Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
21. März 2010

Selbsterlösungsversuche durch falschen Fortschrittsglauben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Menschen haben eine Sehnsucht nach Erlösung. Sie möchten befreit werden von den Übeln und Trübsalen dieser Welt, von Krankheit und Tod, von Leiden und Schmerzen, von Arbeitslosigkeit und Aids, von der Plackerei und dem Streit. Es ist unbestreitbar: Es gibt eine Erlösungssehnsucht unter den Menschen. Sie verlangen nach Befreiung, nach Erleichterung, nach Entlastung.

Das Christentum ist die Religion der Erlösung. Es bringt eine Befreiung, eine Entlastung, allerdings anderer Art, als die meisten Menschen sie ersehnen. Das Christentum bringt die Erlösung in der Tiefe der Seele, in der Mitte des Herzens, nämlich die Erlösung von der Last der Schuld, von der Schuld, die Schiller beschreibt als der Übel größtes: „Der Übel größtes ist die Schuld.“ Wir werden erlöst durch unseren Heiland Jesus Christus, durch sein Blut, wie wir eben gehört haben im Brief an die Hebräer. Durch sein Blut haben wir die Erlösung. Er hat sich als Lösegeld hingegeben für uns. Durch seinen Tod sind wir mit Gott versöhnt. Das Blut Christi macht uns von allen Sünden rein.

Doch an dieser Erlösung sind viele nicht interessiert. Sie wollen die Erlösung von den irdischen Übeln, und die Schuld sehen sie als solches nicht an. Sie wollen die Erlösung aus eigener Kraft, sie wollen die Selbsterlösung. Das Schlüsselwort der Selbsterlösung heißt Fortschritt. Es gibt einen regelrechten Fortschrittsglauben, der den Glauben an Gott, der den religiösen Glauben ersetzt. Der Fortschritt soll die Menschen befreien von aller Schwäche, allem Elend und aller Not. Was ist Fortschritt? Nun, Fortschritt ist die mit der Weiterentwicklung eintretende Veränderung eines Zustandes, die vorwiegend durch menschliche Aktivität bewirkt wird und deren zeitlich spätere Erscheinungsformen einen höheren Grad der Vollkommenheit aufweisen. Als Fortschritt bezeichnet man seit dem 18. Jahrhundert vor allem die fortschreitenden wissenschaftlichen, technischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Errungenschaften, also den gerichteten zivilisatorischen Wandel. Den bezeichnet man als Fortschritt.

Der Fortschritt stützt sich in besonderer Weise auf die Naturwissenschaften. Die Natur wird nicht mehr als Schöpfung Gottes gesehen, die wir bewahren müssen, sondern als eine dem Menschen unterworfene Wirklichkeit, die der Mensch benutzt und verändert, um die menschlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Der Fortschrittsglaube wurde recht eigentlich erzeugt von dem Vorgang, den wir in der Geistesgeschichte Aufklärung nennen. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat den Fortschrittsglauben erzeugt. Er besteht in den folgenden Elementen: Der menschliche Verstand, die menschliche Vernunft überwindet immer stärker die Kräfte der Barbarei, den Aberglauben und die Gewalt. Die Vernunft wird schließlich zu einer vernunftgemäßen Ordnung der Verhältnisse führen. Die Geschichte der Menschheit, so sagt der Fortschrittsglaube, sei ein eindeutiger Fortschritt mit einem erreichbaren irdischen Ziel. Der Mensch werde immer mehr aufgeklärt, die Vernunft werde befreit, der sittliche Charakter des Menschen werde verbessert. Auch der Staat strebt eine immer höhere Daseinsform an; eine vollkommene Staatsverfassung wird in Aussicht gestellt.

Im industriellen Zeitalter, also im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert nahm der Fortschrittsglaube eine andere Färbung an. Nicht mehr die sittliche Höherentwicklung des Menschen, sondern fast ausschließlich der Fortschritt in Wissenschaft und Technik und die damit einhergehende Beherrschung der Natur werden zum zentralen Thema des Fortschrittsglaubens. Vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt verspricht man sich eine zunehmende Humanisierung, also Vermenschlichung, Versittlichung der Gesellschaft. Die von Darwin erfundene Evolutionstheorie schien diese Ansicht zu stützen. Er behauptet ja, es gäbe eine Auslese im Kampf ums Dasein, und das Geeignetste und am besten Angepaßte hat die größte Aussicht zu überleben, und das gelte auch im Bereich des Menschen.

Der Fortschrittsglaube teilt sich in zwei Stränge. Der eine ist der soziale Strang. Wir kennen ihn alle unter dem Namen des Sozialismus und des Kommunismus. Hier soll die Selbsterlösung des Menschen bewirkt werden durch die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Die Produktionsmittel, also Maschinen, Fabriken, sollen in das Eigentum der Gesellschaft übergeführt werden, die Rohstoffe sollen allen gehören, der Allgemeinheit, dem Volke, wie man sagt. Alle sollen gleich sein, keiner soll über den anderen herrschen. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen soll beendet werden. Alle Mängel, so sagt der Sozialismus und der Kommunismus, werden dann beseitigt sein, alle Menschen werden über das Lebensnotwendige verfügen, und so hat der Sozialismus das Prinzip ausgestellt: Jeder nach seiner Leistung, und der Kommunismus: Jedem nach seinen Bedürfnissen.

Es ist richtig, alle Menschen zur Teilhabe an den Gütern der Erde zu führen. Das ist richtig. Es ist notwendig, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Aber es ist ein Irrtum zu meinen, der Besitz von Nahrung, Kleidung, Wohnung und Arbeit verändere die Seele des Menschen, er bringe automatisch den besseren Menschen hervor. Wenn alle satt sind, sind sie noch lange nicht sittlich gut. Leidenschaften und Trieb sind unausrottbar. Die Neigung zum Bösen läßt sich durch Geld und Besitz nicht beseitigen. Der Mensch, der wenig hat, hat seine spezifische Gefährdung: Er will mehr haben. Aber auch der Mensch, der alles hat, ist gefährdet: Er will noch mehr haben. Der Hungrige hat gewiß seine Anfechtungen: Neid, Mißgunst. Aber auch der Satte ist von Betörung nicht frei: Genußsucht, Luxus, Übermut. Die Armut hat ihre Gefahren, aber der Reichtum hat sie ebenso. Es ist nicht wahr, dass die Aufteilung der Erdengüter und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel eine Gesellschaft der Gleichen hervorbringt. Auch im Staat des Sozialismus oder des Kommunismus gibt es Klassen, die Klassen der Herrschenden und der Beherrschten. Ein ehemaliger Kommunist in Jugoslawien, Djilas, hat ein aufschlußreiches Buch geschrieben: „Die neue Klasse.“ Darin geißelt er die Unterschiede, die im Sozialismus genauso wie früher unter dem Kapitalismus zwischen Herrschenden und Beherrschten gemacht werden. Ich habe das Buch gelesen. Es ist der Lektüre wert.

Der Kommunismus führt sogar zur Versklavung der Menschen und zur Zersetzung der Familien. Da könnte mir jemand sagen: Ja, warum sprechen Sie vom Kommunismus? Ist der Kommunismus nicht erledigt? Der Schein trügt. Die Vorstellungen, meine lieben Freunde, und die Illusionen, die der Kommunismus weckt, sind nach wie vor in vielen Köpfen lebendig. Viele träumen von einem Leben der Rundumversorgung bei Freistellung von jeder Verantwortung. Das ist Sozialismus, das ist Kommunismus.

Ein anderer Versuch der Selbsterlösung geht von der Naturwissenschaft aus. Durch Erkenntnis der blinden Mächte in der Natur und durch immer fortschreitende Beherrschung der technischen Mittel soll das Kraftgefühl und der Mut des Menschen gestärkt werden. Niemand leugnet, dass die Naturwissenschaften uns einen hervorragenden Fortschritt beschert haben. Wissenschaft und Technik waren dafür verantwortlich, dass die menschlichen Lebensbedingungen sich verbessert haben. Frühere utopische Träume wurden wahr. Wir erheben uns in die Lüfte, wir haben Raumfahrzeuge, wir besitzen Computer, Infektionskrankheiten wurden überwunden, die Säuglingssterblichkeit wurde eingedämmt, harte körperliche Arbeit im Beruf und im Haushalt wurde verringert, soziale Sicherheit und Wohlfahrt wurde vermehrt, einer breiteren Bevölkerungsschicht wurde die Teilnahme an den kulturellen Gütern ermöglicht. Der wirtschaftliche Fortschritt ist offensichtlich. Aber er ist begleitet mit ebenso erschreckenden negativen Phänomenen. Kriege, totalitäre Herrschaft, Gewalt, Vandalismus, Massentötung, Vertreibung, das sind die Begleitumstände der Zeit, in der Naturwissenschaft und Technik zur Herrschaft gekommen sind. All das konnte durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt nicht verhindert werden, wohl aber verschlimmert werden. Jawohl, wir sind fortgeschritten von der Steinschleuder zur Megabombe, vom Töten mit der Axt zum Hinrichten mit Gas. Die Doppelseitigkeit des Fortschritts ist erkannt. Die Erdölkrise der 70er Jahre hat die Grenzen des Wachstums und der Energiereserven allen sichtbar gemacht. Die Wirtschafts- und Finanzkrise in unserer Zeit hat viele aufgeschreckt. Sie ist noch lange nicht überstanden. Ökokrise, atomare Bedrohung, das Problem der Endlagerung radioaktiven Materials, die Risiken der Gentechnologie haben den Fortschrittsoptimismus gedämpft. Die tieferen, ernsteren Gemüter erkennen, dass all diese Fortschritte, alle diese Errungenschaften nicht die Erlösung von den Übeln bringen. Wenn der Mensch alles besitzt und alles erreicht hat, was er sich nur wünschen kann, ist seine Seele immer noch leer.

Die Fortschrittsgläubigen machen einen Rechenfehler. Sie rechnen nicht mit der Wirklichkeit Gottes und der Sünde. Der Mensch besitzt wegen seiner Herkunft von Gott eine Verwiesenheit auf Gott, eine Verwiesenheit, meine Freunde, die unausrottbar ist. Der Mensch vermag diese Gottgehörigkeit zu leugnen, aber er kann sie nicht abschütteln. Er vermag sich mit den Dingen der Welt zu betäuben – und viele tun es ja –, aber er kann Gott nicht abschaffen. Der unwiderlegbare Beweis für die Ausrichtung des Menschen auf Gott ist die Tatsache, dass diejenigen, die angeblich mit Gott fertig sind, fortwährend von Gott reden, anderen den Glauben an Gott aus dem Herzen reißen wollen. Sie können von Gott nicht schweigen, weil ihr Gewissen nicht von Gott schweigt. In der Menschenseele liegt das Heimweh nach Gott. Keine Macht der Erde kann diese Sehnsucht austilgen. Das ist auch unsere unversiegbare Hoffnung. Mich fragte einmal ein junger Mann, ob man nicht eines Tages damit rechnen müsse, dass die Religion verschwindet. „O nein“, sagte ich, „lieber Freund, o nein. Die Verwiesenheit des Menschen auf Gott ist der Grund unserer Existenz und auch der Grund unserer Hoffnung.“ Es wird immer im Menschen, später oder früher, eine Sehnsucht nach Gott aufbrechen. Denn dazu ist der Mensch auf Erden, dass er seinen Schöpfer erkenne und ihn ehre in Furcht und Hochachtung und Befolgung seiner Gebote. Wenn wir ihn ehren, nutzen wir uns, nicht ihm, denn Gott ist der Garant unseres Wertes und unserer Würde. Weil wir von Gott geschaffen sind, weil wir ihm trotz aller Unähnlichkeit ähnlich sind, deswegen haben wir eine unaufgebbare Würde. Der Mensch hat durch seine Gottgehörigkeit eine unverlierbare Erhabenheit. Sie kann durch keine menschliche Institution, auch durch keinen Verfassungssatz geschaffen werden. Der Mensch kann von seiner Entfremdung, von der Vermassung, von der Fremdbestimmung nur befreit werden, wenn er Gott findet. Wer dagegen Gott vergißt, wer Gott beiseite setzt, wer Gott aus dem Spiel läßt, macht einen fatalen Rechenfehler, der sich bitter rächt. Die Leugner der Majestätsrechte Gottes sind immer die Zerstörer der Menschenrechte. Wo die Religion hintangesetzt wird, da geraten die Grundfesten des öffentlichen Wohls ins Wanken. Wer die Achtung vor der Religion abwirft, der zerstört die Grundlagen der bürgerlichen Wohlfahrt. Die Wirklichkeit unserer Umgebung zeigt uns, wie wahr diese Überlegungen, die ja von der Kirche immer vorgetragen wurden, sind.

Der zweite Fehler der Fortschrittsgläubigen besteht in der Leugnung der Sünde. Es war ein schlimmer Irrtum zu meinen, dass der Mensch durch die Entwicklung der Naturwissenschaften und durch die Verbesserung der Lebensmöglichkeiten auf eine höhere Stufe der Sittlichkeit gelangen werde. Die Entdeckungen und Erfindungen, für die wie dankbar sind, erschließen uns neue Wirklichkeiten, aber sie verbessern nicht das Zusammenleben der Menschen. Durch Telefon und Computer werden die Menschen nicht wohlwollender und wohltuender. Die Technik erleichtert das Leben, aber sie macht die Menschen nicht besser. Autos und Flugzeuge machen die Menschen nicht mildtätiger und hilfsbereiter. Wer vermag zu behaupten, die Menschen seien gütiger, friedlicher, selbstloser geworden, seitdem sie vom Ochsenkarren in Limousinen umgestiegen sind? Das Gegenteil ist der Fall. Indem das Leben immer leichter und bequemer wird, wächst der sittliche Verfall, wächst die Dekadenz. Statt der Dankbarkeit steigt der Übermut. An die Stelle der Zufriedenheit tritt die immer erneute drohende Forderung: entweder mehr Geld oder Streik. Der Grund liegt darin. dass der Fortschrittgläubige die Sünde und das Sündenbewußtsein, das Sündenelend leugnet. Der Fortschrittsgläubige erklärt das sündhafte Verhalten für normal. Das beobachten wir im Strafrecht. Das Strafrecht hat ja auch eine sittliche Aufgabe, und diese sittliche Aufgabe ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund getreten. Vor langer Zeit war der Ehebruch vom Staate mit Strafe belegt. Der Staat hat seit langem die Bestrafung des Ehebruchs aufgegeben. Vor nicht langer Zeit wurde die gleichgeschlechtliche Unzucht vom Staate streng bestraft. Der Staat hat sich von der Bestrafung der gleichgeschlechtlichen Unzucht zurückgezogen. Bis 1973 wurde die Kuppelei, also die Förderung zwischenmenschlicher sexueller Handlungen, mit Strafe bedroht. Seit diesem Datum hat der Staat die Förderung solcher Handlungen durch Erwachsene straffrei gestellt. Die Entsittlichung des Strafrechts bringt die Vergehen aber nicht zum Verschwinden, sie tarnen sie jetzt als erlaubt.

Die Mißachtung der Gebote Gottes, meine lieben Freunde, beseitigt nicht die Unordnung, die von ihnen ausgeht. Die Leugnung der Sünde schafft die Sünde nicht aus der Welt. Sie bleibt das Unheil, das dem Menschen schadet und ihn schuldig macht. Die Welt kann nicht heil werden, wenn sie nicht geheiligt wird. Der Mensch kann nicht besser werden, wenn er nicht gnadenhaft erhoben wird. Die Modelle der Selbsterlösung übersehen die furchtbare Tatsache der Schuld, der Erbschuld und der persönlichen Schuld. Die Schuld ist das größte Übel, das den Menschen treffen kann, und wer von der Schuld befreien kann, der ist der Erlöser. Die Erlösung von der Schuld ist durch keine Änderung der Produktionsverhältnisse oder der Staatsverfassung zu erreichen. Sie ist auch nicht durch den Fortschritt der Wissenschaft und der Technik zu gewinnen. Von der Schuld kann nur der befreien, der von der Schuld betroffen ist, nämlich Gott, unser Heiland. Wir gläubigen Christen sind in der glücklichen Lage zu wissen, woher das Unheil und woher das Heil kommt. Das Heil kommt von Gott in Christus Jesus. Christus ist nach Gottes Anordnung für uns zur Rechtfertigung, Heiligung und Erlösung geworden. Der Gerechte ist für die Ungerechten gestorben, um uns zu Gott zu führen. Es gefiel Gott, in Christus alles mit sich zu versöhnen, alles auf Erden und alles im Himmel, indem er durch sein Blut am Kreuze Frieden stiftete.

Wir beginnen heute die Passionszeit. In diesen Tagen steigt das dornengekrönte Haupt unseres Heilandes und Erlösers vor uns auf. Wir begleiten ihn auf seinem Leidensweg und sprechen: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die ganze Welt erlöst.“

Amen.

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