Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
18. Oktober 1992

Über Selbsttötung und Sterbehilfe

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wenn im Herbst die Blätter fallen, dann richtet sich der Blick des Christen unwillkürlich auf das Ende seines Lebens. Es kommt ihm in Erinnerung, was die Nachfolge Christi in die Worte faßt: „Sterblicher, denk ans Sterben!“ Wir Christen sind belehrt, daß der Tod nicht nur eine Folge des Verbrauchens der Lebenskraft ist, sondern daß der Tod der Sold der Sünde ist. Die Sünde muß bezahlt werden, und sie wird bezahlt mit dem Tode. Der Tod hat im Plane Gottes bestimmte Absichten. Gott hat nach seiner weisen Vorsehung den Tod, unseren Tod, meinen Tod eingeplant; seine Vorsehung hat unser Leben so geordnet, daß an einem bestimmten Punkte der Ruf an uns ergeht: „Komm, laß den Spaten stehen! Du hast genug gearbeitet. Es ist Zeit, heimzugehen.“

Gegen diese Verfügung Gottes steht eine Erscheinung, die man Selbstmord nennt. Selbstmord ist die eigenmächtige, ungerechte Vernichtung des eigenen Lebens. Der Selbstmord war im christlichen Mittelalter außerordentlich selten. Aber je weiter die Entchristlichung fortschritt und fortschreitet, desto häufiger wird der Selbstmord. In Deutschland nehmen sich im Jahre etwa 14.000 Menschen das Leben. Die Selbstmordversuche, die nicht zum Ziele führen, werden in die Hunderttausende geschätzt. Die meisten Selbstmorde geschehen bei den Männern zwischen 35 und 50 Jahren, bei den Frauen zwischen 50 und 70 Jahren. Bei den Jugendlichen zwischen 15 und 25 Jahren ist der Selbstmord die zweithäufigste Todesursache. Es ist nun eigenartig, daß es zwischen den einzelnen Ländern sehr weitgehende Unterschiede in der Häufigkeit des Selbstmordes gibt. Der Selbstmord ist häufig in Finnland, Schweden, Dänemark; er ist auch häufig in der Schweiz und in Österreich, am häufigsten in Ungarn. Dagegen ist der Selbstmord außerordentlich selten in Irland, Griechenland, Italien, Spanien und ganz selten in Mexiko.

Die eigenmächtige, ungerechte Tötung, die Vernichtung des eigenen Lebens widerstrebt dem Selbsterhaltungsdrang, der in jedem Menschen ist. Gott hat diesen Drang zur Lebenserhaltung in den Menschen hineingelegt; das ist eine Naturanlage. Und weil Gott der Schöpfer der Natur ist, spricht diese Naturanlage den Befehl aus: Du sollst dich nicht selbst töten! Diese Naturanlage wird verstärkt durch die Selbstliebe. Wir haben die Pflicht, uns selbst zu lieben, denn Christus sagt ja: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Also dürfen, ja müssen wir uns selbst lieben. Freilich in rechter Weise. Die geordnete Selbstliebe verbietet, daß man sich selbst das Leben nimmt. Auch die Gemeinschaft hat ein Recht auf das Leben des einzelnen. Es würde eine große Unsicherheit in der Familie, in der Gesellschaft, im Volk einreißen, wenn es jedem unbenommen wäre, sein Leben jederzeit wegzuwerfen. Der Hauptgrund freilich, warum die Selbsttötung verboten ist, ist die Tatsache, daß Gott der souveräne Herr über das Leben ist. Er ist der Schöpfer, er ist der Richter, er ist der Regent, er bestimmt die Lebenszeit, und dieser Verfügung müssen wir uns fügen.

Die Ursachen des Selbstmordes sind mannigfacher Art. Die starke Labilität der Menschen, ihre leichte Erregbarkeit ist sicher ein Grund. Dazu kommt der Verlust des Glaubens. Wer sich nicht mehr an Gottes Gebote gebunden weiß, wer an ein ewiges Leben nicht glaubt, für wen es ein Gericht nicht gibt, der ist eben leichter geneigt, sein Leben wegzuwerfen als jemand, der gläubig ist. Deswegen sind in Ländern, in denen der Glaube noch stark ist, Selbstmorde seltener. Auch die Suggestion führt zum Selbstmord. Wir wissen zum Beispiel, daß das Buch von Goethe „Die Leiden des jungen Werther“ eine Menge von Selbstmorden nach sich zog. Heute wird den Menschen ja auch vielfach suggeriert, daß sie ihr Leben in bestimmten Verhältnissen wegwerfen könnten. Es gibt eine „Gesellschaft für humanes Sterben“, die Propaganda macht für die Selbsttötung mit berühmten Schauspielern wie der Frau Inge Meysel. Aus solchem Einfluß erklärt es sich, daß Menschen den Selbstmord als Ausweg aus einer ausweglosen Lage ansehen. Wenn es zu schwer wird, das Leben zu ertragen, wie sie meinen, wenn die Ehre verletzt ist, wenn es betrüblich im Leben des Volkes und des Landes ausschaut, dann glauben manche, sie könnten ihr Leben selbst beenden. Und auch hier, meine lieben Freunde, unterscheiden sich katholische Lehre und protestantische Ethik wesentlich. Nach katholischer Lehre ist es niemals und unter keinen Umständen, aus keinem Motiv und aus keiner Absicht erlaubt, sich selbst das Leben zu nehmen. Die protestantische Ethik sagt, daß es im Einzelfalle sogar religiös gerechtfertigt sein kann, sich selbst zu töten. Ich zitiere vor allem den bedeutenden evangelischen Theologen Karl Barth.

Die Selbsttötung muß selbstverständlich, um verboten zu sein, eine gezielte, eine beabsichtigte sein. Wer sich unabsichtlich tötet, der ist kein Selbstmörder. Und das kommt gar nicht so selten vor. Beim Hantieren mit Schußwaffen oder mit gefährlichen Stoffen sind schon manche Menschen ums Leben gekommen. Keine Selbsttötung ist es auch, wenn man die Todesgefahr vertauscht, wenn man also selbst die Gefahr, in der ein anderer sich befindet, auf sich nimmt, um sie dem anderen zu ersparen.

Wie die Selbsttötung ist selbstverständlich auch die Selbstverstümmelung verboten. Der Mensch darf sich nicht, etwa um dem Militärdienst zu entgehen, in die Hand schießen. Er darf sich nicht selbst entmannen, um keusch zu bleiben. Das hat einmal einer getan, der Kirchenschriftsteller Origenes; aber das ist kein taugliches Mittel dafür. Um keusch zu bleiben, gibt es andere Mittel, als sich selbst zu entmannen. Selbstverstümmelung ist also niemals gerechtfertigt. Nur wenn es gilt, das Ganze zu retten, kann die Amputation eines Teiles zulässig sein. Also man darf einem Menschen, dessen Bein brandig geworden ist, das Glied abnehmen, um den ganzen Körper zu erhalten. Aber das ist die einzige Ausnahme von dem Verbot der Selbstverstümmelung.

Es ist das Leben der Güter höchstes nicht. Deswegen kann es pflichtmäßig oder erlaubt sein, Leben und Gesundheit zu gefährden. Es ist die Pflicht, das Leben zu gefährden, wenn man einen Beruf hat, der solche Gefährdungen unweigerlich mit sich bringt. Vor zwei Jahren habe ich einen meiner Nachbarn beerdigt, der als Sprengmeister bei der Entschärfung einer großen Bombe zerrissen wurde. Es muß Männer geben, die diese schwere Aufgabe auf sich nehmen, um andere zu schützen, selbst wenn sie damit rechnen müssen, daß sie eines Tages ein Opfer ihres Berufes werden. Auch andere Berufe verpflichten zur Gefährdung. Der Priester muß auch dann zu Schwerkranken gehen, wenn die Gefahr der Ansteckung besteht. Polizeibeamte müssen die Verfolgung von Verbrechen auf sich nehmen, auch wenn sie dabei selbst in Gefahr geraten. Im Verteidigungsfalle ist es Pflicht eines jeden, das Vaterland mit der Waffe in der Hand zu schützen, auch wenn der eigene Tod dann möglich oder wahrscheinlich ist. Es kann auch erlaubt sein, das eigene Leben zu gefährden, indem man einen Beruf ergreift, der gesundheitsschädlich ist. Es gibt Berufe, die derartige Gefahren mit sich bringen. Etwa sind die Teerarbeiter gefährdet durch Krebs. Es ist erlaubt, wenn man zum Tode verurteilt ist, in entfernter Weise zur Vollstreckung des Todesurteils mitzuwirken. Wenn die Hinrichtung beispielsweise durch das Fallbeil erfolgt, darf man sich auf die Guillotine zubewegen. Vielleicht darf man sogar das tun, was der große, weise Philosoph Sokrates getan hat. Damals erfolgte nämlich die Vollstreckung des Todesurteils durch das Trinken eines Giftbechers, des Schierlingsbechers. Und Sokrates hat diesen Becher befehlsgemäß, auf Anordnung der Obrigkeit, getrunken. Man darf sich auch selbst anzeigen, wenn man ein Verbrechen begangen hat, und die Anzeige notwendig ist, damit nicht ein anderer in den Verdacht gerät. Dagegen ist es unzulässig, um der Schaulust willen lebensgefährliche Experimente auf sich zu nehmen. Es ist verboten, Berufe, die überflüssig sind, zu wählen, wo aber die Gesundheit in schwerer Weise geschädigt wird, wie zum Beispiel Berufsboxen. Dagegen ist es erlaubt, daß man in Ausübung des Berufes sich schweren Gefahren aussetzt. Vor einigen Jahren starb in Frankfurt der katholische Professor Dessauer. Friedrich Dessauer hatte ein ganz von Strahlen zerfressenes Gesicht. Er war Forscher in der Strahlenkunde, und bei seinen Experimenten war er in die Strahlung geraten, und die Strahlen haben ihm sein Gesicht verbrannt. Der Münchener Arzt Pettenkofer hat einmal einen Selbstversuch gemacht. Er wollte beweisen, daß die Cholera nicht durch die Cholerabakterien entsteht. Er hat ein ganzes Glas mit Cholerabakterien ausgetrunken, und ihm ist tatsächlich nichts geschehen. Aber das war ein Beweis, der nicht zog. In diesem einen Falle haben die Bakterien ihre Wirkung nicht getan. In allen anderen Fällen wissen wir, daß die Cholera eine gefährliche, ja lebensgefährliche Krankheit ist.

In jüngster Zeit ist viel die Rede von Euthanasie. Das bedeutet „schöner Tod“, „schönes Sterben“. Was ist Euthanasie? Man versteht darunter vier verschiedene Dinge. Einmal die Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung. Zu dieser Sterbehilfe sind wir bei jedem Sterbenden verpflichtet. Wir müssen den Sterbenden ihr Sterben erleichtern, müssen für sie sorgen, müssen uns um sie kümmern. Sterbehilfe ohne Lebensverkürzung ist eine unbedingte Pflicht der Liebe, eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht zu sprechen braucht. Es gibt dann zweitens die Sterbehilfe durch Sterbenlassen. Weder der einzelne noch der Arzt ist verpflichtet, alle möglichen Mittel anzuwenden, alle möglichen Apparate einzuschalten, damit das Leben noch etwas verlängert wird. Man kann es sich verbitten, daß solche Verlängerung stattfindet. Das hat z.B. der Kardinal Höffner in Köln getan. Als er erfuhr, daß er einen großen Tumor in seinem Kopf hat, hat er sich alle lebensverlängernden Mittel verbeten. Auch das ist erlaubt. Sterbehilfe durch Sterbenlassen ist zulässig.

Dann gibt es drittens Sterbehilfe durch nichtbeabsichtigte, aber tatsächlich als Nebenwirkung eintretende Lebensverkürzung. Auch das ist zulässig. Man darf einem Leidenden, einem Schmerzgeplagten Mittel geben, die tatsächlich sein Leben verkürzen, wenn nur nicht die Verkürzung als solche beabsichtigt ist. Es ist die Nebenwirkung von Mitteln, die die Schmerzen lindern oder nehmen. Aber die Lebensverkürzung tritt ein, weil eben durch diese Mittel das Herz geschwächt wird und dadurch der Tod eher eintritt. Auch das ist zulässig.

Absolut unzulässig ist die vierte Weise der Sterbehilfe, nämlich die gezielte Lebensverkürzung. Hier werden Mittel angewandt, damit jemand dadurch eher den Tod findet. Er wird also eigentlich umgebracht. Er wird durch diese Mittel getötet. Solche Sterbehilfe war in der Zeit des Nationalsozialismus außerordentlich häufig. Es sind Tausende, Zehntausende von Menschen durch Euthanasie, durch gezielte Tötung ums Leben gebracht worden, Geisteskranke, mißgebildete Neugeborene. Auch heute ist von dieser Sterbehilfe viel die Rede. In Holland wird sie häufig praktiziert. Es ist gang und gäbe, daß holländische Ärzte Menschen, die darum bitten, Medikamente verabreichen, die ihren Tod herbeiführen. Tötung auf Verlangen nennt man das. Es steht zwar immer noch unter Strafdrohung, wird aber praktisch in weitem Umfange durchgeführt, weil das entsprechende Gesetz nicht angewendet wird. Diese letzte Weise der Sterbehilfe ist vom christlichen Sittengesetz ausnahmslos verboten. Die Zeit des Leidens mag schmerzlich sein. Wir wissen nicht, welchen Leiden wir selbst entgegengehen, aber die Grundsätze müssen klar sein, meine lieben Freunde. Wie wollen wir diese Leiden bestehen, wenn wir nicht überzeugt sind, daß sie von Gott verordnet sind, um uns zur Bekehrung zu führen, um uns auf den Tod vorzubereiten, um Verdienste für den Himmel zu erlangen, um anderen ein Beispiel zu geben. Die Vorsehung Gottes läßt sich nicht in die Karten schauen. Und deswegen darf der Mensch nicht das Leiden durch gezielte Maßnahmen abkürzen, zur Tötung eines Leidenden schreiten.

Die Herbstzeit erinnert uns an den Tod. Unser eigener Tod steht so sicher bevor wie es eine Tatsache ist, daß wir heute hier zusammen sind. Auf diesen Tod muß man sich rüsten. Es sollte kein Tag vergehen, meine lieben Freunde, an dem wir nicht an unseren eigenen Tod denken. Wir beten ja kein Ave Maria, ohne daß unser Tod vor Gott ins Gespräch kommt. „Hilf uns jetzt und in der Stunde unseres Todes!“ Das ist unsere Bitte an Maria. Wir werden den Tod bewältigen, wir werden den Tod bestehen, wenn wir das Leben bestanden haben. In Gott hinein sterben kann der, der in Gott hinein gelebt hat. Wer den Mut hat, in Gott hinein zu leben, der wird auch die Kraft finden, in Gott hinein zu sterben. Niemand lebt sich selbst und niemand stirbt sich selbst. Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder sterben, wir sind des Herrn.

Amen.

 

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