Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
23. November 1997

Das Selbstbewußtsein Jesu

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Selbstbewußtsein Jesu überschreitet menschliche Schranken. Man hat versucht, es als ungeschichtlich zu erweisen. Aber diese Versuche sind gescheitert. Wer Jesus dennoch in die Grenzen des Natürlich-Menschlichen einschränken will, der muß behaupten, dieses Selbstbewußtsein sei unberechtigt. Es ist dann unberechtigt, wenn sich entweder Jesus über sich selbst getäuscht hat, wenn er also im Irrtum war, oder wenn er die anderen über sich getäuscht hat, wenn er ein Betrüger war. Das Selbstbewußtsein läßt sich von einem Menschen nicht trennen. Wenn sich Jesus über sich selbst getäuscht hat, dann ist er bemitleidenswerter Psychopath. Wenn er aber andere über sich betrogen hat, dann ist er ein gerissener Betrüger. Tertium non datur – eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

Die Evangelien berichten uns genügend, um über Jesus ein begründetes Urteil zu fällen. Gewiß, der Rahmen ist schematisch und erhebt keinen Anspruch auf geschichtliche Treue. Wir wissen nicht, wann bestimmte Worte Jesu gesprochen sind. Es ist uns nicht einmal bekannt, wie lange er gewirkt hat. Aber seine Persönlichkeit steht klar umrissen aus den Berichten der Evangelien vor uns. Seine Mentalität, seine Gottverbundenheit, seine Treue zu sich selbst gehen mit untrüglicher Sicherheit aus den evangelischen Berichten hervor.

Wir haben kein leibliches Bild von Jesus und auch keinen Bericht über seine leibliche Erscheinung. Man hat versucht, dem Schweigen der Evangelien nachzuhelfen und hat Bilder von Jesus vorgewiesen. Es gibt das Abgar-Bild, das Bild des Lukas, das Bild des Nikodemus, das Bild der Veronika. Aber alle diese Bilder sind phantastische Produkte, haben ihren Grund nicht in der Wirklichkeit. Es sind legendäre Bilder. Was sollen wir sagen zu dem Turiner Leichentuch? Es gibt ernsthafte Forscher, die behaupten: Das Turiner Leichentuch ist echt. Es gibt aber ebenso ernsthafte Forscher, die dagegenhalten: Es kann nicht echt sein. Es taucht zu spät auf; seine Beglaubigung ist zu unsicher und – vielleicht der schwerwiegendste Einwand – es stimmt nicht mit dem Bericht des Evangelisten Johannes über das Begräbnis Jesu überein. Denn nach diesem Bericht des Johannes  wurde Jesus mindestens in zwei Tücher gewickelt, in eines um seinen Leib und in ein anderes um sein Haupt. Das Turiner Leichentuch aber ist nur eines. Ich will und kann die Frage über die Echtheit hier nicht entscheiden. Ich meine nur, daß wir keine letzte Gewißheit haben, ob das Turiner Leichentuch echt ist.

Ebensowenig sind die Berichte wert, die im Mittelalter auftauchen über die Gestalt Jesu, z.B. der Lentulus-Brief oder die Beschreibung des Nikephorus-Kallistus. Diese Beschreibungen der körperlichen Gestalt Jesu sind aus den Fingern gesogen; sie sind nicht historisch. Es gab Kirchenväter, die der Meinung waren, Jesu Gestalt sei unansehnlich, ja häßlich gewesen, und zwar glaubten sie das schließen zu können aus der Weissagung des Isaias: „An ihm ist nicht Gestalt und Schönheit, daß wir ihn anschauen möchten.“ Aber diese Weissagung geht doch nur auf den leidenden Jesus. Deswegen haben andere Kirchenväter, wie Hieronymus oder Johannes Chrysostomus, diese Meinung entschieden zurückgewiesen.

Jesus hat auf seine Zeitgenossen einen starken Eindruck gemacht. Die Kinder sind zu ihm hingeeilt, die Kranken haben ihm vertraut. Die Frau aus dem Volke sagt: „Selig der Leib, der dich getragen, und die Brust, die dich genährt hat!“ Jesus muß von körperlicher Wohlgestalt gewesen sein, sonst würde sich diese Anziehungskraft, die ja auch von seiner leiblichen Gestalt ausging, nicht erklären lassen. Er macht den Eindruck des Gesunden, Kraftbeschwingten, Disziplinierten. Er muß ein abgehärteter, gestählter Mann gewesen sein. Er hat weite Wege zurückgelegt. Er hat oft im Freien übernachtet. Er hat den Höhenunterschied zwischen Jericho und Bethanien, 1200 Meter, ohne Zeichen der Erschöpfung überwunden. Er hat in seiner Passion eine bewundernswerte Stärke bewiesen. Jesus muß ein gesunder und leidensfähiger Mensch gewesen sein.

Und was sollen wir erst sagen von seiner geistigen Gestalt? Es fällt vor allem auf seine Naturverbundenheit und sein Wohlwollen gegenüber den Menschen. In den Gleichnissen weiß er die Lilien des Feldes zu preisen und die Vögel des Himmels, aber seine Liebe zu den Menschen ist noch viel bewundernswerter und erhabener. Das Leid der Witwe, die ihren einzigen Sohn verloren hat, die Angst des besorgten Vaterherzens des Jairus um seine Tochter, die reuigen Tränen der Sünderin rühren an sein Herz. Jesus hat der ertappten Ehebrecherin in feinster Weise ihre Schuld vorgehalten und sie gleichzeitig zur Besserung gemahnt; er hat den reuigen Petrus aufgenommen; er hat die Sünderin, die ihm die Füße salbte, zur Bekehrung geführt; er hat die Ängstlichkeit des Nikodemus in feiner Weise ertragen. Jesus ist ein Menschenkenner von hohen Gnaden. Vor allem sein Verhältnis zu Petrus ist von einer solchen Zartheit und Feinheit, wie es kein Schriftsteller erfinden könnte. Wie er den zagenden Petrus beruft, wie er ihn vor seinem Vorwitz und seiner Vertrauensseligkeit warnt, wie er ihn bei seinem Verrat mit einem Blick bekehrt und wie er ihm dann die Schlüssel des Himmelreiches überreicht, das ist von einer solchen feinen und erhabenen Menschenliebe und Freundesliebe erfüllt, wie man sie sich nicht größer denken kann.

Und erst sein Verhältnis zum Vater. Jesus hat ein inniges, dauerndes und starkes Verhältnis zum himmlischen Vater. Er ist der größte Beter der Weltgeschichte. Auf einsamen Bergen, in stiller Nacht hält er Zwiesprache mit dem Vater. Jesus ist ein religiöses Genie, wenn man diesen Ausdruck auf ihn anwenden darf. Und dieses Genie bezieht seine Kraft nicht aus menschlichen Quellen, sondern aus göttlicher Herkunft.

Jesus ist auch ein intellektuelles und moralisches Wunder. Seine Geistigkeit ist von überragender Gewalt. Seine Gottesvorstellung vereint die Majestät Gottes mit dem Erbarmen. Seine Menschenvorstellung verknüpft die Niedrigkeit des Menschen mit seiner Würde. Jesus weiß, daß Gott der Allmächtige ist, aber ebenso, daß er der Allbarmherzige ist. Sein Wissen von Gott hat er nicht aus rabbinischen Quellen bezogen; er hat ja niemals eine Schule besucht. Es kommt auch nicht aus außerjüdischen Quellen. Seine Zeitgenossen fragen deswegen verwundert: Wie versteht dieser die Schrift, da er doch nicht studiert hat? Sein Wissen kennt kein Tasten und Suchen, es kennt kein Schwanken und keine Unsicherheit. Jesus hat sich niemals korrigieren müssen. Er hat kein einziges Mal etwas zurücknehmen müssen. Vom ersten Atemzug bis zu seinem letzten steht er zu seiner Lehre, unwandelbar und sicher und frei.

Kein Mensch auf dieser Erde hat bisher jemals die Frage stellen dürfen: Wer von euch kann mich einer Sünde bezichtigen? Jesus konnte diese Frage stellen. Die Antwort darauf muß lauten: Niemand kann ihn einer Sünde bezichtigen. Der Haß der Feinde hatte nichts gegen ihn einzuwenden, was vor der Vernunft und dem Glauben standhielte. Sein Richter befand ihn für schuldlos. Der Verräter mußte bekennen: Ich habe unschuldiges Blut verraten. Und seine Jünger, die ihm vertraut waren – und in der Vertrautheit sieht man ja manches, was andere nicht sehen – haben ihn als den Heiligen und Gerechten bekannt, der Sünde nicht getan hat. Seine Tugend ist gefestigt. Sie ringt sich nicht erst durch mühevolles Erwerben hoch. Er braucht sich nicht durch Brüche und Kämpfe zur Höhe der freien sittlichen Persönlichkeit zu erheben. Es gibt bei ihm keine Entwicklung der Tugend, sie ist immer da und sie ist immer gleich stark. Er ist starkmütig und doch nicht hart. Er ist gütig und warmherzig und doch nicht weichlich und unmännlich. Seine Demut ist von erhabener Hoheit; sein Verständnis für andere von göttlichem Ernst. Er bejaht alle irdischen Werte und ist doch an keinen einzigen gebunden.

Jesus ist ein intellektuelles und moralisches Wunder. Seine Lehre ist übernational und überzeitlich. Sie bedient sich der aramäischen Sprache, aber sie ist für Menschen jeder Sprache, jeder Nation, jedes Alters, jedes Standes verständlich und anwendbar. Er spricht ebenso über Gott wie über die Welt, über das Diesseits wie über das Jenseits, über den einzelnen und über die Gemeinschaft. Seine Lehre hat, soweit sie von den Menschen angenommen und verwirklicht worden ist, die höchsten Leistungen der abendländischen Kultur hervorgebracht. Er hält seine Lehre fest bis zum letzten Atemzug am Kreuze.

Wahrhaftig, meine lieben Freunde, wer angesichts dieser Persönlichkeitsstruktur Jesu behaupten wollte, er habe sich geirrt über sich selbst oder er habe andere getäuscht oder zu täuschen versucht, der behauptet etwas psychologisch Unmögliches. Er ist in Irrtum befangen und verkehrt die Wirklichkeit. Dieses Leben ist von numinoser Tiefe. Um dieses Leben strahlt ein göttliches Licht. Dieses Leben ist aus menschlichen, irdischen, natürlichen Kräften und Quellen nicht zu erklären. Von diesem Leben gilt das, was der heidnische Hauptmann am Kreuze, der sein Sterben beobachtete, sagte: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“

Amen.

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