20. Februar 2022
Die Berufungen Jesu
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Von Christus sind Berufungen ausgegangen. Er hat zu seiner Nachfolge aufgerufen, denn das war der Zweck seines Kommens. Er hat sein Volk berufen, die Führer des Volkes, einzelne Menschen, Männer und Frauen. Wir wollen sehen, wozu er sie berufen hat und wie sie ihm folgten. Die Berufungen sind verschieden. Die Angehörigen seines Volkes hat er nur berufen, damit sie ihn erkennen, an ihn glauben, auf seine Gesinnungswelt eingehen. Er begnügt sich damit, dass sie von ihm und mit ihm das Reich Gottes erwarten, nicht ein politisches Reich, sondern ein Reich innerer Gesinnung, ein Reich der Herzensumwandlung, in dem sie Gott dienen, in dem Gott herrscht. Einzelne aus dem Volk hat Christus berufen zu einer näheren Nachfolge. Sie sollten mit ihm gehen und mit ihm leben, alles mit ihm teilen. Durch ihre innere Gesinnung, ihren Charakter und ihre Tätigkeit sollten sie etwas Besonderes bilden. Nur ganz wenige hat er zu einer allernächsten Gemeinschaft, einer innigen Freundschaft mit ihm, zu einer menschlichen Verschmolzenheit berufen. Manche Berufungen bleiben erfolglos, andere waren erfolgreich.
I. Die erfolglosen Berufungen
Erfolglos waren Jesu Berufungen beim jüdischen Volk im Ganzen. Wie immer und überall ist das Volk zu seiner Zeit gewesen: lebendig, beweglich, empfänglich, vor allem für Neues, Sensationelles, leicht begeistert, aber die Begeisterung flaut außerordentlich rasch wieder ab. Tritt etwas Neues in den Gesichtskreis des Volkes, so fesselt das Neue seinen Sinn. Was gerade kommt, begeistert oder erschreckt es. Es ist etwas Triebhaftes im Volk, wenig durchgearbeitet von den Kräften des Geistes, der Sittlichkeit. So ist es nicht zu verwundern, dass das Volk im Ganzen nicht dauerhaft für Christus gewonnen werden konnte. Es fehlt dem Volk an Sachlichkeit. Sie wollten Wunder haben, Schauwunder, Sensationswunder. Nicht die Sache Jesu an sich hat sie gefesselt, sondern das Neuartige, Aufsehenerregende, Unerhörte. Dann fehlt es dem Volk an Geistigkeit. Die Persönlichkeit Jesu und seine Lehre stellten hohe Anforderungen an die Masse der Menschen, setzten geistiges Interesse, geistige Neigungen und geistiges Verständnis voraus. Doch das Volk ist beschäftigt mit dem aufreibenden Kampf ums Dasein, mit der ständigen Mühe und Plage, mit der Sorge für das tägliche Brot. Was nicht unmittelbar Nutzen bringt, weckt nicht auf Dauer sein Interesse. Die Masse als Ganzes ist für Geistiges nicht dauerhaft zu haben. Es fehlte dem Volk auch an Opferwilligkeit. Als die Sache Jesu ernst und gefährlich wurde, fielen sie ab; auch die bis jetzt noch zu ihm gehalten hatten, zogen sich zurück. Sie wollten es mit den Mächtigen, mit den Herrschenden nicht verderben. Sie hatten doch Rücksicht zu nehmen, Rücksichten auch geschäftlicher Art: Sie waren abhängig von vielen Menschen, die sich nicht für Jesus erklärten; so fielen sie ab. Das lässt sich leicht begreifen. Jesus hat sich darüber nicht gewundert; er ließ das Volk gehen, als es gehen wollte. Auch die Opferscheu ist etwas, was jedem Menschen anhaftet. Die Masse und auch der Einzelne können sich nur schwer zu den Opfern aufschwingen, welche die Nachfolge Christi verlangt. Und sie verlangt Opfer, die prosaischen, alltäglichen, widerwärtigen Opfer. So ist es immer geblieben, so wird es immer sein. Es fehlt der großen Masse meist an Sachlichkeit. Darum muss sie geführt werden; sonst verläuft sie sich wie eine Herde, die hin und her schwankt, zwischen Begierde und Schreck. Auch die mangelnde Geistigkeit ist ein allgemeines Merkmal der Volksmassen. Das ist heute nicht anders als damals. Selbst einzelne Menschen, soweit sie einer solchen Masse anhangen, teilen diese Schwäche. Selbst im religiösen Leben gibt es eine Sensationslust. Man möchte das Wunder sehen, das Außerordentliche, das Seltsame, das Erlebnis, die Ekstase, den Rausch. Die trockene Arbeit des Alltags, das gleichmäßige Vorantrappen, das mühselige Sichhocharbeiten, das ist sehr schwer. Müdigkeit, Mutlosigkeit, Mattigkeit ist eingetreten.
Erfolglos berufen waren auch die Eliten, die Führer des Volkes, die Pharisäer, die Schriftgelehrten, die Hohenpriester. Auch sie sind Jesus nicht gefolgt. Warum nicht? Weil sie von anderem erfüllt waren. Sie waren die Herrschenden, die Tonangebenden. Das Volk richtete sich nach ihnen; sie hatten die Massen vollkommen in ihrer Hand. Das hätten sie aufgeben müssen; dann wäre Jesus der Führer des Volkes geworden. Sie hätten zu seinen Füßen sitzen müssen, ihn anhören, seine Grundsätze annehmen müssen; sie hätten ihre gewohnte Denkweise aufgeben müssen. Ihre Schulstreitigkeiten der verschiedenen Gesetzesauslegung wären illusorisch geworden; kein Mensch hätte sich noch um ihren Buchstabendienst gekümmert. So wären sie geistig brotlos geworden, abgesetzt von ihrer Herrschaft im geistigen Sinne. Deshalb mussten sie Gründe haben, Jesus abzulehnen. Da zeigte es sich, dass ein Menschenherz, das schon von etwas voll ist, nichts Neues aufnehmen kann, auch nicht das Beste. Wenn ein Mensch von Leidenschaften beherrscht ist, ist es unmöglich, ihm etwas beizubringen, solange er nicht Platz schafft.
Als Beispiel von Einzelnen, die erfolglos berufen wurden, steht im Evangelium der reiche Jüngling. Er zeichnete sich durch viele gute Eigenschaften aus. Er war ein vorzüglicher junger Mann. Er hatte wirklich die Gebote Gottes gehalten. Er war beseelt von einem hohen Idealismus, war ohne Zweifel sachlich und geistig interessiert. Er war wie geschaffen für die Nachfolge Jesu. Und trotzdem konnte er nicht folgen und folgte nicht. Es war ein Hindernis in ihm. Er war ein reicher Mann. Vermutlich hatte er eine Villa, ein schönes Heim, er war gebildet, hatte viel gelesen, war ein kultiviertes Leben gewöhnt. So war er, und das liebte er. Nun ist das keine Sünde. Gott hat nirgends verboten, feinere Kultur des Lebens zu pflegen. Aber der junge Herr liebte diesen Lebensstil. Auch das ist noch nicht schlecht. Aber es hat seiner Seele den großen, heroischen Schwung genommen. Er war kein mutiger Mensch, und große Wagnisse waren ihm fremd. Er war mit seiner hohen Kultur einigermaßen verweichlicht. Das weiß Jesus; darum sagt er zu ihm: „Wenn du vollkommen sein willst, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen. So wirst du einen Schatz im Himmel haben. Dann komm und folge mir nach.“ Das war zu viel für den jungen Mann. So mit einem Mal alles hinzugeben, sich in ein solches Risiko zu stürzen, ins Leere zu fallen. Dazu war er nicht fähig. Es war diese Schwäche, die ihn hinderte. Alles auf einmal hingeben, das konnte er nicht. Es fehlte ihm das, was zu einem heldenhaften Menschen gehört. Das hat ihn gehindert, auf seine Höhe zu kommen und seine Berufung zu erreichen. Jesus wurde traurig, als er das sah: diese Tragik, diese Unmöglichkeit, dieses Steckenbleiben in den Anfängen, diesen Torso eines Lebens.
II. Die erfolgreichen Berufungen
Unter den Menschen, die Jesus nachfolgten, sind zwei Typen deutlich zu unterscheiden, zwei Arten von Menschen und zwei Arten von Nachfolge. Eine Gruppe von Menschen folgt Jesus einfachhin nach, weil er sie ruft, weil er sagt: „Folge mir!“ Das tun sie mit der Selbstverständlichkeit ihrer unbefangenen, reinen Seele. Wo ihnen das Große begegnet, nehmen sie es, erkennen es, würdigen es; es sind empfängliche, bereitwillige Naturen. Gott braucht sie nur an der Hand zu nehmen, und sie gehen mit, ohne sich zu sträuben. Wir sehen es an den ersten Jüngern, deren Berufungen Johannes erzählt. Eines Tages stand der Täufer Johannes mit seinen Jüngern am Jordan, und Jesus ging vorüber. Der Täufer sah ihn und sprach: „Seht, das Lamm Gottes!“ Da gingen Jesus zwei Jünger nach, ganz schüchtern. Jesus hörte ihr Geflüster und fragte lächelnd: „Was sucht ihr?“ Sie waren etwas verlegen und fragten: „Meister, wo wohnst du?“ Immerhin schon etwas, das zu wissen. Jesus sagt: „Kommt und seht!“ Und sie gingen mit und waren den ganzen Tag bei ihm. Das war der entscheidende Tag ihres Lebens. Der eine von ihnen war Johannes, der Evangelist. Als er nach Jahrzehnten diese Erinnerung niederschrieb, bemerkte er: „Es war die zehnte Stunde.“ Eine unvergessliche Stunde, wohl die größte Stunde seines Lebens. Das ist das Entscheidende: Sie brauchten Jesus nur kennenzulernen, dann waren sie schon gewonnen. Kein Wunder, keine Weissagung war nötig. Ihre Seele war so empfänglich, so bereitwillig, so hingegeben. Wo einer großmütigen Seele das Große begegnet, da nimmt sie es an. Am nächsten Tag traf Jesus den Philippus. Das war eine einfache, kindlich fromme Seele, voller Bereitwilligkeit, gutmütig. Jesus sieht ihn und sagt: „Komm mit!“ Da ging er mit. Mehr braucht es nicht; es leuchtet ihm sofort ein, wer ihn beruft. Nathanael, sein Freund, war anderer Art. Ein kritischer Geist, vorsichtig misstrauisch und spöttisch; vielleicht hatte er etwas Überlegenes in seinem Wesen. „Du“, sagt Philippus zu ihm, „wir haben den gefunden, der in den Büchern der Heiligen Schrift als Messias verheißen ist.“ Nathanael entgegnet: „Das ist schön, das freut mich. Woher ist er denn?“ „Aus Nazareth.“ „Ach so, aus Nazareth. Da kann doch nichts Gutes herkommen.“ „Nun komm halt mit, sieh selbst.“ Philippus weiß, das ist die beste Art der Widerlegung. Nathanael kam. Jesus sah ihn kommen und sagte: „Seht, ein wahrer Israelit, am dem kein Falsch ist.“ Vermutlich hat ihn Jesus zum ersten Mal gesehen. Nathanael ist erstaunt. „Woher kennst du mich?“ Das Lob kommt ihm verdächtig vor. Kritisch und misstrauisch lässt er sich nicht so leicht einfangen. Da sagt Jesus sehr ernst: „Ich habe dich unter dem Feigenbaum gesehen, noch ehe dich Philippus rief.“ Da ist Nathanael verblüfft, hingerissen und gewonnen. Er war überzeugt, dass Gott allein dieses Erlebnis unter dem Feigenbaum kannte, und nun weiß es Jesus. Da bricht es aus ihm heraus: „Wahrhaftig, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel!“ Wir sehen an diesen Berufungen, dass diese Jünger außerordentlich aufrichtige, ehrliche Menschen waren. Es kam ihnen auf die Sache an: auf den Messias. Was der Anschluss an ihn an Konsequenzen für ihr Leben hat, das wird sich von selbst ergeben. Sie waren auch demütig, bereit, das Große anzuerkennen. Was groß ist, das soll man auch groß nennen und anerkennen, sich ihm beugen und unterwerfen. Solcher Art sind die Menschen, die in der Gefolgschaft Jesu gute Jünger und Jüngerinnen werden, treue Arbeiter und Helfer, brauchbare Werkzeuge, mit denen das Reich Gottes aufgebaut wird, Bausteine der Kirche.
Es gibt noch eine andere Gruppe von Menschen, die in abweichender Weise dem Herrn folgen: die beiden Zöllner, der Schächer am Kreuz und Maria Magdalena. Die beiden Zöllner: Levi war ein Zöllner und saß in seinem Zollhäuschen an der Straße, und alle Karawanen und Handelszüge, die vorüberkamen, mussten ihren Zoll entrichten. Er hatte den Zoll gepachtet, musste dafür eine beträchtliche Summe an die Behörde abführen und sehen, wie er das Geld wieder hereinbekam. Das war seine Sache. Die Zöllner waren als Sünder verschrien, weil sie mit der Behörde, mit der Obrigkeit in Verbindung standen und die Handelsleute bedrückten. Sie waren verdächtig und verachtet. Levi war einer von ihnen und hat wohl viel unter dem Verdacht und der Verachtung gelitten. Aber was wollte er machen? Er hatte diesen Beruf, konnte nichts anderes finden, wurde von den Volksgenossen boykottiert. In seinem Herzen aber lebte eine Sehnsucht nach Geistigem, Göttlichem, nach dem Reiche Gottes, dessen er sich doch vollkommen unwürdig fühlte. Er war so einer wie der Zöllner, von dem Jesus im Gleichnis sprach, der hinten im Tempel stand, sich kaum seine Augen zu erheben traute, vielmehr tief gebeugt stand und sagte: „Herr, sei mir armen Sünder gnädig.“ So saß Levi in seinem Häuschen und schaute hinaus. Da ging Jesus mit den Jüngern vorüber. Levi hat vielleicht brennend gewünscht, mit ihm reden zu dürfen, aber er war ein Zöllner, das durfte er nicht, er musste in der Ferne bleiben. Sehnsüchtig schaute er hinaus, und siehe, als Jesus vor dem Häuschen angekommen war, sagte er: „Komm du auch mit!“ Da sprang Levi auf, ließ alles zurück, seinen Zoll, seine Rechnungen, sein Geschäft, seine Wohnung. Das war der Tag, den er ersehnt, aber nie für möglich gehalten hatte.
Ähnlich ging es dem Zachäus in Jericho. Auch er ein Gedrückter, ein Verachteter. Trotzdem trug er in seiner Seele eine Hoffnung, eine Sehnsucht außerordentlicher Art. Da kam Jesus in die Gegend von Jericho, und Zachäus hörte es. Es erwachte in ihm der glühende Wunsch, Jesus zu sehen. Er hielt sich nicht für würdig, mit Jesus zu reden, aber sehen wollte er ihn. Aber da war eine Schwierigkeit. Zachäus war körperlich klein; er fürchtete, man werde ihn nirgends vorlassen, man werde ihn zurückstoßen. Was soll er tun? Nun war da ein Sykomorenbaum, den Zachäus gut kennt, den man mit etlicher Mühe ersteigen kann. Das versucht er zum großen Missvergnügen der Gassenjungen. Jetzt kommt auch noch der Zachäus herauf. Vermutlich hat er allerhand üble Bemerkungen einstecken müssen; es war ziemlich blamabel für den erwachsenen Mann, in seiner Stellung, hinaufzuklettern. Aber er tat es, um Jesus zu sehen. Jesus kommt inmitten einer Volksschar. Und siehe, gerade unter dem Baum bleibt er stehen. Dem Zachäus droht das Herz zu stocken. Gerade da muss Jesus hinaufschauen und sieht den Zachäus. Was wird er tun? Zachäus sieht die Augen der Menge auf sich gerichtet. Wird Jesus sagen: „Du alter Wucherer, du ungerechter Zöllner! Du gehörst nicht zum Reiche Gottes! Geh weg, du gehörst nicht zu den Söhnen des Hauses Israel!“ Wird Jesus das sagen? Zachäus traut seinen Ohren nicht, als Jesus sagt: „Zachäus, steig schnell herab, denn heute muss ich in deinem Hause weilen.“ Was er nie für möglich gehalten hätte, dass Jesus ihn sieht, dass er ihn kennt, dass er ihn anredet, dass er sich sogar in sein Haus einlädt. Dieses Wunder ist geschehen. Levi und Zachäus, die beiden Zöllner. Ihre Ausgestoßenheit im Volke war das große Leid ihres Lebens. Daher ihr Durst nach Teilnahme am Reiche Gottes, ihre Demut, ihre Anspruchslosigkeit, in der sie sich selbst für unwürdig hielten, obwohl sie ein so großes Verlangen trugen. Sie waren sich gewiss, dass ihre Sehnsucht für immer ungestillt bleiben müsse, und darunter litten sie schwer. Aber gerade dieses Leiden hat sie bereit gemacht, hat sie empfänglich gemacht, hat in ihnen die Sehnsucht erzeugt, die sie Jesus entgegentrieb. Sie hätten das Unmögliche getan, um ihn nur zu sehen und gar ihm folgen zu dürfen.
Unter den Berufenen, die gesegnet wurden, war auch jener Schächer am Kreuz. Ein armer Mensch, ein Verbrecher. Man kann ahnen, wie sein Leben verlaufen war. Weiß Gott, woher er stammte, aus welcher Verbrecherfamilie. Vielleicht kannte er seinen Vater nie, vielleicht war seine Mutter eine schlechte Frau. So gab es in seiner Jugend nichts, was ihn hätte freuen können, nichts zu essen, keine Liebe, keine Zärtlichkeit, herumgestoßen und getreten von allen, darum gewitzigt und mit allen Wassern gewaschen, tüchtig, die Leute zu betrügen, ein rechter Verbrecherjunge. So ging es dann weiter in späteren Jahren. Die Verbrechen wurden größer, er kam in schlechte Gesellschaft. So fiel er schließlich herein, wurde verhaftet, zum Tode verurteilt. Er hatte von Anfang an nichts vom Leben gehabt, keine Freude, keine Liebe, keine Heimat, keine Achtung. Dennoch war in dieser Seele etwas geblieben. Etwas Göttliches. Ein Gerechtigkeitssinn. Er selbst empfand sein Schicksal als gerecht, wie er zu dem anderen Schächer sagt: „Hast du denn keine Furcht vor Gott, obwohl du doch die gleiche Strafe erleidest? Wir freilich mit Recht, denn wir empfangen die gerechte Strafe für unsere Taten. Dieser aber hat nichts Böses getan.“ Der Gerechtigkeitssinn lässt ihn sein Schicksal als etwas Gebührendes hinnehmen; er lässt ihn sogar das Unrecht erkennen und verabscheuen, das einem anderen geschieht. Der Mitgekreuzigte ist so still. Der Schächer ist ein Erfahrener, ein Menschenkenner. Er sieht auf den ersten Blick: Der Mann in der Mitte ist nicht wie ich und der andere; er ist unschuldig und wird unschuldig gehasst und verfolgt. Das empört ihn, das erfüllt ihn mit Zuneigung, mit Liebe zu diesem Unschuldigen. Wir sehen aus diesem Gerechtigkeitssinn, der in ihm geblieben ist, dass trotz allem Schlimmen ein Idealismus in ihm wohnt. Das wäre nicht möglich, wenn nicht in seiner Seele all die Jahre hindurch ein Verlangen nach Licht, Freiheit und Liebe geblieben wäre. Vielleicht hat er versucht, aus seinem schlechten Leben herauszukommen, und hat es nicht geschafft. Sein Leben lang hat er sich die Hände blutig gerissen an den Kerkermauern, die ihn einschlossen, aber er ist nicht herausgekommen. Was mag er gelitten haben unter all diesen Zuständen, unter dieser Gedrücktheit und Armseligkeit! Und dabei hatte er dieses große Ideal von Gerechtigkeit, von Freiheit und Liebe in seiner Seele. Es gibt wohl zuweilen diese Menschen, welche die Gesellschaft als Verbrecher brandmarkt; dürstende Seelen, denen niemand es ansieht, dass in ihnen eine heimliche Güte wacht, die nicht erfüllt wird. Nun kann er es nicht mehr ansehen, nicht mehr hören, dass der Mitschächer den gekreuzigten Heiland lästert. Schließlich wagt er es, sich an Jesus zu wenden: „Herr, gedenke meiner, wenn du in deine Königsherrlichkeit kommst.“ Nur ein Gedenken will er, nicht mehr; auch nicht, dass er aufgenommen wird in dieses Reich. Gedenke meiner, sagt er. Ich komme in die Hölle, das ist klar; aber wenn ich unter den Verdammten bin, soll wenigstens ein guter Mensch meiner gedenken. Auch das ist etwas Großes, was er verlangt: dass man im Himmel seiner gedenkt. Aber er weiß nicht, ob es groß oder klein ist; er hat nur den einen Wunsch, dass ein Herz ihm einmal gut ist. Da wird ihm das Reich Gottes zuteil. „Heute noch wirst du bei mir im Paradiese sein.“ Wir sehen bei diesem Mann: Da ist das große Leid seines Lebens, der furchtbare Schmutz der Verwahrlosung, die Verachtung, das Ausgestoßensein. Aber alles, was er durchgemacht hat, hat nicht das Göttliche in seinem Herzen bis zum letzten auslöschen können. Das ist der Funke der Liebe zur Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit, ein Rest von Idealismus. So hat er gleichsam nach der Hand Jesu gegriffen wie ein Versinkender, hat sich mit der ganzen Leidenschaft seiner gedrückten, misshandelten Seele zu Jesus geschlagen und ist gerettet worden.
Dann war da ein Mädchen, eine junge Frau, Maria Magdalena. Sie hatte in ihrer Seele ein großes, leidenschaftliches Verlangen von Jugend auf. Sie war sinnierend veranlagt, hatte nicht viel Sinn für äußere Dinge, aber war erfüllt vom Gefühl eines großen Ungenügens. Alles, was sie umgab, konnte ihre Seele nicht sättigen. Sie wartete auf etwas ganz Großes, wofür es der Mühe wert wäre, zu leben, auf ein Wunder. Maria von Magdala war eine schwer geprüfte Frau. Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas berichten, dass der Herr aus ihr sieben Geister (Dämonen) ausgetrieben hatte. Es ist völlig verkehrt, Maria Magdalena mit der bei Lk 7,36ff. eingeführten öffentlichen Sünderin gleichzusetzen. Die beiden Frauen hatten nichts miteinander zu tun. Ebenso falsch ist es, Maria Magdalena mit Maria von Bethanien (Lk 10,39) zu identifizieren. Als Maria Magdalena dem Herrn begegnet, erkennt sie, dass er das ist, was sie sucht. Seitdem gehört sie ihm mit ganzer Kraft und Glut ihrer Seele. Sie diente ihm und war ihm restlos ergeben, mit jeder Faser ihres Herzens, zu jedem Opfer bereit. So ist sie die große Frau der Urkirche geworden. Die beiden Zöllner, der Schächer und Maria Magdalena, sie sind Menschen, die aus einem großen Leid aufsteigen. Mit der ganzen Kraft ihrer gedrückten Sehnsucht, ihrer aufgestauten Liebe stürzen sie zu Jesus hin. Es sind die Menschen, die zum Größten fähig und bereit sind, die Helden, die großen Opfernden, die sich verbluten für Jesus und mit Freuden alles für ihn hingeben; die sich nicht genug tun können, die immer und auf jeden Fall verdursten: zuerst verdursten sie, weil sie Jesus, ihr Ideal, nicht haben; und dann verdursten sie, weil sie ihrer Liebe nicht genug tun können, sie, die großen Leidenden und Leidtragenden. Aber Jesus sagt: Selig sind sie, denn sie werden gesättigt werden. Amen.