3. Januar 1999
Der Zeitpunkt der Geburt Jesu
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir schreiben das Jahr 1999. Genauer müßte man hinzufügen: 1999 nach Christus oder noch genauer: nach Christi Geburt. Unsere Ära, unsere Zählweise beginnt mit der Geburt unseres Herrn und Heilandes. Es ist ein ganz erstaunlicher Vorgang, daß die ganze Erde, ob christlich oder nicht, diese Zählweise übernommen hat. Überall, ob in Europa oder in Asien, in Afrika oder in Amerika oder in Australien, überall schreibt man das Jahr 1999 nach Christi Geburt. Wenn man freilich mathematisch und astronomisch genau vorgehen will, dann muß man sagen, Christus ist vor diesem Datum des Jahres 1 geboren. Unsere Zeitrechnung hinkt um ein paar Jahre der tatsächlichen Geburt des Heilandes nach. Wie ist diese Inkongruenz zwischen dem Geschehnis und unserer Zeitrechnung zu erklären?
Die heutige Zeitrechnung geht auf einen Mönch namens Dionysius Exiguus zurück. Dieser Mönch lebte im 5. und 6. Jahrhundert. Er stammt aus Armenien und bewohnte zunächst das Kloster in Hierapolis, im heutigen Syrien gelegen. Er war ein gelehrter Mann, und der Ruf seiner Gelehrsamkeit war der Anlaß, daß er zunächst nach Konstantinopel, der Hauptstadt des damaligen oströmischen Reiches, berufen wurde. Hier machte er sich nützlich als Übersetzer; er war ein sprachenkundiger Mann, und sein Ruf drang auch nach Rom. Der Papst berief Dionysius in seine Bischofsstadt. Im Jahre 496 setzte Dionysius seinen Fuß auf römischen Boden. Was hatte er dort zu tun? Er sollte zunächst das Archiv der römischen Kirche ordnen. Die Akten, Konzilsbeschlüsse, Papstbriefe, Erlasse anderer Art waren in Unordnung geraten. Wodurch? Durch die Vandalen. Die Vandalen hatten im Jahre 455 Rom erobert und geplündert und dort so gehaust, daß wir heute noch vom Vandalismus sprechen. Das Archiv des Papstes war ein Trümmerhaufen, und Dionysius sollte es ordnen. Das hat er getan, mit großem Eifer und mit großem Geschick. Seine Sprachenkenntnis machte ihn geeignet, griechische Texte ins Lateinische zu übertragen. Wir verehren in ihm einen der Väter der Kirchenrechtswissenschaft, weil er nämlich die Beschlüsse von Konzilien und die Erlasse von Päpsten, welche die Disziplin der Kirche betreffen, geordnet, gesammelt und herausgegeben hat.
Aber eine andere Leistung überschattet diese. Es war nämlich in der Christenheit kein einheitlicher Ostertermin vorhanden. Die Kirche in Rom feierte die Auferstehung des Herrn an einem anderen Tag als die Kirche in Athen, und die Kirche in Alexandrien hatte wieder einen anderen Termin als die Kirche von Mailand. Der heilige Ambrosius berichtet uns, daß im Jahre 387 das Osterfest in Rom am 21. März begangen wurde, in Ägypten dagegen am 25. April. Also über ein Monat klaffte zwischen den Osterterminen, und das sollte nun geändert werden. Denn wenn die Christenheit eine ist, dann soll sie auch ihr größtes Fest an ein und demselben Tage begehen. Man suchte also nach einem gemeinsamen Ostertermin. Und Dionysius fand ihn. Er ist es, der die Osterberechnung des Kyrill von Alexandrien aufgenommen und in seinen Ostertafeln niedergelegt hat. Seitdem wird Ostern begangen an dem Sonntag, der dem Frühlingsvollmond folgt – an dem Sonntag, der dem Frühlingsvollmond folgt. Der Frühlingsvollmond ist jener, der am 21. März oder am Tage danach zu beobachten ist. Seitdem haben wir ein einheitliches Osterfest in der gesamten katholischen Kirche.
Aber damit war die Leistung des Dionysius noch nicht beendet. Denn wonach, nach welchem Jahrestag, nach welchem Ereignis berechneten die Menschen damals die Jahre? Nun, meine lieben Freunde, Kyrill von Alexandrien, von dem Dionysius die Osterberechnung übernahm, rechnete nach dem Regierungsantritt des Kaisers Diokletian. Diokletian war am 29. August 284 an die Regierung gekommen, und von da an rechnete man die Zeit. Man sprach also dann vom 10. Jahre der aera Diocletiani oder vom 250. Jahre der aera Diocletiani. Daran nahm Dionysius Anstoß. Warum? Weil Diokletian der schreckliche Christenverfolger war. Er nahm Anstoß daran, daß man die Jahre nach einem Manne zählte, der das Christentum blutig verfolgt hatte, und sagte: Das muß geändert werden. Und so kam Dionysius darauf, eine neue Zeitrechnung zu erfinden, und was bot sich da besser an als die Zeitrechnung nach der Geburt unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus?
Aber das bot eine große Schwierigkeit, denn wann ist unser Herr und Heiland geboren? Die Evangelien geben darüber keine Auskunft, sie nennen kein Jahr und keinen Tag. Man mußte also aus verschiedenen Berichten der Evangelien zu kombinieren versuchen, wann die Geburt gewesen war. Da stieß Dionysius auf den Eingang des 3. Kapitels im Lukasevangelium: „Es war im 15. Jahre der Regierung des Kaisers Tiberius, als Johannes anfing zu predigen.“ Da hatte man ein Datum, das 15. Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius. Man wußte, wann Tiberius regiert hat, und das 15. Jahr konnte man auf diese Weise ausrechnen. Wenige Monate, nachdem der Vorläufer aufgetreten war, ist Jesus an die Öffentlichkeit gegangen. Also hatte man damit einen gewissen Fixpunkt. Und Lukas macht noch eine zweite Angabe. Er sagt nämlich: Als Jesus aufzutreten begann, war er etwa 30 Jahre alt. Hier haben wir ein zweites Element, um zu einer annähernden Berechnung der Wirksamkeit und damit auch der Geburt Jesu zu gelangen. Man war damals überzeugt, daß Jesus am 25. März von den Toten auferstanden sei. Dionysius suchte nun nach einem Jahr, in dem Ostern auf den 25. März gefallen war; das war das Jahr 784 seit der Gründung der Stadt Rom. Dionysius war überzeugt: Am 25. März 784 war Jesus von den Toten auferstanden. Jetzt mußte man 30 Jahre zurückrechnen. Er kam damit auf das Jahr 754. Hier, sagt er, ist der Anfang unserer Zeitrechnung. Im Jahre 754 seit der Gründung der Stadt Rom ist Jesus von Nazareth geboren. So kommt unsere Zeitrechnung zustande.
Aber diese Zeitrechnung ist mit Unsicherheiten behaftet. Zunächst einmal: Wenn Jesus ungefähr 30 Jahre alt war, kann er etwas jünger, er kann aber auch etwas älter gewesen sein. Wir haben keine Gewißheit, daß er genau 30 Jahre alt war. Außerdem hat ja Jesus eine mehrjährige Wirksamkeit entfaltet. Wir müssen mit einem etwa 2 Jahre und mehrere Monate dauernden öffentlichen Wirken Jesu rechnen. Warum? Weil uns Johannes von drei Osterfesten, die der Herr besucht hat, berichtet. Wenn er auf drei Osterfesten in Jerusalem war, dann muß er wenigstens zwei Jahre und einige Monate gewirkt haben. Sie müßte man also dazuzählen zu seinen Lebensjahren. Da sieht man schon, daß die Berechnung des Dionysius nicht genau sein kann. Man hat sich freilich viele Jahrhunderte dabei beruhigt, hat weitergeschrieben: „Im Jahre 1 000 nach der Geburt unseres Heilandes“, „Im Jahre 1600 nach der Geburt des Herrn“. Aber im Jahre 1604 erschien am Firmament ein neuer Stern. Er wurde von Astronomen beobachtet, und der große Mathematiker und Astronom Johannes Kepler in Prag schrieb ein Buch: „Bericht über einen neuen Stern“. In diesem Buche ließ er am Schluß die Meinung anklingen, daß Jesus vor dem Jahre 1 geboren sei. Da erhob sich ein großes Geschrei, er wolle die Zeitrechnung umstürzen. Kepler ließ 7 Jahre später, im Jahre 1613, ein weiteres Buch erscheinen: „Bericht über die Geburt Jesu Christi“. In diesem Buch beweist er, daß Jesus vor dem Jahre 1 geboren sein muß. Wie beweist er es? Er beweist es, indem er den König Herodes den Großen zum Ausgangspunkt seiner Berechnungen machte. Wir wissen, wer Herodes war, wir kennen auch seine Regierungszeit. Herodes der Große ist 4 v.Chr. gestorben. Er ist aber derjenige, zu dessen Lebenszeit Christus geboren wurde. Also muß Jesus vor dem Jahre 4 geboren sein. Wir können sogar noch genauer bestimmen, wann er geboren sein muß, denn es ist ja eine Zeit vergangen vom Auftauchen des Sternes und der Ankunft der Magier und eine weitere Spanne von der Ankunft der Magier bis zum Tode des Herodes. Nach der Berechnung von Kepler ist Jesus im Jahre 5 v. Chr. geboren.
Doch Kepler hat die Lebensdaten Jesu auch nicht völlig richtig eingeschätzt, denn wenn Herodes die Knäblein bis zu 2 Jahren töten ließ, dann muß Jesus also schon ein bestimmtes Alter erreicht haben, als der Mordbefehl ausging. Wir nehmen an, etwa anderthalb Jahre. Und dann kommen wir zum Jahre 6 v. Chr. Dann ist Jesus 6 v. Chr. geboren.
Die Überlegungen Keplers haben auf die Wissenschaft großen Eindruck gemacht. Man hat sich auch lange bei dieser Auskunft beruhigt, bis im Anfang des 19. Jahrhunderts ein anderer Astronom namens Ideler eine andere Lösung anbot. Er ging nicht von Herodes aus, sondern von dem Stern. Und er sagte: Der Stern, der den Weisen geleuchtet hat, war die Konjunktion, also die Verbindung der beiden Planeten Jupiter und Saturn. Diese Konjunktion aber liegt 7 v. Chr.; sie ereignete sich im Jahre 7 v. Chr. Also wieder eine andere Angabe. Wenn diese Konjunktion der Stern von Bethlehem war, dann ist diese Annahme richtig. Aber wir haben natürlich keine absolute Gewißheit, daß nicht ein anderer Stern die Weisen nach Bethlehem gewiesen haben könnte.
Meinen Sie nicht, meine lieben Freunde, dadurch, daß die Berechnung der Menschen auseinandergeht, ändere sich etwas an unserem Heil und an unserem Heiland. Daß Jesus geboren wurde, wird von niemandem bestritten. Daß die Zählung der Jahre durch menschliche Unzulänglichkeit durcheinandergeraten ist, braucht uns in keiner Weise an seiner heilsamen Geburt irrezumachen. Wir schreiben auch heute jedes Jahr als annus reparatae salutis, als das Jahr des wiederhergestellten Heiles. Mag immer das Geschehnis von Bethlehem 4 oder 5 oder 6 oder 7 v. Chr. sich zugetragen haben, in jedem Falle ist uns der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.
Amen.