Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
15. Juni 2008

Böses nicht mit Bösem vergelten

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Eine primitive Form der Strafrechtspflege war die Blutrache. Ein jeder, der einer Sippe angehörte, konnte das Unrecht, das einem seiner Sippenangehörigen angetan worden war, rächen, und zwar in demselben Maße, wie die Untat geschehen war. Die Blutrache konnte den Täter oder auch einen Angehörigen des Täters treffen. Blut musste mit Blut, Tod mit Tod gesühnt werden. Diese Blutrache hat auch ihre Spuren im Alten Testament hinterlassen. Im Buche Genesis, dem 1. Buche Moses, ist die Rede von Lamech. Dieser Lamech sagte zu seinen Frauen – er besaß mehrere Frauen – : „Einen Mann erschlage ich für eine Wunde und einen Knaben für eine Strieme. Wird Kain siebenfach gerächt, dann Lamech siebzigmal siebenmal.“ Lamech hatte also das Maß der Blutrache weit ausgedehnt. Für eine Strieme wollte er einen anderen Menschen erschlagen. Da erkennt man, dass das Alte Testament mit seinem Gesetze „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ eine bedeutende Milderung brachte. Das war eine Zähmung der Strafrechtspflege, das war eine Einschränkung der Blutrache. Die Römer haben es anders gehandhabt. Sie haben das Wort erfunden: „Fiat iustitia, pereat mundus“ – Die Gerechtigkeit muss geschehen, auch wenn die ganze Welt darüber zugrunde geht. Hier war ein Rechtsfanatismus am Werke, der uns schauderhaft erkennen lässt, wohin die Liebe zur Gerechtigkeit führen kann: nicht zum Recht, sondern zum Gegenteil, zum groben Unrecht.

Nicht nur in alter Zeit gab es Menschen, die das Recht um jeden Preis durchsetzen wollten. Von dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant stammt das Wort: „Wenn morgen die Welt unterginge, müssten heute noch alle todeswürdigen Verbrecher hingerichtet werden.“ So sollte nach seiner Meinung die sühnende Gerechtigkeit bewahrt werden.

Doch das geschriebene Recht ist nicht das höchste. Es gibt auch ein ungeschriebenes Recht, und es gibt auch über dem Recht eine Barmherzigkeit, und beides gilt es zu beachten. Der Reichspräsident Friedrich Ebert – von Hause aus übrigens katholisch – hat das schöne Wort gesagt: „Wenn wir eines Tages vor der Frage stehen: die Verfassung oder Deutschland, dann werden wir nicht um der Verfassung willen Deutschland zugrunde gehen lassen.“ Wahrhaftig ein mannhaftes Wort von einem redlichen Politiker der Weimarer Zeit.

Wir wollen uns nicht zu Richtern aufwerfen über vergangene Zeiten. Wir kennen die Motive und die Einstellungen dieser Menschen zu wenig. Wir wollen lieber vor der eigenen Tür kehren. Und da haben wir heute ein Wort gehört in der Epistel, das uns nachdenklich machen soll: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, nicht Schmähung mit Schmähung, vielmehr segnet einander, wie ihr ja auch berufen seid, Segen zu erben.“ So spricht der Apostel Petrus heute zu uns: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem, nicht Schmähung mit Schmähung, vielmehr segnet einander, wie ihr ja auch berufen seid, Segen zu erben.“ Blutrache ist heute aus der Übung gekommen. Wir halten uns viel zugute, dass wir zu besseren Formen des Rechtes gelangt sind. Aber wie steht es um den Geist, aus dem die Blutrache hervorgegangen ist? Gibt es den Geist der Rache und der Vergeltung nicht auch heute noch? Und dieser Geist der Rache und der Vergeltung muss sich nicht in Mord und Totschlag auswirken, sondern er kann sich auch in kleinerer Münze auszahlen. „Das lasse ich mir nicht gefallen“, so trumpfen schon die Knaben in der Schule auf bei Raufereien. Viele Eltern geben ihren Kindern auf den Lebensweg die Mahnung mit: „Laß dir ja nichts gefallen!“ Es ist eine der schlimmsten Lebensregeln, die man Kindern geben kann: „Laß dir nichts gefallen!“ Damit werden Konflikte, Auseinandersetzungen, Reibereien und Zerwürfnisse ohne Zahl und ohne Ende hervorgerufen. Als Lehrling, als Schüler, als Anfänger, als Auszubildender muss man sich etwas gefallen lassen: Mahnung, Warnung, Rüge, Tadel, Zurechtweisung. Der Direktor der Oberschule, die ich besucht habe, hat uns viele Mahnungen auf den Weg gegeben. Die meisten habe ich vergessen, aber eine habe ich behalten, und die lautete: „Jungs, ihr müsst lernen ungerechte Kritik ertragen.“ Der Direktor hatte recht: „Jungs, ihr müsst lernen ungerechte Kritik ertragen.“ Auf Erden muss man sich etwas gefallen lassen: von den Eltern, von den Kameraden, von den Lehrern, von den Nachbarn, von den Vorgesetzten. Wer sich nichts gefallen lässt, der ist fortwährend im Streit und im Unfrieden. Auch in der Ehe, meine lieben Freunde, muss man sich etwas gefallen lassen. Und selbst in der Freundschaft, vom Freund, von der Freundin muss man sich etwas gefallen lassen. Die Menschen haben nun einmal ihre Eigenarten und Unarten. Wir werden sie ihnen nicht abgewöhnen, wenn wir uns nichts gefallen lassen.

Einer der schlimmsten Grundsätze, die Menschen haben können, lautet: „Wie du mir, so ich dir.“ Das heißt, wer mir freundlich begegnet, dem begegne auch ich freundlich. Wer mir aber abweisend begegnet, dem begegne auch ich abweisend. Das ist ein zutiefst unchristlicher Grundsatz. Der Herr, unser Lehrer und Meister, weist ihn ausdrücklich und energisch zurück: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Tuet Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen!“

Spuren und Auswüchse des Rachegeistes gibt es auch heute in unserer Gesellschaft. Sie werden wie selbstverständlich angenommen und gewohnheitsmäßig gepflegt. Rache muss ja nicht mit wutverzerrtem Gesicht herumlaufen. Sie kann sich auch hinter einem Lächeln verbergen und um so sicherer ihr Ziel erreichen. Kleine Schikanen, ständige Nadelstiche, kleine Bosheiten können einem unersättlichen Vergeltungswillen zu furchtbaren Waffen werden und ein Familienleben, eine Arbeitsstätte und eine Nachbarschaft zerrütten. Man spricht heute von dem sogenannten Mobbing. Mobbing besagt, dass man einem anderen fortwährend und wiederholt böswillige Handlungen zufügt, am Arbeitsplatz oder in der Schule. Mobbing ist eine besondere und heute übliche Form der Rache. Gewiß, ich habe nicht gesagt, man muss sich alles gefallen lassen. Es gibt eine Grenze. Auch der Herr hat sich nicht alles gefallen lassen. Als der Diener des Hohenpriesters ihn auf die Wange schlug, da hat er sich zur Wehr gesetzt: „Habe ich unrecht geredet, so beweise es mir, habe ich aber recht geredet, warum schlägst du mich?“ Der Herr hat sich gewehrt; aber er schlägt nicht zurück. „Da er gescholten wurde, schalt er nicht“, heißt es im 2. Petrusbriefe. „Da er litt, drohte er nicht, sondern stellte seine Sache dem gerechten Richter anheim.“ Menschen, die einen kränken und beleidigen, muss man mit äußerster Höflichkeit und Freundlichkeit behandeln. Solche Rücksichtnahme und Vornehmheit kann sie zur Besinnung bringen. Vom heilige Clemens Maria Hofbauer wird folgende Begebenheit erzählt: Er sammelte für seine Armen in den Gasthäusern Almosen. Er kam an einen Tisch, wo vier Männer Karten spielten. Er brachte seine Bitte vor, da spuckte ihn einer an. Clemens Maria Hofbauer wischte sich ab und sagte ruhig: „Das war für mich. Jetzt bitte ich noch um eine Gabe für meine Armen.“

Die Mahnung des Apostels Petrus: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem!“ wird merkwürdigerweise wörtlich vom Apostel Paulus aufgenommen im Römerbrief: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem! Seid auf das Gute bedacht! Schafft euch nicht selbst Recht, sondern lasst dem Zorngericht Raum! Denn es steht geschrieben: ,Mein ist die Rache. Ich will vergelten.’ Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken. Dann sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt. Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!“ Was heißt diese merkwürdige Wendung: Wenn du dem Feind Gutes tust, sammelst du feurige Kohlen auf sein Haupt? Das besagt: Die Guttaten, die man dem Feind erweist, werden ihn nachdenklich machen. Sie werden an sein Gewissen rühren. Sie werden ihm vielleicht zur Besinnung und zur Umkehr gereichen.

Einmal, meine lieben Freunde, muss die Rache ein Ende nehmen, und das geschieht nur, wenn Böses nicht mit Bösem vergolten wird. Einmal muss die Kette des Bösen unterbrochen werden. Das besteht darin, dass man auf Rache verzichtet. Das Böse ist keine Naturgewalt, der wir unterliegen müssten, sondern wir besitzen die Güte und Liebe Gottes, die Kraft zur Vergebung und den Antrieb zum Verzeihen. Das Verzeihen ist auch so eine Sache. Es muss nämlich aus dem Herzen kommen; es muss innerlich, echt und wahr sein. Mit ein paar Worten ist es nicht getan. Ein bloß äußerliches Vergeben ändert nicht das Herz und ändert auch nicht die Beziehung zu dem anderen. Das Herz muss geändert werden. Wir müssen die Gereiztheit, die Feindseligkeit, die Wut, den Zorn gegen den Nächsten aus dem Herzen schaffen. Nichts vergiftet das Verhältnis zum Nächsten so sehr wie der Groll. Groll, das ist verhaltene Wut und Feindseligkeit gegen einen anderen. Einem anderen grollen heißt ihm Böses nachtragen, auf Vergeltung sinnen, Schadenfreude über das Unglück des anderen empfinden. Man spricht auch vom Ressentiment, das ist eben ein heimlicher Groll, ein unterschwelliges Haß- und Rachebedürfnis, das aufgrund einer unbewältigten schmerzlichen Situation entstanden ist.

Nein, meine lieben Freunde, Segen statt Fluch, Vergebung statt Rache, Güte statt Gewalt, das ist die Sprache der heutigen Lesung. Wer das Kreuz Christi nicht versteht, mag diese Haltung für Torheit oder Schwäche halten. Wer aber einmal versucht hat zu vergeben, wo der natürliche Mensch um Rache schreit, der hat begriffen, dass dazu eine heroische Kraft notwendig ist, eine heroische Kraft. Die Gegenwart des Christen in der Welt muss für die Welt zum Segen werden, und das wird sie nur, indem wir das Böse in Schranken halten, indem wir nicht Böses mit Bösem vergelten, nicht Schmähung mit Schmähung, sondern mit Segen. Der große französische Prediger Lacordaire hat einmal das schöne Wort gesagt: „Willst du Befriedigung für einen Augenblick, so räche dich. Willst du Befriedigung für immer, dann vergib!“ Und wir wollen schließen, meine lieben Freunde, mit dem Anruf aus der Litanei von allen Heiligen: „Von Zorn, Haß und allem bösen Willen erlöse uns, o Herr!“

Amen.

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