Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
2. Juni 1996

Die Lehre von der Aufnahme Mariens in den Himmel

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Maria ist die Ersterlöste ihres Sohnes. Es war offensichtlich in Gottes Plan bestimmt, daß diejenige, durch deren Vermittlung der ganzen Welt das Heil zuteil werden sollte, auch als erste die Frucht der Erlösung an sich erfahren durfte. Maria ist die Vollerlöste; an ihr ist die Erlösung zur Vollendung gekommen. Bei keinem anderen Menschen ist das bisher der Fall gewesen. Nur sie hat die Vollendung der Erlösung erlangt. Sie blieb von der Erbsünde und von jeder persönlichen Sünde bewahrt. Sie ist die Sündlose. Maria hat am Leben ihres Sohnes wie alle Erlösten Anteil genommen und Anteil bekommen. Aber der Anteil, den sie empfangen hat, ist größer als bei jedem anderen Sterblichen. Maria ist in das Auferstehungsleben ihres Sohnes einbezogen worden, doch diese Einbeziehung übersteigt jede andere eines erlösten Menschen. Sie ist die Vollerlöste.

Maria ist trotz dieser engen Verbindung mit ihrem Sohne der Vergänglichkeit unterworfen gewesen. Maria hat ihre irdische Lebenszeit zu einem bestimmten Zeitpunkt beendet. Sie ist durch das Tor des Todes hindurchgeschritten wie andere auch. Aber auf ihr lag nicht dieselbe Notwendigkeit zu sterben wie auf den anderen Menschen, weil sie eben von der Sünde bewahrt geblieben ist. Bei ihr hatte der Tod nicht die gleiche, drückende Schuldigkeit wie bei den Menschen, die durch die Erbsünde hindurchgegangen sind. Sie sollte das Schicksal ihres Sohnes, der gestorben ist, teilen. Wie hätte sie es ausgehalten, dieses Schicksal nicht zu teilen? Es sollte sich an ihr das Wort erfüllen, das für Jesus gilt: „Mußte nicht der Messias alles dies leiden, um so in seine Herrlichkeit einzugehen?“ Oder das andere Wort: „Allezeit tragen wir das Sterben Jesu an unserem Leibe herum, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde.“ So hat auch Maria diese irdische Lebenszeit abgeschlossen. Aber ihr Heimgang war von einer anderen Qualität und hatte einen anderen Sinn als bei den übrigen Menschen. Ihre Beendigung der irdischen Lebenszeit war ein Sich-selbst-Verzehren in der Glut der Liebe, die Gott in ihr entzündet hatte. Ihr Tod war nicht der Sold der Sünde, sondern die Pforte des Lebens. Ihr Sterben war nicht ein Werkzeug des Zornes Gottes, sondern ihr Sterben war der Weg zur Verwandlung ihres irdischen, vergänglichen Lebens in das himmlische, unvergängliche Leben. Der Tod Mariens hatte eine andere Qualität als bei den übrigen Menschen. Er war ein Hinübergehen von den vergänglichen Formen dieser Welt in die unvergängliche Lebensweise des Himmels. An dieser unvergänglichen Lebensweise des Himmels nimmt aber bei Maria, der Erst- und Vollerlösten, nicht nur die Seele teil, sondern auch der Leib. Maria lebt in verklärter Leiblichkeit.

Die Lehre von der Aufnahme Mariens in den Himmel ist in der Kirche etwa seit dem 6. Jahrhundert in ausdrücklicher Form vertreten worden. Bis zum 6. Jahrhundert war sie in eingewickelter Form mit anderen Glaubenswahrheiten zusammen geglaubt worden. Seit dem 6. Jahrhundert tauchen Zeugnisse auf, daß dieser Glaube aus der Einbindung in andere Wahrheiten heraustritt und für sich und gesondert dasteht. Die Kirche hat in den 1200 Jahren, die seitdem vergangen waren, immer an die Aufnahme Mariens in den Himmel geglaubt. Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870 haben schon 195 Bischöfe den Antrag gestellt, diese Wahrheit zur höchsten Stufe der Gewißheit zu erheben, indem sie als Dogma, als Glaubenssatz, verkündet wird. Das Konzil kam nicht mehr dazu, diesen Antrag zu behandeln, weil Rom von den italienischen Freischärlern erobert wurde und das Konzil aufgelöst werden mußte. Diesen Antrag hat Papst Pius XII. erfüllt. Am 1. November 1950 hat er in feierlicher Weise als Glaubenssatz verkündet: „Nachdem Wir immer wieder inständig zu Gott gefleht und den Geist der Wahrheit angerufen haben, verkünden, erklären und definieren Wir zur Verherrlichung des allmächtigen Gottes, dessen ganz besonderes Wohlwollen über der Jungfrau Maria gewaltet hat, zur Ehre seines Sohnes, des unsterblichen Königs der Ewigkeit, des Siegers über Sünde und Tod, zur Mehrung der Herrlichkeit der erhabenen Gottesmutter, zur Freude und zum Jubel der ganzen Kirche, in Kraft der Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus, der heiligen Apostel Petrus und Paulus und Unserer eigenen Vollmacht: Es ist eine von Gott geoffenbarte Glaubenswahrheit, daß die unbefleckte, immer jungfräuliche Gottesmutter Maria nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele zur himmlischen Herrlichkeit aufgenommen worden ist.“ Damit war der Abschluß der Lehrentwicklung erreicht; damit war, was bisher nicht die letzte Gewißheit hatte, mit absoluter göttlicher Verbürgung zum Dogma erhoben worden.

Wir wollen nun zwei Fragen stellen, einmal: Wie läßt sich dieses Dogma begründen?, und zum anderen: Wodurch unterscheidet sich die Aufnahme Mariens in den Himmel von der Himmelfahrt Jesu Christi?

Wie läßt sich dieses Dogma begründen? Es läßt sich begründen durch Schrift und Tradition. In der Heiligen Schrift wird uns berichtet, daß Feindschaft zwischen dem Satan und dem Schlangentreter (Christus) bestehen sollte.  Mit dem Schlangentreter aufs engste verbunden ist seine Mutter. Sie ist in die Feindschaft gegen den Satan hineingezogen. Ebensowenig wie er vom Satan in Anspruch genommen werden konnte, ebensowenig auch seine Mutter. Diese Unverletztheit, diese Unversehrtheit hat zur Folge, daß sich in ihr die Erlösung in einer ganz anderen und tiefergehenden Weise durchsetzen konnte als bei den Menschen, die von der Erbsünde versehrt wurden. Dazu kommt die Muttergotteswürde. Es war höchst angemessen, daß diejenige, die den Logos gebären sollte, auch an der Sieghaftigkeit des Logos über die Sünde teilhatte. Sie sollte ebenso wie ihr Sohn nicht der Verwesung überlassen werden, sondern sie sollte in der Kraft der Macht ihres Sohnes über die Verwesung triumphieren. Ihr Leib sollte nicht auf irdische Weise zugrundegehen, sondern nach Verwandlung in die Herrlichkeit aufgenommen werden. Es gibt also biblische Grundlagen für diese Wahrheit. Und, wie gesagt, die Kirche hat sie viele Jahrhunderte hindurch geglaubt. Es gab ein Fest der „koimesis“, also des Heimganges, des Entschlafens Mariens, lange bevor diese Wahrheit als Dogma verkündet wurde. Das ordentliche Lehramt, also die alltägliche Lehrverkündigung der Kirche, hat diese Wahrheit immer verkündet; das gläubige Volk hat sie immer geglaubt. Es war deswegen nur der notwendige Schlußpunkt, als Pius XII. am 1. November 1950 diesen Satz mit absoluter Glaubensgewißheit zum Dogma erhob.

Wir dürfen freilich die Unterschiede der Aufnahme Mariens in den Himmel von der Himmelfahrt Jesu nicht übersehen. Die Himmelfahrt Jesu ist schon sprachlich von der Aufnahme Mariens unterschieden; denn von Jesus sagen wir: Er fuhr aus eigener Kraft in den Himmel hinauf, während Maria aufgenommen wurde, also in der Kraft Gottes. Die Himmelfahrt Jesu ist ein bestimmtes historisches Faktum, das wir in die Heilsgeschichte mit Datum einordnen können, nämlich 40 Tage nach der Auferstehung ist die Himmelfahrt erfolgt. Für die Aufnahme Mariens in den Himmel läßt sich kein Datum angeben. Wir haben keinen bestimmten Tag, den wir als den Tag der Aufnahme Mariens namhaft machen könnten. Wir haben auch keine Augenzeugen. Die Apostel waren Zeugen der Auffahrt Christi in den Himmel; für Maria gibt es keine Augenzeugen, die uns erklären könnten: Maria ist in den Himmel aufgenommen worden, wir haben es gesehen. Von Jesus wissen wir, daß er emporschwebte, wie der Bericht der Apostelgeschichte uns meldet. Das Emporschweben Mariens ist uns nicht beglaubigt. Es wird zwar in der Kunst dargestellt, aber diese künstlerische Aussage ist nicht ein Bestandteil des Dogmas.

Die Aufnahme Mariens in den Himmel ist auch insofern von der Himmelfahrt Jesu unterschieden, als die Apostel nach der Auferstehung des Herrn Erscheinungen des Auferstandenen hatten. Von Maria werden uns aus dieser Zeit keine Erscheinungen, die mit denen Jesu verglichen werden können, berichtet. Wir wissen, daß das Grab Jesu leer war – auch wenn Herr Hilberath es anders behauptet –, aber ein Grab Mariens ist bis heute nicht entdeckt worden. Wir wissen nicht, ob sie in Ephesus gestorben ist oder in Jerusalem, auf dem Berge Sion. Es läßt sich mit Gewißheit kein Grab Mariens nachweisen. Es lassen sich auch keine Reliquien von Maria auffinden.

Das alles sind wichtige und bedeutsame Unterschiede, die uns die Aufnahme Mariens von der Himmelfahrt Jesu unterscheiden lassen. Die Tatsache selbst steht durch die Offenbarung fest. Wenn die Kirche viele hundert Jahre lang etwas als Glaubenswahrheit festhält und feierlich als solche verkündet, dann kann ihr das Wissen darum nur durch die Offenbarung zugewachsen sein. Mag diese Wahrheit auch in den ersten Jahrhunderten in anderen Wahrheiten eingehüllt gewesen sein, so hat sie sich doch daraus entwickelt. Es ist das nicht eine fromme Meinung oder ein Wunschtraum, den die Kirche zur Glaubenswahrheit erhoben hätte, sondern es ist eine wirkliche, von Gott geoffenbarte Tatsache, welche die Kirche mit Beistand des Heiligen Geistes als Glaubenswahrheit verkündet.

Als im Jahre 1950 das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündet wurde, hörte man murrende Stimmen, vor allem von protestantischer Seite. Es gab auch den einen oder anderen katholischen Theologen, der die Dogmatisierung für inopportun hielt. Inopportun heißt: paßt nicht in die Zeit, ist nicht angemessen. Die Einwände der Protestanten sind deswegen falsch, weil sie irrigerweise die Aufnahme Mariens in den Himmel mit der Himmelfahrt Jesu gleichsetzten. Ich habe soeben die Unterschiede dieser beiden Ereignisse hervorgehoben. Der Heilige Vater Pius XII. war fest davon überzeugt, daß die Dogmatisierung nicht inopportun, sondern opportun sei, also höchst angemessen. Er war überzeugt, daß sie der Zeit und der Menschheit von heute etwas zu sagen hat, weil eben in einer Zeit, in der das ewige Leben immer mehr in den Hintergrund tritt, in einer Zeit, wo der Leib mißbraucht und geschändet wird, die Erhöhung Mariens mit Seele und Leib deutlich macht, daß der ganze Mensch zur Erlösung und zur Vollendung der Erlösung berufen ist. Der ganze Mensch soll in die Verklärung und in die Herrlichkeit Gottes eingehen. Und deswegen ist auch der Leib als ein kostbares Pfand zu betrachten, das wir nicht schänden und nicht mißbrauchen dürfen. Der Leib ist uns anvertraut. Einmal soll sich die verklärte Seele in dem verklärten Leibe wiederfinden. Diese Wahrheit wird uns durch die Dogmatisierung der Himmelfahrt Mariens nahegebracht. Außerdem vermag das neue Dogma uns mit neuer Zuneigung und Liebe zur Mutter unseres Herrn zu erfüllen. Wir wissen jetzt, sie ist die Erstvollendete, und sie ist die Ganzvollendete. Sie lebt in der himmlischen Herrlichkeit als die Mutter der Kirche, als unsere Mutter, zu der unser Rufen, unser Flehen, unser Bitten, unser unstillbares Weinen geht. Zu ihr wollen wir mit einem schönen Gebetsruf sprechen:

O du Eine, o du Reine,

die ich minne, die ich meine,

Königin im Himmelssaal.

Hochgebenedeite Fraue,

der ich ganz mein Herz vertraue,

sei gegrüßt vieltausendmal!

Stern im dunklen Lebensmeere,

Himmelsleuchte, stille, hehre,

send uns Irren deinen Strahl!

In der Wetter Sturm und Toben,

sei gegrüßt, du Licht von oben,

sei gegrüßt vieltausendmal!

Wenn wir trauern und verzagen

und nicht aufzublicken wagen

in des Herzens banger Qual,

hör uns, die wir ferne stehen

und nur leis und schüchtern flehen,

sei gegrüßt vieltausendmal!

Amen.

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