28. April 2024
Der Neandertaler
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Jedermann hat schon vom Neandertaler (Homo sapiens neanderthalensis) gehört. Im Jahre 1856 fand man in der Kleinen Feldhofer Grotte im Neandertal bei Düsseldorf einen Schädel mit flacher Stirn und stark gewölbten Augenbrauenwulsten. Viele Gelehrte nahmen sich des Funds an. Der Pathologe Rudolf Virchow sah in ihm einen einfachen Fall eines krankhaften Homo sapiens. Andere wollten in ihm den Schädel eines (1813) hier begrabenen Kosaken sehen. Anhänger der Darwinischen Entwicklungslehre suchten den Neandertaler in ihre Abstammungslinie vom Affen zum Menschen einzureihen. Später wurden noch viele andere Fragmente dieser Art gefunden, Überreste von mehr als 60 Individuen. Sie wurden alle in Europa entdeckt. Die Zeit seiner Existenz währte von der letzten Zwischeneiszeit bis zur letzten, der Würmeiszeit, von ca. 120000 bis 50000 v. Chr., nach anderen Schätzungen zwischen 300000 und 40000 vor Christus. Lange Zeit wurde der Neandertaler verkannt und in den Lehrbüchern verzerrt menschlich und dadurch unheimlich und abstoßend dargestellt: stiernackig-brutal, mit krummen Beinen und eingeknickten Knien, wie ein Affe auf den Außenkanten seiner Füße dahertrottend. Dieses Bild entstammt einer Fehldeutung der ältesten Neandertaler-Skelettfunde und dem evolutionistischen Wunschdenken. Tatsächlich ging der Neandertaler ebenso aufrecht wie wir. Er besaß ein im Durchschnitt um 15% größeres Gehirn als wir Heutigen, obwohl er erheblich kleiner war. Der Neandertaler war ein Homo sapiens mit hohen geistigen Fähigkeiten. Es spricht einiges dafür, dass die Neandertaler ähnlich intelligent waren wie wir. Er hat es fertiggebracht, Jahrzehntausende einer Eiszeit zu überleben, weil er es verstand, sich deren harten Existenzbedingungen anzupassen. Der Neandertaler war ein auf seine Umwelt spezialisierter Altmensch (Paläanthropinen), eine Frühform des Homo sapiens (Homo sapiens neanderthalensis).
Die älteste kulturelle Regelung, die uns die Frühgeschichte des Menschen belegt, ist die des religiösen Glaubens. Schon der Neandertaler versuchte, eine Vorstellung über den Zustand nach dem Tode und von der Struktur des Weltalls zu gewinnen. Der Schädel des Menschen wurde von Anbeginn besonders eingeschätzt und behandelt, nämlich als Sitz des Geistes und übersinnlicher Kräfte. Den Beweis dafür entdeckte man in einer Höhle des Monte Circeo etwa 100 Kilometer südlich von Rom. Der um das Hinterhauptloch herum gewaltsam aufgebrochene Neanderschädel lag auf seinen Scheitelbeinen inmitten eines ovalen Steinkranzes, ohne die Halswirbel und den Unterkiefer. Man hatte ihn vom Rumpf des Toten absichtlich abgetrennt und zeremoniell beigesetzt, nachdem ihm das Gehirn zum Verzehr entnommen worden war. Es steht außer Frage, dass schon der Neandertaler versuchte, eine Vorstellung über den Zustand nach dem Tode zu gewinnen. Er fand sich mit der Vergänglichkeit seines Daseins nicht ab und dachte über Leben und Tod nach. Er ließ seine Toten nicht einfach liegen, sondern kümmerte sich liebevoll und ehrfürchtig um sie. Bei Le Moustier an der Dordogne (Nebenfluss der Garonne) fand man das Skelett eines wie schlafend auf der Seite liegenden Neandertalers. Die Beine waren eng an den Leib gezogen, der Kopf war auf einen Stein gebettet, die eine Hand daruntergeschoben. Greifbar nahe lagen um den Toten Grabbeilagen: Werkzeuge und Waffen aus Feuerstein und Quarz, daneben Tierknochen. Man hatte ihm für seine lange Reise in das Jenseits Wegzehr und Geräte mitgegeben, die er weiterhin benötigt. Das Mitgeben von Geräten, Waffen, Nahrung und sogar Schmuck hat nur dann einen Sinn, wenn man fest davon überzeugt ist, dass der Verstorbene irgendwo anders das gleiche Leben wie bisher weiterführt, ganz auf die gleiche Weise und mit den nämlichen Bedürfnissen. Der Tote ist eigentlich nur ein Schlafender. Der Gedanke an eine unsterbliche, nichtmaterielle Seele, die sich beim Tode des Körpers von diesem trennt, war zu dieser Zeit noch fremd.
Die Neandertaler waren auch die ersten bekannten opfernden Menschen. Im Drachenloch, einer Höhle in der Nähe von Sankt Gallen, entdeckte man eigenartige Steinkisten. Es handelte sich dabei um unverkennbar durch Menschen senkrecht aufgerichtete Kalksteinplatten, über die flache Deckplatten gelegt waren. In diesen Steinkisten lagen, sorgsam aufeinandergeschichtet, die mächtigen Schädel von Höhlenbären. Werkzeuge und Reste von Tieren weisen darauf hin, dass diese Schädelsetzungen das Werk von Neandertalern sein müssen. Dieser Fund und weitere ähnliche machen deutlich: Es handelt sich um Kultstätten des Neandertalers. In diesen Kisten hat er das Wertvollste an einem getöteten Bären, den Schädel mit dem Gehirn, in feierlichem Verzicht als Opfer niedergelegt. Noch heute gibt es entsprechende Beispiele eines solchen Brauchtums. Die Samojeden opfern die Schädel von Rentieren, die Tungusen Bärenschädel, die Zentraleskimos Rentier- wie Bärenschädel. Alledem liegt der gemeinsame Gedanke zugrunde: Durch die Jagd, das Töten von Tieren, wird dem Herrn und Schöpfer das Eigentum genommen. Man opfert deshalb diesem „Herrn der Tiere“ zu seiner Versöhnung das Wertvollste der erbeuteten Tiere.
Die Neandertaler sind ihrer selbst voll bewusst gewesen. Das Bewusstsein manifestiert sich in den Bestattungsriten. In Sima de los Huesos liegen zweiunddreißig Skelette sorgfältig übereinander gestapelt, und das seit etwa 300000 Jahren. Es gibt einen Urmonotheismus im Anfang, die Vorstellung von dem „Herrn der Tiere“, dem Schöpfer der Tiere und Menschen. Ihm wird das Opfer gebracht, denn der Mensch nimmt ihm seine Tiere. Der Gott muss durch das Opfer günstig gestimmt werden, damit er weiterhin die Tiere erschafft und damit dem Menschen die Jagd ermöglicht, von der er lebt.
Die Neandertaler lebten vor allem in der Tundra als Jäger und Sammler, wie sie heute etwa im nördlichen Lappland bestehen. Die offene, in jahreszeitlichem Wechsel von Tierherden (Mammut, Nashorn, Pferd, Ren, Bison) durchzogene Graslandschaft bot den Jägergruppen wesentlich bessere Möglichkeiten als der Laubwald der Warmzeiten. Die Menschen verlegten ihre Lagerplätze nach Wildaufkommen und Sammelmöglichkeiten in jahreszeitlichem Rhythmus. Behausungen im Freiland oder Einbauten in Höhlen, wahrscheinlich auch eine warme Fellbekleidung, waren die Voraussetzung für die Besiedlung der kühlen, aber wildreichen Lösssteppen der Eiszeiten. Der Kultkannibalismus, die Bestattungsrituale und vor allem die Opfer beweisen, dass der ehemals verkannte Neandertaler alles andere war als ein Primitiver. Er war ein Homo sapiens in voller Wortbedeutung, mit jenem Artmerkmal, das eben lediglich den Menschen kennzeichnet: dem Besitz der Religion.
Die Kultur der Neandertaler ist das Mittelpaläolithikum (Altsteinzeit). Ihre Zeit ist durch eine stärkere kulturelle Entfaltung gekennzeichnet. Sie nutzten das Feuer. Es gab unter ihnen Rechts- und Linkshänder. In ihrem Gehirn befand sich das für die Sprache wichtige Broca-Zentrum. Die verbesserte Umweltbeherrschung spiegelt sich in der Technik der Steinbearbeitung wider. Als Werkzeuge dienten ihnen vor allem Faustkeile und Abschlagwerkzeuge, daneben Schaber und Messer. In der Nähe guter Rohmaterialvorkommen entstanden regelrechte Werkstätten der Steinbearbeitung.
Wir Menschen der Neuzeit stammen nicht vom Neandertaler ab. Die Neandertaler sind nicht unsere Vorfahren, sondern eine parallele Gesellschaft. Die Neandertaler entwickelten sich in Europa, die modernen Menschen in Afrika. Etwa zehntausend Jahre müssen sie nebeneinander verbracht haben, bis die Neandertaler vor ca. 30000 Jahren verschwanden. Viele Anthropologen sehen im Neandertaler eine ausgestorbene Seitenlinie der Menschheit. Diese Annahme wird durch 1997 durchgeführte Analysen alter DNA aus einem Neandertalerknochen gestützt. Die Zahl der jeweils gleichzeitig lebenden Neandertaler wird auf nicht viel größer als einige Tausend geschätzt.
Die Neandertaler waren Menschen unserer Art (homo sapiens). Der Anthropologe Carleton Coon fragt in seiner „Geschichte der Menschheit“ (1939), wenn ein Neandertaler in Schlips und Kragen in die New Yorker U-Bahn einstiege, woran würde man ihn erkennen? Der Gelehrte antwortet: Gar nicht. Jedenfalls ist der Versuch, den Neandertaler in eine Stammreihe der Abstammung vom Affen zum Menschen einzureihen, lächerlich. Nichts Äffisches ist an ihm zu finden. Der amerikanische Anthropologe C. Loring Brace fasst die Lage folgendermaßen zusammen: „Wenn ein rasierter Neandertaler sich in der allgemein üblichen Kleidung unter die Menge der modernen Stadtbewohner mischen würde, die gerade einkaufen und in eine andere Metro umsteigen, würde er vielleicht durch sein etwas ungewöhnliches Aussehen den Blick auf sich ziehen – klein, stämmig, großer Mund – aber nicht mehr.“
Amen.