Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gnadenlehre (Teil 1)

29. Mai 1988

Die Zuwendung der Erlösungsgnaden

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Erlösung ist durch Jesus Christus, durch sein Opfer am Kreuze und durch sein heiliges Wirken auf Erden geschaffen worden. Wir nennen das Erlösungswerk, das Jesus vollbracht hat, die objektive Erlösung. Durch seine stellvertretende Genugtuung und durch sein Verdienst hat er gewissermaßen den Gnadenschatz geschaffen, der aber freilich dann noch ausgeteilt werden muß. Es gibt eine objektive und eine subjektive Erlösung. Die Menschen müssen Anteil an dem Erlösungswerk Jesu Christi gewinnen, und das nennen wir subjektive Erlösung.

Man kann es vergleichen mit einem Brunnenbau. In dem Brunnen sammelt sich das Wasser, strömt es von allen Seiten zusammen, aber damit sind die Felder noch nicht bewässert. Es muß erst das Wasser geschöpft werden, es muß in Kanäle geleitet und den Feldern zugeführt werden. Erst dann entfaltet es seine fruchtbringende Kraft. Oder man kann den Unterschied zwischen objektiver und subjektiver Erlösung auch vergleichen mit einem Testament. Wenn der Erblasser das Testament errichtet hat und gestorben ist, dann ist das Testament wirksam, die Nachlaßgüter liegen bereit. Aber es muß das Testament erst eröffnet werden, es muß vollzogen werden, und die Güter müssen denen, für die sie bestimmt sind, ausgefolgt werden.

So ist es also möglich, die objektive Erlösung den Menschen zuzuwenden, und das soll das Thema sein, meine lieben Freunde, das uns die nächsten Sonntage beschäftigen soll. Wir willen von der subjektiven Erlösung sprechen, die man auch Rechtfertigung oder Heiligung nennt.

Es trifft sich gut, daß wir die Eröffnung am Dreifaltigkeitssonntag machen, denn der dreifaltige Gott ist das Prinzip, der Urheber der subjektiven Erlösung. Alle Werke Gottes nach außen sind den drei göttlichen Personen gemeinsam, also auch die subjektive Erlösung. Aber da die Erlösung aus der Liebe hervorgeht und der Heilige Geist die personhafte Liebe von Vater und Sohn ist, deswegen schreibt man die subjektive Erlösung auch dem Heiligen Geiste zu.

Gott erlöst die Menschen aber nicht ohne deren Mitwirkung. Die Erlösung ist kein naturhafter Vorgang. Die Sonne geht auf, ohne daß der Mensch etwas dazutut, und der Regen fällt über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte. Nicht so die Erlösung. Hier ist der Mensch gefordert. Gemäß seiner Eigenart als vernünftiges und freies Wesen muß er an der subjektiven Erlösung mitwirken. Die Frucht der Erlösung, die in der subjektiven Erlösung angeeignet wird, nennt man die Gnade Christi, die von Christus uns verdiente Gnade. Und das ist der Zentralbegriff der subjektiven Erlösung – die Gnade. In der Heiligen Schrift wird das Wort Gnade in einem zweifachen Sinne gebraucht, einmal als huldvolle Herablassung, als die Gesinnung des Wohlwollens eines Höhergestellten gegen einen niedriger Gestellten. In diesem Sinne spricht man von gnädiger Gesinnung. Der eigentliche theologische Sprachgebrauch aber hält sich an die andere Bedeutung der Gnade, und da ist Gnade die von Gott dem Menschen mitgeteilte ungeschuldete Gabe, die Wohltat, die von Gott aus dessen gnädiger Gesinnung hervorgeht. Als Gnade im eigentlichen Sinne bezeichnet man jede übernatürliche Gabe, die Gott einem vernünftigen Geschöpf aus freiem Wohlwollen zu dessen ewigem Heile verleiht.

Die Gnade hat zum Urheber selbstverständlich Gott. Er ist die Hauptwirkursache der Gnade. Die Verdienstursache ist das Erlösungswerk Christi, die werkzeugliche Ursache sind die Sakramente. Der Zweck der Gnade ist die ewige Seligkeit in der Anschauung Gottes.

Es gibt nun eine ganze Reihe von Einteilungen der Gnade. Das ist keine gedankliche Spielerei, sondern diese Einteilung hat den Zweck, die verschiedenen Seiten der Gnade den Menschen vor Augen zu führen. Und so will ich einige dieser Einteilungen nennen.

Man spricht von einer ungeschaffenen und einer geschaffenen Gnade. Die ungeschaffene Gnade ist Gott selber. Gott, insofern er sich den Menschen mitteilt, insofern er in der Seele wohnt, insofern er unser Genuß und unsere Freude sein wird in der ewigen Vollendung. Das ist die ungeschaffene Gnade, Gott selber. Die geschaffene Gnade ist eine von Gott herbeigeführte Gabe, die von der ungeschaffenen Gnade wesentlich unterschieden ist. Nach dem Zeitpunkt der Gnadenmitteilung unterscheidet man die Gnade Gottes und die Gnade Christi. Die Engel und die Menschen im Paradies wurden von der Gnade Gottes beschenkt. Sie wurde ihnen allein aus der freien Liebe Gottes ohne Hinblick auf das Erlöserwirken Jesu Christi geschenkt. Die Menschheit war ja noch nicht gefallen. Nach dem Fall spricht man von der Gnade Christi, weil jetzt die Gnade den Menschen gegeben wird durch das Erlösungswirken Jesu Christi und für die gefallene Menschheit. Jetzt wird durch die Gnade der Mensch nicht nur erhoben wie im Paradies, sondern auch geheiligt.

Wir sprechen weiter von einer äußeren und einer inneren Gnade. Eine äußere Gnade bleibt dem Menschen, bleibt der Seele äußerlich und wirkt nur moralisch über den Willen auf den Menschen ein. Äußere Gnaden sind die Offenbarung, die Kirche und ihr Wirken. Das ist eine äußere Gnade. Auch die Sakramente sind eine äußere Gnade. Daß es Sakramente gibt, das ist eine äußere Gnade, eine Wohltat, die von außen kommt. Die innere Gnade dagegen betrifft die Seele selbst unmittelbar, sie wird dem Menschen innerlich zuteil und heiligt ihn innerlich. Unter den inneren Gnaden unterscheiden wir wiederum Mittlergnaden und Heiligungsgnaden. Die Mittlergnaden werden Menschen, einigen Menschen gegeben zum Heil für alle. Wenn z.B. jemand die Gabe der Weissagung hat, die Gabe der Heilung, die Gabe der Wunder, dann ist ihm diese Gabe nicht für sich selbst gegeben, sondern als Dienst für die anderen, deswegen spricht man von „Mittlergnaden“. Die Heiligungsgnade dagegen wird allen Menschen gegeben, und sie heiligt die Menschen innerlich, entweder formell als heiligmachende Gnade oder indem sie auf die Heiligung vorbereitet und die Heiligung bewahrt und erhält. Die Heiligungsgnade – und das ist nun die Unterscheidung, die uns aus der Kindheit, aus dem Katechismus vertraut ist – unterscheiden wir in die habituelle und in die aktuelle Gnade. Die habituelle Gnade ist das, was wir heiligmachende Gnade nennen. Sie macht den Menschen heilig, gerecht und angenehm vor Gott. Die heiligmachende Gnade heißt habituelle, weil sie im Menschen bleibt, weil sie eine Beschaffenheit des Menschen ist. Habitus ist eben eine menschliche Beschaffenheit. Davon unterschieden ist die aktuelle Gnade, die Beistandsgnade oder die helfende Gnade. Sie besteht aus einer vorübergehenden Einwirkung Gottes auf die Menschen, aus einer Anregung, ja aus einem Kraftimpuls, der von Gott ausgeht.

Das ist also sicher die wichtigste Unterscheidung, die wir uns merken müssen: Die heiligmachende Gnade, die dauernd im Menschen ist, die er freilich auch verlieren kann, und die helfende Gnade, die ihm hilft, wie der Name ja sagt, daß er die heiligmachende Gnade erwirbt, daß er sie bewahrt und daß er sie vermehrt.

Die Gnade, die wir die helfende Gnade nennen, kann einwirken auf den Verstand oder auf den Willen. Dann spricht man von Verstandesgnade oder Willensgnade. Sie erleuchtet den Verstand, sie stärkt den Willen. Die helfende Gnade kann der Einwohnung des Heiligen Geistes vorangehen oder sie begleiten. Man spricht dann von der vorausgehenden oder von der unterstützenden Gnade.

Und schließlich gibt es noch eine wichtige Unterscheidung, nämlich die hinreichende Gnade und die wirksame Gnade. Jeder Mensch empfängt genug Gnaden, hinreichende Gnaden, um sein Heil zu wirken. Keiner kann sich beklagen, keiner kann sich beschweren vor Gott, daß ihm nicht genug Gnaden zuteil geworden seien. Jeder bekommt hinreichende Gnaden. Aber nicht jede hinreichende Gnade ist wirksam. Nicht jede hinreichende Gnade ist in der Lage, sich gegen die Widerstände durchzusetzen, die vom Menschen kommen. Und nur da, wo die hinreichende Gnade sich auswirkt, wo sie angenommen wird, da kommt es zur wirksamen Gnade.

Das ist das geheimnisvolle Zusammenwirken von göttlicher Tätigkeit und menschlicher Freiheit. Alle Mißverständnisse, aber auch alle Irrlehren in der Gnadenlehre setzen hier an, aus einer falschen Bestimmung des Verhältnisses von göttlicher Einwirkung und menschlicher Freiheit.

Die Gnade, meine lieben Freunde, ist das, was wir zuoberst erstreben und was wir in unserem ganzen Leben ersehnen müssen, worin wir leben und worin wir sterben wollen. An der Gnade ist gewissermaßen alles gelegen, an der Freundschaft Gottes, die sich in der Einwohnung in unserer Seele zeigt, in unserem Handeln wirksam wird und uns geeignet macht, einmal in die selige Anschauung Gottes einzugehen. Von dieser Gnade hat der große Apostel Paulus an zahllosen Stellen seiner Briefe gekündet. Von dieser Gnade erzählen alle Kirchenväter und großen Theologen. Diese Gnade ist unser Glück und ist unser größter Schatz.

Von dieser Gnade künden unsere Gebete. Als Kinder haben wir das schöne Abendgebet der Luise Hensel, dieser Konvertitin des vorigen Jahrhunderts, gelernt: „Müde bin ich, geh' zur Ruh', schließe beide Äuglein zu. Vater, laß die Augen dein über meinem Bette sein!“ Und dann kommt der schöne Vers: „Hab' ich Unrecht heut' getan, sieh es, lieber Gott nicht an. Deine Gnad'- deine Gnad'! – und Jesu Blut macht ja allen Schaden gut.“

Amen.

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