19. Dezember 1993
Der Auftrag der Kirche
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Aufgabe der Kirche ist, die Ehre Gottes zu fördern. An die Ehrung Gottes ist das Heil der Menschen gebunden. Nur wo Gott Ehre geschieht, kann das Leben der Menschen einen heilvollen Verlauf nehmen. Diese Weise, sich zu verhalten, hat die Kirche von ihrem Herrn und Heiland gelernt. Christus ist nicht erschienen, um in die Gestaltung der irdischen Dinge unmittelbar einzugreifen. Er ist gekommen, um das Verhältnis des Menschen zu Gott zu verwandeln. Er ist gekommen, um den Menschen von der Sünde zu erlösen und tauglich zu machen für die Ehrung Gottes nach seinem Vorbild. Er hat eindeutig erklärt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wäre mein Reich von dieser Welt, dann würden meine Diener kämpfen. So aber ist es nicht von hier.“
Freilich war die Welt, waren die irdischen Ordnungen der Welt dem Herrn nicht gleichgültig. Er hat den Menschen verwandelt, und der verwandelte Mensch sollte die Ordnungen der Welt verwandeln. Er hat den Menschen verändert, damit der Mensch die Welt verändert. Er hat einen neuen Menschen durch die Kräfte seiner Gnade und Wahrheit erschaffen wollen. Und er hat darauf vertraut, daß dieser neue Mensch dann die gedeihliche Gestaltung der Ordnungen der Welt mit den Kräften, aus denen er selber lebt, in Angriff nimmt.
Außerdem hat der Herr die Ordnungen der Schöpfung, die der Vater im Himmel hervorgebracht hatte, geachtet. Er setzt die Ordnungen der Schöpfung nicht außer Kraft, er setzt sie vielmehr voraus. Die Haltung Jesu zur Welt ist also negativ und positiv zugleich. Negativ: Er hat keine unmittelbaren Weisungen für die Ordnung der Welt hinterlassen und sich nicht unmittelbar in die Ordnung der Welt eingemischt. Positiv: Er hat einen neuen Menschen geschaffen, und dieser neue Mensch sollte aus seinem Geiste die Welt prägen und gestalten.
Nach diesem Beispiel hat sich die Kirche zu richten. Die Kirche hat keinen unmittelbaren Auftrag für die Ordnung dieser Welt. Sie ist für die himmlischen Angelegenheiten bestellt, während der Staat für die irdischen Angelegenheiten eingesetzt ist. Es gibt zwei höchste Gewalten auf dieser Erde, die relative Autonomie, also relative Selbständigkeit besitzen, die Kirche und den Staat. Die Kirche darf nicht Staat werden, aber der Staat darf sich auch nicht in die Kirche einmischen.
Freilich sind Kirche und Staat und die Bereiche, die ihnen zugeordnet sind, nicht streng geschieden. Sie sind vielmehr aufeinander bezogen, und wir werden gleich sehen, daß die Kirche einen fünffachen Auftrag für diese Welt und damit auch für den Staat hat. Ihre Sendung ist, die Ehre Gottes zu bewirken. Aber die Bewirkung der Ehre Gottes läßt sich nicht bewerkstelligen, ohne daß die Kirche ihrem Auftrag gegenüber der Welt gerecht wird. Die Beziehungen der Kirche zur Welt sind fünffacher Art.
Erstens: Die Formen dieser Welt, die Ordnungen dieser Welt greifen in die Kirche und in die Menschen der Kirche ein. Die Kirche bewegt sich in dieser Welt und muß deswegen mit deren Ordnungen leben, also mit der wirtschaftlichen, mit der sozialen, mit der kulturellen und mit der politischen Ordnung dieser Welt. Diese verschiedenen Ordnungen der Welt sind nicht gleichgültig gegenüber der Kirche, sondern es gibt Ordnungen, welche das Wirken der Kirche freier gestalten lassen, und andere, die es mehr hemmen, und deswegen muß sich die Kirche mit den Ordnungen der Welt beschäftigen, muß sich mit ihnen bekannt machen.
Der zweite Grund ist, daß die Kirche sich an die Menschen wendet, die in den Ordnungen dieser Welt leben. Sie hat den Menschen, die hier und jetzt ihr Dasein verbringen, die Verkündigung von Gottes Offenbarung auszurichten, sie hat ihnen die Sakramente zu spenden, vor allem das Brot zu brechen, das Brot des Lebens. Die Kirche hat ihnen zu verkünden das Erbarmen und den Zorn Gottes, die Botschaft von der Gnade und vom Gericht. Sie hat die Menschen aus ihrer Selbstsicherheit und Selbstgenügsamkeit aufzuschrecken und darf deswegen nicht achtlos an dieser Welt vorübergehen. Sie muß achthaben, wie weit die Formen dieser Welt für die Menschen einen Segen oder einen Unsegen bilden; denn an diese Menschen ist sie gewiesen.
Die dritte Beziehung der Kirche zur Welt besteht darin, daß sie die Menschen formt. Sie gestaltet die Menschen mit den Kräften, die Christus ihr anvertraut hat. Durch die Taufe wird der erbsündige Mensch ein neues Geschöpf. Er wird frei von den freiheitshemmenden Mächten. Er wird dadurch befähigt, die Welt nicht nach Begierde und Willkür zu gestalten, sondern sie aus der Kraft des Heiligen Geistes zu formen. Indem die Kirche die Wahrheit und die Gnade Christi den Menschen vermittelt, schafft sie neue Menschen. Indem sie die Menschen mit dem gekreuzigten Christus verähnlicht, befähigt sie die Menschen, die Welt in anderer Weise zu gestalten, als die unerlösten Menschen sie zu formen imstande sind. Also durch die Verwandlung der Menschen leistet die Kirche einen eminenten Beitrag für die rechte Ordnung dieser Welt. Die von ihr erneuerten Menschen sind befähigt, die Welt nach dem ihr innewohnenden Sinn seinsgerecht zu gestalten, die Schöpfungsordnungen zu erkennen und sie in der Welt herauszuarbeiten.
Und das ist auch viertens die besondere Gabe der Kirche. Sie hat eine klarere Erkenntnis von den Schöpfungsordnungen als die außerhalb der Kirche befindlichen Menschen. Sie ist ja erleuchtet vom Licht des Heiligen Geistes, und durch diese Erleuchtung ist sie imstande, in einer ungetrübteren und deutlicheren Weise zu erkennen, was der Vater im Himmel gewollt hat, als er die Welt schuf. Sie ist in einer erheblich tieferen Weise befähigt, den Willen Gottes über seiner Schöpfung zu erkennen, und sie hat deswegen die Möglichkeit, Weisungen zu geben für die Ordnung dieser Welt. Sie besitzt – wie die Theologie sagt – eine potestas directiva, d.h. eine Richtlinienkompetenz bezüglich der Weltgestaltung. Sie hat die obersten Grundsätze herauszuarbeiten, die für die Ordnung dieser Welt gelten – die obersten Grundsätze!
Die Kirche hat nicht die Aufgabe, das Tagesgeschehen zu steuern. Sie ist nicht beauftragt, die Tagespolitik zu lenken, sondern sie hat aus dem Schatze ihres Wissens, aus dem, was der Heilige Geist ihr zuspricht, die Normen von Gut und Böse bezüglich der Gestaltung der Welt herauszuarbeiten.
Um zwei Beispiele zu erwähnen: Die Kirche hat den rechten Umgang mit der Umwelt zu lehren. Die Welt ist Gottes Schöpfung und muß deswegen mit Ehrfurcht und mit Schonung behandelt werden. Und wenn es notwendig ist, um die Schöpfung Gottes zu erhalten, muß die Kirche sagen: Ihr Menschen müßt bereit sein, Einschränkungen hinzunehmen. Aber die Einzelheiten – z.B. ob nun der gelbe Sack kommt oder nicht – zu regeln, ist nicht Sache der Kirche. Das ist Sache des Staates, in die sich die Kirche nicht einmischen soll und gar nicht einmischen darf.
Oder denken wir an das Asylrecht. Die Kirche hat zu verkünden: Du mußt dich des Bruders und der Schwester in Not annehmen! Du mußt, weil jeder dein Bruder und jede deine Schwester ist, auch Fremden deinen Schutz und deine Hilfe gewähren! Aber wie weit diese Pflicht geht, was einem Staat in dieser Hinsicht möglich ist, das muß dieser selbst entscheiden. Wenn der Staat sagen muß: Ich bin nicht imstande, die Asylanten der ganzen Welt aufzunehmen, es ist mir unmöglich, sie alle zu nähren und zu kleiden und zu unterhalten, die da ins Land kommen wollen. da muß die Kirche schweigen. Da muß sie dem Staat das Urteil überlassen, denn er muß die Menschen nähren und kleiden, und nicht die Kirche. Die Einzelheiten des Asylrechts zu regeln, die Maximen der Asylpolitik zu bestimmen, ist nicht Sache der Kirche.
Außerdem gibt es in weltlichen Angelegenheiten eine Vielfalt von möglichen, zulässigen und sittlich einwandfreien Lösungen. Im politischen Bereich z.B. ist die Kirche an keine bestimmte Regierungsform gebunden. Wenn immer eine Staatsform den Menschen gestattet, nach dem Willen Gottes zu leben, und die Menschenrechte gewahrt sind, wenn immer ein Staat seine wesentlichen Aufgaben erfüllt, für Ruhe und Ordnung, Arbeit und Brot zu sorgen, dann hat die Kirche kein Recht, zu sagen: Die Staatsform muß geändert werden! Die Kirche ist weder auf das Königtum noch auf die Republik eingeschworen. Sie ist auch nicht auf Gedeih und Verderb mit der parlamentarischen Demokratie verbunden. Für die Kirche ist die parlamentarische Demokratie kein Dogma. Die Kirche kann auch unter anderen Verhältnissen leben, und wir wissen, daß die parlamentarische Demokratie schwere Mängel hat. Das Richtige wird darin häufig überhaupt nicht oder zu spät oder ungenügend getan. Die innere Sicherheit ist vielfach denkbar gering, und der ständige Streit der Parteien führt die Menschen nicht selten zum Verdruß, zum Überdruß an der parlamentarischen Demokratie. Das sollte nicht vergessen werden! Vor allen Dingen sollte man die parlamentarische Demokratie nicht Ländern aufzwingen, die dafür nicht geeignet sind.
Vor kurzem hat ein englisches Fernsehteam die Tochter des früheren russischen Staatspräsidenten Breschnew befragt, was sie zu der Entwicklung sagt, die sich in Rußland vollzieht. Galina Breschnew gab zur Antwort: „Man kann bei uns die Dinge nicht so machen wie in der übrigen Welt. Wir sind Russen. Und wenn man uns Demokratie gibt, fangen wir an, über alles - entschuldigen Sie – Scheiße zu kippen.“
Die Kirche sieht keinen Zwang, eine bestimmte Regierungsform einem bestimmten Volke aufzuzwingen. Sie ist hier frei, genauso wie in der Wirtschaftsform. Die Wirtschaft kann mehr privat, sie kann auch mehr staatlich gelenkt sein. Die Kirche ist mit beiden Modellen einverstanden, solange die wesentlichen Staatszwecke gewährleistet sind und die Menschenrechte gewahrt werden. Es gibt keine denkbare irdische Form, die ein ebenbürtiger Ausdruck der Christusverbundenheit sein könnte. Es lassen sich viele mögliche und verantwortbare Gestaltungen des politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Lebens denken.
Die fünfte Beziehung der Kirche ist die sogenannte potestas indirecta ratione peccati. Die Kirche besitzt eine mittelbare Gewalt über die irdischen Dinge mit Rücksicht auf die Sünde. Was bedeutet das?
Die Kirche weiß, daß alles, was der Mensch tut, irgendwie sein Heil betrifft. Der Mensch wirkt ja sein Heil in den Dingen des täglichen Lebens, mit seiner Arbeit, mit seiner Freude, mit seinem Leid; damit wirkt er sein Heil, oder schafft er sich sein Unheil. Und deswegen muß es der Kirche gestattet sein, zu sagen: Eine bestimmte Gestaltung des politischen Lebens, ein bestimmtes Unternehmen des Staates in der Welt ist dem Zwecke des Heils entgegengesetzt, widerspricht dem Gesetze Christi, hemmt die Auswirkung der Christusverbundenheit. Sie kann also mit Rücksicht auf die Sünde, die in diesem Verhalten liegt, ihre mahnende und warnende Stimme erheben. Damit mischt sie sich nicht unzulässigerweise in das staatliche Leben ein, sondern macht von ihrer Vollmacht Gebrauch, die Menschen zu Gott zu führen. Weil die Menschen in allen ihren Lebensbezügen ihr Heil wirken müssen, muß die Kirche in bezug auf alle Lebensbezüge sagen können: Es ist dir erlaubt! Es ist dir nicht erlaubt!
Das sind also, meine lieben Freunde, die fünf Bezüge, welche die Kirche zur Welt hat. Es ist ihre Aufgabe, die Ehre Gottes zu fördern. Aber sie kann Gottes Ehre nicht fördern, wenn sie nicht ihrem Auftrag für die Welt, ihrem Öffentlichkeitsauftrag, ihrem Wächteramt, wie man es heute nennt, gerecht wird. Doch darf dieser Auftrag nicht überspannt werden. Wer die Kirche nicht Kirche sein läßt, wer die Kirche ins Weltliche hineinziehen will, der verfehlt sich gegen ihre wesentliche und oberste Aufgabe. Es scheint, daß solche Bestrebungen heute verstärkt auftreten. Ein Bischof, der sein Hirtenamt wenig ausübt, aber viel in der Politik auftritt, der verweltlicht die Kirche. Ein Theologe, der die Bibel als ein Buch wie andere auch behandelt, der verweltlicht die Kirche. Ein Kleriker, der die geistliche Kleidung ablegt, der verweltlicht die Kirche. Ein Priester, der für die Verheiratung der Geistlichen eintritt, der verweltlicht die Kirche.
Die Kirche muß Kirche bleiben, wenn sie ihren höchsten und größten Auftrag, die Ehrung Gottes, erfüllen will. Wenn die Kirche Gott am meisten ehrt, dann dient sie auch am meisten den Menschen. Wenn sie Gottes Ehre allem anderen voranstellt, dann trägt sie am wirksamsten für das Heil der Welt bei.
Amen.