gesenkt als Habitus, d.h. als Anlage, nicht als Akt, nicht als Handlung. Also es wird in uns gewissermaßen das Vermögen geschaffen, zu glauben, zu hoffen und zu lieben. Es wird in uns die Fähigkeit begründet, zu glauben, zu hoffen und zu lieben. Diese Möglichkeit, diese Fähigkeit, dieses Vermögen müssen natürlich noch in die Handlung übergeführt werden, und das ist – immer unter der Einwirkung der Gnade – Sache des Menschen. Aber daß diese drei göttlichen Tugenden in der Seele als Anlage begründet werden, das ist sehr bedeutsam, denn darum taufen wir ja die Kinder. Wir taufen die Kinder, weil sie eben schon die Anlage zu glauben, zu hoffen und zu lieben in sich tragen sollen, die sie dann, wenn der Verstand erwacht, entwickeln und entfalten müssen. Aber wenn sie die Anlage nicht haben, wie sollen sie dann leicht und sicher zum Glauben, zur Hoffnung und zur Liebe kommen? Wenn sie dagegen die Anlage besitzen, können sie eben diese Fähigkeiten entfalten und können zu den Handlungen kommen, die Glaube, Hoffnung und Liebe bedeuten.
Wenn die Kirche die Mitteilung dieser Anlagen lehrt, steht sie auf dem Boden der Heiligen Schrift. Die Heilige Schrift sagt im Römerbrief: „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unseren Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ward.“ Ausgegossen – wie eine Flüssigkeit, nicht wahr, an die denkt man unwillkürlich. Die Liebe Gottes ist ausgegossen. Sie ist durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ward, uns mitgeteilt. Und das bezieht die Kirche dann auch auf die beiden anderen Tugenden, Glaube und Hoffnung; denn diese drei gehören ja zusammen. „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe,“ sagt der Apostel Paulus im 13. Kapitel seines ersten Briefes an die Korinther. Glaube, Hoffnung und Liebe inhärieren der Seele, die in der heiligmachenden Gnade lebt, sie bleiben, sie haften an in der Seele, sie sind bleibende Zuständlichkeiten, bleibende Befindlichkeiten in der Seele.
Die heiligmachende Gnade und die drei göttlichen Tugenden gehören zusammen. Aber am innigsten verbunden mit der heiligmachenden Gnade ist die Liebe. Man hat die heiligmachende Gnade und die Liebe immer zusammen oder man hat beide nicht. Man kann nicht die Liebe haben ohne die heiligmachende Gnade. Anders ist es mit dem Glauben und mit der Hoffnung. Wenn die heiligmachende Gnade verlorengeht durch eine Todsünde, dann müssen nicht der Glaube und die Hoffnung verlorengehen. Sie sind also in gewissem Sinne unabhängig von der heiligmachenden Gnade, jedenfalls die ungeformten Tugenden des Glaubens und der Hoffnung. Sie sind insofern unabhängig von der heiligmachenden Gnade, als sie bestehen bleiben können, auch wenn die heiligmachende Gnade verlorengeht.
Der Glaube geht verloren durch den Unglauben, die Hoffnung geht verloren durch die Verzweiflung, aber nicht automatisch – das ist wiederum einer der Irrtümer des Mannes, der im 16. Jahrhundert auftrat –, sondern durch freie Entscheidung des Menschen. Aber nicht ist es so, daß mit der heiligmachenden Gnade immer der Glaube und die Hoffnung verlorengeht.
Das zweite Gefolge der heiligmachenden Gnade sind die sittlichen Tugenden. Das sind jene Tugenden, die wir im täglichen Leben bewähren müssen: Schweigsamkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Freundlichkeit, Wahrhaftigkeit, Keuschheit. Das sind die sittlichen Tugenden. Werden sie auch mit der heiligmachenden Gnade geschenkt? Ja, ihrer Anlage nach, also nicht der Handlung nach, nicht der tatsächlichen Ausübung nach, sondern nur dem Vermögen nach, der Fertigkeit nach. Das Konzil von Vienne aus dem Jahre 1311/12 hat diese Verbindung von heiligmachender Gnade und sittlichen Tugenden gelehrt. Auch dafür lassen sich Stützen in der Heiligen Schrift finden. So wird z.B. im Buche der Weisheit gesagt, daß die Kardinaltugenden, also die vier Haupttugenden, die vier Grundtugenden, eine Brautgabe der Weisheit sind. Die Weisheit ist nichts anderes als der Heilige Geist, und zwar die ungeschaffene Weisheit. Und im Buche Ezechiel sagt der Prophet, daß die Tugenden ein Ausfluß des neuen Herzens sind, und ein neues Herz bekommen wir wahrhaftig, wenn wir in der heiligmachenden Gnade leben.
Sehr schön ist diese Verbindung zwischen heiligmachender Gnade und sittlichen Tugenden im 2. Petrusbrief ausgesagt: „Wie seine göttliche Kraft uns alles, was zum Leben und zur Frömmigkeit gehört, durch die Erkenntnis dessen geschenkt hat, der uns durch seine Herrlichkeit und Tugend berufen hat; durch sie sind uns die kostbarsten und größten Verheißungen geschenkt worden, damit wir durch sie der göttlichen Natur teilhaftig würden. Nachdem ihr der in der Welt wirkenden verderbenbringenden Lust entflohen seid, so sollt ihr eben deshalb allen Eifer aufwenden und durch eueren Glauben die Tugend aufbringen, in der Tugend die Erkenntnis, in der Erkenntnis die Enthaltsamkeit, in der Enthaltsamkeit die Geduld, in der Geduld die Frömmigkeit, in der Frömmigkeit die Bruderliebe, in der Bruderliebe die Liebe.“ Diese zugegebenermaßen schwierige Stelle scheint darauf hinzudeuten, daß eine Verbindung zwischen heiligmachender Gnade und grundsätzlicher Fähigkeit, die sittlichen Tugenden zu üben, besteht. Also auch dafür ist die heiligmachende Gnade hilfreich, daß wir die sittlichen Tugenden entwickeln und entfalten.
Wie arm, wie arm ist ein Mensch ohne heiligmachende Gnade! Er kann nur natürliche Tugenden entwickeln, die ja nicht heilswirksam sind; es fehlt ihm die Kraft des Heiligen Geistes.
Die dritte Gefolgschaft der heiligmachenden Gnade sind die Gaben des Heiligen Geistes. O was ist es darum ein wunderbares Geheimnis, meine lieben Freunde! Die Gaben des Heiligen Geistes! Im 11. Kapitel im Buche des Isaias wird vom Messias ausgesagt, daß er Träger dieser Gaben ist. „Auf ihm ruht der Geist der Weisheit, der Wissenschaft, des Verstandes, des Rates, der Stärke, der Frömmigkeit und der Furcht des Herrn.“ Der Messias ist also ein Geistbegabter, ein Geistesträger, ein Geistesmächtiger. Und das wissen wir ja, wie er strahlend seine Bahn gezogen ist. Aber wie kommen wir vom Messias zu uns, den Messiaskindern? Nun, wir sind nach seinem Bilde geschaffen, wir werden ihm verähnlicht in der heiligmachenden Gnade, wir werden seine Brüder, wir werden Adoptivsöhne und Adoptivtöchter des himmlischen Vaters. Und ob dieser Verähnlichung werden wir auch der Fülle des Geistes teilhaftig. Auch bei uns zieht mit der heiligmachenden Gnade die Begleitschaft der sieben Gaben ein: Weisheit, Wissenschaft, Verstand, Rat, Stärke, Frömmigkeit, Furcht des Herrn.
Diese Gaben des Heiligen Geistes sind übernatürliche Anlagen der Seele, durch die die Seele in den Stand gesetzt wird, leicht und freudig auf die Anregungen des Heiligen Geistes einzugehen. Sie machen uns also wachsam, sehr lebendig, unzufrieden mit uns selbst, immer hingespannt zum Höheren, voll des Geistes, d.h. zugleich voll des Eifers. Das sind die Gaben des Heiligen Geistes. Vier gehen auf den Verstand: Weisheit, Wissenschaft, Verstand, Rat. Drei gehen auf den Willen: Stärke, Frömmigkeit, Furcht des Herrn. Also die ganze Seele, Verstand und Wille, wird von ihnen ergriffen, durchpulst, durchfeuert, durchglüht, auf daß wir wunderbare Taten, heroische Taten im geistlichen Leben vollbringen können. Das sind die Wirkungen der Gaben des Heiligen Geistes.
Vor einigen Jahren berichtete einmal ein Dorfpfarrer ein eigenartiges Erlebnis in einer Priesterzeitschrift. Er hatte in der Schule, im Religionsunterricht einen ganz ungebärdigen Jungen. Er mochte nicht beten, er mochte nicht lernen, er hatte kein Interesse an der Religion, er störte den Unterricht. Der Pfarrer nahm sich dieses Knaben an und forschte nach. Es stellte sich heraus, daß ihm bei der Geburt von der Hebamme die Nottaufe gespendet worden war. Der Pfarrer begnügte sich nicht damit. Er forschte weiter, und es kam heraus, daß die Hebamme an diesem Tage dem Alkohol sehr stark zugesprochen hatte. Der Pfarrer zog daraus den vermutlich richtigen Schluß: Der Junge ist nicht gültig getauft. Er sprach mit dem Knaben, er fragte ihn, ob er ihn jetzt bedingungsweise taufen könne. Der Knabe stimmte freudig zu und, ob wir's glauben oder nicht, der Pfarrer berichtet es: Nach der Taufe war der Junge ganz verwandelt. Er betete, er betete gern, er machte im Unterricht keine Schwierigkeiten mehr, er lernte, er nahm mit Eifer am Unterricht teil. Der Pfarrer sah darin zu Recht eine Wirkung des Taufsakramentes.
Hier hat man einmal die Macht der Gnade in der Wirklichkeit erfahren. Man kann die Gnade auch an anderen Wirkungen erkennen. Die Gnade ist nicht unwirksam, sie ist auch in der Erfahrung erkennbar. Aber so deutlich wie an diesem Beispiel ist ihre Wirksamkeit selten zu erkennen.
Das soll uns bewegen, meine lieben Freunde, die Gnade, die heiligmachende Gnade über alles hochzuschätzen. Nur nicht die Gnade verlieren! Gott verloren – alles verloren! Ohne Gott - alles Spott! Die Gnade mit aller Kraft festhalten! Was nützt mir aller irdische Gwinn, wenn ich die Gnade verliere? Nichts, nichts nützt er mir. „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele?“
Amen.