1. Januar 2008
Ein neues Jahr in Verantwortung vor Gott
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, zur Feier der Jahreswende Versammelte!
Die meisten von Ihnen werden schon einmal eine Bergwanderung mitgemacht haben, wo Sie nach einem schwierigen Aufstieg auf dem Gipfel des Berges standen und dann zurückschauten auf den Weg, den Sie zurückgelegt hatten. Sie mochten denken an die Wälder, die Sie durchschritten hatten; es mag Ihnen die Steilheit des Weges zum Bewusstsein gekommen sein, die Quelle, die da gerauscht hat und an der Sie sich vielleicht erquickt haben. Man hält, wenn man auf einem Gipfel angekommen ist, Rast und schaut zurück und schaut auch vorwärts.
So ist es auch am ersten Tag eines neuen Jahres. Wir denken zurück an das, was das vergangene Jahr uns abverlangt hat an Kraft, an Dulden und Leiden, aber auch vielleicht an Freuden, an Erfolgen, an schönen Erlebnissen. Eines ist sicher: Am Beginn eines neuen Jahres tritt ein Gedanke mit beherrschender Gewalt vor unsere Seele, und der lautet: Vergänglichkeit. Alles ist vergänglich. Wieder ist ein Jahr versunken. Von der Mitternachtsstunde des vergangenen Jahres an bis heute, wie rasch sind die Monate, die Wochen und die Tage verflogen. Vergänglichkeit! Niemals steht uns das Bewusstsein der Vergänglichkeit deutlicher vor Augen als am Beginn eines neuen Jahres.
Und doch ist nicht alles vorbei. Es bleibt etwas, was uns in das neue Jahr folgt, ja was uns bis zur letzten Stunde unseres Lebens begleitet, nämlich die Verantwortung, die Verantwortung vor Gott. Im Buch der Apokalypse des Apostels Johannes steht der folgenschwere Satz: „Ihre Werke folgen ihnen nach.“ Alle Werke, die guten und die schlimmen. Sie folgen uns nach bis in die Ewigkeit. Nie berühren uns die Schauer der Ewigkeit deswegen auch so dringlich wie am Beginn eines neuen Jahres. Hier reichen sich tatsächlich Vergänglichkeit und Ewigkeit die Hand. Flüchtig wie ein Traum ist das Erdenleben, aber es birgt in sich das Schicksal der Ewigkeit. Alles ist ein Wandern und Vergehen, aber einmal wird die Wanderung zu Ende sein, und am Ende steht der Herr des Lebens und wird fragen: Was hast du mitgebracht? Was hast du in deinen Händen? Hast du deine Hände gefüllt mit wertlosem Tand oder mit Schätzen, die in die Ewigkeit hinüberdauern? Darauf kommt es an. „Sammelt euch nicht Schätze auf Erden“, sagt der Herr, „die Rost und Motten verzehren, wo ein Dieb kommt und sie wegnimmt. Sammelt euch Schätze vielmehr in der Ewigkeit, die Rost und Motten nicht verzehren und wo kein Dieb kommt, einbricht und stiehlt.“ Wahrhaftig, unsere Verantwortung ist groß. Auf dem Zifferblatt einer Schule habe ich die Worte gelesen: „Transeunt et imputantur.“ Das heißt: Sie gehen vorüber und sie werden angerechnet. Die Stunden nämlich; sie gehen vorüber, aber sie werden angerechnet.
So soll, so muss die Stunde der Jahreswende auch eine Rechenschaft für uns sein. Der Kaufmann macht am Ende des Jahres Inventur über Soll und Haben, und auch wir müssen Inventur machen und uns fragen: War es wert, dass wir das vergangene Jahr gelebt haben? Dürfen wir mit seinem Gewinn und Verlust zufrieden sein – zufrieden vor Gott? Denn was die Menschen über uns sagen, das ist wenig belangreich. Sie schauen ja nicht in unser Inneres. Aber Gott, er ist der Allwissende, der Allsehende, der Unentrinnbare, und um sein Urteil dreht sich alles, über sein Urteil kommt niemand hinweg. Eine ernste Frage stellt sich uns also: War es Weizen oder war es Streu, was wir im vergangenen Jahr in die Scheuern Gottes eingeführt haben? Im großen Hauptbuche Gottes ist alles eingetragen, Gewinn und Verlust, Verdienst und Schuld. Und wir müssen den Mut haben, uns Rechenschaft zu geben, nicht um zu klagen, obwohl Klagen auch eine Form der Reue sind, sondern um Antrieb und Wegrichtung zu gewinnen für das neue Jahr. Wir müssen wissen, was wir im neuen Jahr unternehmen sollen und wie wir uns vor Gott verhalten sollen.
Im 16. Jahrhundert lebte in England der Kardinal Wolsey. Wolsey war Kanzler des englischen Reiches, also der Erste Mann nach dem König, und er hatte seinem despotischen Herrn – und Heinrich VIII. war ein despotischer Herr! – treu gedient. Zum Schluß sollte er noch die Scheidung des Königs in Rom betreiben. Aber es ging dem König nicht schnell genug, und so fiel der Kardinal in Ungnade. Er wurde als Hochverräter an den Hof nach London zitiert. Schwer krank machte er sich auf den Weg, und mitten auf der Reise erreichte ihn das Ende. Seine letzten Worte waren: „Hätte ich Gott so eifrig gedient, wie ich dem König gedient hatte, er hätte mich nicht verlassen in meinen alten Tagen. Aber das ist der Lohn, dass ich bei allen meinen Bemühungen nicht meinen Dienst gegen Gott, sondern nur den Dienst gegenüber meinem Fürsten im Auge hatte.“
Das ist die entscheidende Frage, meine Freunde. Was habe ich im Auge? Wem diene ich? Ich habe einmal das furchtbare Wort gelesen: „Willst du wissen, wer dich lohnen wird, dann frage dich, für wen du deine Werke tust.“ Denn der ist es, der dich lohnen wird. Willst du wissen, wer die lohnen wird, dann frage dich, für wen du deine Werke tust.
Noch einmal gibt uns Gott eine Chance in diesem neuen Jahr. Ich halte es nicht für falsch, wenn Menschen ihre Wünsche aussprechen; denn Wünsche sind ja nichts anderes als Äußerungen des Wohlwollens, die wir freilich über die große Brücke, die Gott ist, geleiten müssen. Wenn die Wünsche nicht in Gottes Macht und Liebe einmünden, sind sie leerer Schall und Rauch. Aber Wünsche, die aus dem Herzen kommen und die sich an Gott wenden, die dürfen wir aussprechen, die sollen wir aussprechen. Meistens wünschen wir uns Glück, und das ist auch nicht falsch. Glück ist ein Zustand, in dem wir befriedet sind, wo Hoffnungen und Erwartungen in Erfüllung gegangen sind. Man spricht vom Glück auf zwei Weisen, nämlich Glück haben und glücklich sein. Das sind zwei sehr verschiedene Dinge. Glück haben, das heißt im äußeren Leben, bei den Unternehmungen Erfolg haben, reüssieren und die Aufgaben erfüllen können, die einem gesetzt sind. Glücklich sein dagegen heißt im Inneren befriedet sein, im Inneren die Ruhe gefunden haben und jetzt tatsächlich in Einklang mit sich selbst sein.
Das Glück ist aber nicht alles. Wir sind nicht auf Erden, um hier glücklich zu werden, sondern wir sind auf Erden, um unser Glück in der Ewigkeit zu bereiten. Wir sollen uns so verhalten, dass wir einmal eine ganze Ewigkeit bei Gott glücklich sein können, und deswegen muss eigentlich unser höchster und wichtigster Wunsch sein, dass Gott uns Gnade gibt und Kraft, Gnade, damit wir von ihm gehalten und geführt werden, Kraft, damit wir auf seinen Willen eingehen und ihm treu bleiben können. Das ist es: Gnade und Kraft. Das sollten wir wünschen, meine lieben Freunde, für das neue Jahr. Die Schicksale, die uns treffen werden, Erfolg oder Misserfolg, Erfüllung oder Enttäuschung, Glück oder Leid, das alles ist verborgen in Gottes Weisheit und Macht. Aber eines wissen wir: Was auch immer über uns kommen mag, aus allem können wir für Gott Werte schaffen, können wir Gold bilden, wenn wir es in der rechten Gesinnung tragen. Es kommt nicht darauf an, was wir tun und was wir leiden, sondern wie wir es tun und wie wir es leiden.
„Denen, die Gott lieben, gereichen alle Dinge zum Besten“, heißt es in der Heiligen Schrift im Römerbrief. Denen, die Gott lieben, gereichen alle Dinge zum Besten. Weil sie eben durch die Liebe alles, was über sie kommt, verwandeln, weil sie alles, was ihnen aufgetragen ist und was ihnen widerfährt, in das Gold der Liebe zu Gott verwandeln.
Unser schlesischer Dichter Joseph von Eichendorff hat einmal die schönen Verse geschrieben: „Die Welt mit ihrem Gram und Glücke will ich, ein Pilger, froh bereit betreten nur als eine Brücke zu dir, Herr, überm Strom der Zeit.“ Wie schön hat dieser fromme Edelmann es beschrieben! Die Welt mit ihrem Gram und Glücke will ich, ein Pilger, froh bereit betreten nur als eine Brücke zu dir, Herr, überm Strom der Zeit.
Wir wollen diese Brücke betreten, meine lieben Freunde, im Namen Jesu. Nicht umsonst feiern wir heute das Fest der Beschneidung, wo Jesus der Name gegeben wurde, der über alle Namen ist, der Name unseres Heilandes und Erlösers. Vor einigen Jahren musste sich ein Mann einer schweren Operation unterziehen. Es wurde ihm die Zunge abgeschnitten. Der Operateur sagte zu ihm: „Bald werden Sie nicht mehr sprechen können. Wenn Sie noch etwas zu sagen haben, dann tun Sie es jetzt, denn das wird Ihr letztes Wort sein.“ Da sah der Kranke seine Angehörigen, die bei ihm waren, an und sprach: „Gelobt sei Jesus Christus!“ Das war das letzte Wort, das er sprechen konnte. Ähnlich ist es bei dem großen Volksschriftsteller Hansjakob gewesen. Als er zum Sterben kam, da sagte er zu seiner Umgebung: „Ich habe manches gesagt und geschrieben, was ich besser nicht gesagt und geschrieben hätte. Aber was ich jetzt sage, das brauche ich nicht zu bereuen.“ Und er sagte sein letztes Wort: „Gelobt sei Jesus Christus!“ Beide Männer standen vor dem Schweigen für immer, der eine vor dem erzwungenen, lebenslangen Schweigen, der andere vor dem Schweigen der Ewigkeit. Beide wussten in diesem Augenblick kein besseres Wort zu sagen als „Gelobt sei Jesus Christus!“ Denn dieses Wort kann ein ganzes Leben erfüllen. Dieses Wort füllt auch die ganze Ewigkeit. Und die Kirche weiß uns kein besseres Wort am Anfang des Jahres zu geben als den Namen Jesu, denn kein anderer Name ist unter dem Himmel gegeben, in dem die Menschen selig werden können, als der Name Jesus.
Das ist natürlich nicht nur ein Name, sondern mit dem Namen Jesu verbindet sich seine Gesinnung. Im Namen Jesu sollen wir alles tun, d.h. in seiner Gesinnung. Die Gesinnung Jesu aber ist uns bekannt. Sie lautet: „Mein Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat.“ Der Name Jesu soll uns auch in der Treue zu ihm befestigen. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Er soll uns auch im Vertrauen festigen, denn er hat uns verheißen, und er steht zu seinen Verheißungen: „Bittet, und ihr werdet empfangen. Alles, um was ihr den Vater in meinem Namen – in meinem Namen! – bitten werdet, das wird er auch gewähren.“
Das soll unsere gute Meinung im beginnenden Jahre sein. Gott soll mit uns gehen, Gott soll uns helfen. „Näher, mein Gott, zu dir, näher zu dir!“ Das muss unsere Devise sein. Wenn wir unser aufrichtiges Wollen mit der Kraft Gottes verbinden, dann sind wir stark, dann bleiben wir auf dem rechten Wege, dann mag uns Sonnenschein oder Gewittersturm begegnen, wir werden unerschütterliche Menschen sein. Gott ruft uns in dieses Jahr hinein, und wir sollen ihm antworten: Paratum cor meum, paratum cor meum – Mein Herz ist bereit, mein Herz ist bereit, o Gott. Und mit dieser Bereitschaft wollen wir ein unerschütterliches Vertrauen auf Gottes Vaterhilfe verbinden, ein unerschütterliches Vertrauen, das spricht: „Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt!“
Amen.