Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
5. Mai 1991

Über falsche Christusbilder der Geschichte

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Was dünkt euch von Christus? Wessen Sohn ist er? Das war das Programm, das wir uns gestellt haben für die kommenden Sonntage. An Christus hängt buchstäblich alles. Was wir von Christus denken, das ist der Inhalt unseres Glaubens, das ist der Inhalt unserer Religion, das ist der Inhalt unserer Hoffnung. Wenn wir nun in die Geschichte schauen, dann sehen wir, daß die Menschen sich das unterschiedlichste über Christus zusammengereimt haben. Am vergangenen Sonntag haben wir die altchristlichen Irrlehren über Christus kennengelernt: Arianismus, Nestorianismus, Monophysitismus. Diese Irrlehren sind im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder hochgekommen, sie dauern bis in die Gegenwart an. Der fruchtbare Boden für diese Irrlehren ist der Protestantismus. Der Protestantismus ist ja entstanden als eine Abfallbewegung von der katholischen Kirche, und das Gesetz, nach dem er angetreten ist, muß sich an ihm fortwährend erfüllen. Immer neue Abspaltungen erfolgten, immer neue Christusbilder wurden vorgelegt, allesamt falsch, von der Wahrheit, von der einen Wahrheit abweichend.; denn die Wahrheit ist eine, der Irrtum ist tausendfältig.

Bereits im 16. Jahrhundert traten die Sozinianer auf. Jesus, so lehrten sie, ist ein bloßer Mensch, aber ausgezeichnet durch jungfräuliche Geburt, Heiligkeit des Lebens und die Wunderkraft. In der Aufklärungszeit, die mit Lessing anhebt, wird Christus jedes göttlichen Zuges entkleidet und ein Christusbild entworfen, das in die Reihe der prophetischen Gestalten der ganzen Weltgeschichte sich nahtlos einfügt. Die Aufklärung hat verschiedene Entwürfe von Christus vorgelegt. Den einen oder anderen will ich nennen. Hermann Samuel Reimarus, Professor in Hamburg, bezeichnete Jesus als einen der größten Betrüger der Weltgeschichte. Durch Lug und Trug ist nach ihm das Christentum entstanden. Der Betrug fing an mit Jesus und wurde fortgesetzt von den Aposteln und überdauerte die Zeiten bis heute. Es sind sogar Leute aufgetreten, die die Existenz Christi leugneten. In der weiteren Fortführung der Aufklärung, so im deutschen Idealismus, wurde Christus als eine Schöpfung des Gesamtbewußtseins der Gemeinde ausgegeben – Fichte, Hegel, David Friedrich Strauß. Diese Männer haben Christus eine gewisse menschliche Hoheit zugebilligt. Sie sagten, er sei die höchste Stufe des Sich-Einsfühlens mit dem Göttlichen – die höchste Stufe des Sich-Einsfühlens mit dem Göttlichen, also nicht etwa selbst göttlich, sondern rein psychologisch ein gottinniger Mensch, der sich mit Gott eins wußte. Und diese Lehre ist nach wie vor heute im liberalen Protestantismus herrschend. Nach dem liberalen Jesusbild muß man unterscheiden zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens. Was wir in den Evangelien vor uns haben, das ist ganz ungeschichtlich, so sagen diese Leute. Wir haben darin nur das idealisierte Christusbild, das die begeisterten Anhänger von Christus sich geschaffen haben. Sie haben Jesus aus einem bloßen Menschen zu Gott erhöht. Das geschah in der Weise, daß, als das Christentum, von Palästina in die hellenistische, heidnische Welt übertrat, die dort vorfindlichen Kategorien, wie Gott, Sohn Gottes, Herr, Heiland, auf Christus übertragen wurden. Das sind also Schöpfungen des Mythos, der von den Mysterienreligionen des Heidentums auf das Christentum angewandt wurde.

Man denkt sich die Entstehung des Glaubens folgendermaßen. Christus war zweifellos ein gottverbundener Mensch, der Gott als seinen Vater liebte, und weil er wie kein anderer Gott geliebt hat, Gott als seinen Vater geliebt hat, deswegen hat Gott in ihm gewirkt. Nicht etwa Jungfrauengeburt, nicht Menschwerdung, nicht Auferweckung kommen in Frage, sondern Jesus, ein gottinniger Mensch von Gottes Liebe, an den sich andere angelehnt haben. So ist die Gemeinde entstanden. Seine Gottesliebe, seine Gottinnigkeit hat andere entzündet, und auf diese Weise ist seine Gemeinde entstanden, die Gemeinde der Jesusanhänger. Die Wurzel des Christusbildes des Evangeliums ist also die Begeisterung der Anhänger. Sie haben es nach seinem Tode nicht verkraften können, daß sein Leben zu Ende sein sollte, und sind deswegen subjektiven visionären Schauungen erlegen, die sie als seine Auferstehung ausgaben und die dann dazu geführt haben, daß man Jesus in den Rang einer Gottheit erhob.

Die Christusbilder dieser liberalen sogenannten „kritischen“ Schule sind bis heute im protestantischen Bereich herrschend. Aber ich würde nicht darüber sprechen, wenn nicht seit etwa 25 Jahren, also seit dem großen Zusammenbruch in unserer Kirche, diese Gedanken auch im katholischen Bereich Nachahmung gefunden hätten. Ich würde davon schweigen, wenn ich nicht Dutzende von Büchern sogenannter katholischer Autoren angeben könnte, in denen diese falschen Vorstellungen repristiniert werden. Man kann diese Vorstellungen in dem einen Satz zusammenfassen: Nicht die Gottheit Christi war der Grund für seine Verehrung, sondern die Verehrung hat die Gottheit Christi geschaffen; sie ist also eine Illusion, eine Täuschung, etwas Irreales, und damit bricht der gesamte christliche Glaube zusammen. Darin hat Lessing recht gesehen: Man kann nicht Jesus weiter religiös verehren, wenn man ihm die Gottheit raubt; das hat Lessing mit Recht hervorgehoben, insofern war er konsequent. Vor allem bemüht man sich zu erklären, wie diese Vergottung im Bereich des Römerreiches vor sich gehen konnte. Man sagt, die Vergottung von Menschen, von Kaisern, von Königen, von Helden, von Heroen war damals üblich, und so hat man es auch mit Jesus gemacht. Man hat ihn vergottet, wie man Nero oder Domitian oder Caligula, die römischen Kaiser, vergottet hat.

Gibt es ,  meine lieben Freunde, auf diese umstürzenden Hypothesen eine Antwort, die vor unserer Vernunft bestehen kann? Wenn wir auf den Kaiserkult, also auf die religiöse Verehrung der römischen Kaiser, schauen, dann müssen wir folgendes sagen: Der Kaiserkult kam aus dem mesopotamischen, syrischen Raum über den Hellenismus nach Rom. Er war eine Weise, wie man die Ehrfurcht und den Gehorsam der Untertanen gegenüber dem Kaiser begründen und stützen wollte. Das zeigt sich daran, daß je unruhiger die Ostprovinzen waren, um so stärker der Kaiserkult betont wurde. Er war eine politische Angelegenheit. Es hat erhabene Kaiser gegeben, die sich gegen diese Vergottung gewehrt haben. Tiberius, Marc Aurel, Vespasian, diese Kaiser haben die göttliche Verehrung abgelehnt, aber andere haben sie aus eitler Selbstgefälligkeit oder aus politischer Berechnung geduldet. In den gebildeten Schichten des römischen Reiches hat niemand den Kaiserkult ernst genommen. Die gebildeten Menschen wußten, das ist eine höfische Form. Zum Kaiser betet man nicht; der Kaiserkult hat keine religiöse Kraft, er flößt weder Furcht noch Liebe ein, sondern er ist eine politische Angelegenheit. Die Tempel der Kaiser sind keine Gebetsstätten, sondern staatliche Weihestätten. Das haben die Gebildeten gewußt und auch ausgesprochen. Wir haben Zeugnisse dafür bei den Geschichtsschreibern und bei den Rhetoren. Also von daher konnte eine Übertragung auf Jesus von Nazareth nicht erfolgen. Wenn man den Kaiserkult gar nicht ernst genommen hat, weil man wußte, das ist nur eine Redeweise, die der Wirklichkeit nicht entspricht, deswegen konnte man ihn nicht auf Jesus von Nazareth übertragen.

Das Alte Testament, aus dem ja die Apostel und die ersten Anhänger Jesu lebten, wies jede göttliche Verehrung von Menschen strikt ab. Eine Vergottung von Menschen galt im Alten Testament als Götzendienst. Von daher konnten also die Jünger und die Apostel die Vergottung Jesu bestimmt nicht beziehen. Und wir haben Zeugnisse, daß die ersten Jünger Jesu, daß seine Anhänger jede Vergottung von Menschen entschieden abgewiesen haben. Drei Beispiele: Der König Herodes Agrippa I., der durch raffinierte Politik das Reich seines Großvaters Herodes des Großen in seiner Hand vereinigte, lebte im Unfrieden mit den Bewohnern von Tyrus und Sidon im heutigen Libanon. Die Bewohner von Tyrus und Sidon wollten den König beschwichtigen, sie bekamen nämlich ihre Lebensmittel  aus seinem Lande. Deswegen sandte sie Männer zu ihm, eine Gesandtschaft, und es wurde ein Empfang gegeben, wie man heute sagen würde, und bei diesem Empfang legte Herodes das königliche Prachtgewand an, nahm auf der Tribüne Platz und hielt eine Rede. Das Volk rief ihm zu: „Eines Gottes Stimme und nicht eines Menschen!“ Sogleich schlug ihn der Engel des Herrn, weil er nicht Gott die Ehre gegeben hatte. Von Würmern zerfressen gab er seinen Geist auf. Hier sieht man, wie die werdende Christenheit eine Vergottung von Menschen beurteilte: als einen Frevel, einen schrecklichen Frevel, der augenblicklich die Ahndung durch Gott verdient. Die Strafe für diesen Frevel war der Tod des Königs Herodes Agrippa I. Das geschah im Jahre 44, also wenige Jahre nach Tod und Auferstehung Christi. Noch früher liegt eine andere Begebenheit. Als nämlich Petrus nach Cäsarea kam, da besuchte er den Hauptmann Cornelius. Der Hauptmann Cornelius ging ihm entgegen und fiel ihm zu Füßen. Er machte die Proskynesis. Dieses Zu-Füßen-Fallen, diese Proskynesis ist aber im griechischen und im persischen Kulturkreis das Zeichen für die Anbetung. Er sah also in Petrus ein höheres Wesen. Was hat Petrus getan? Petrus hob ihn auf mit den Worten: „Steh auf, auch ich bin ein Mensch.“ Er weist also entschieden eine Verehrung, wie sie nur Gott bezeugt werden kann, von sich ab. Er will nichts wissen von einer göttlichen Verehrung von Menschen. Wie könnte er dann eine solche göttliche Verehrung auf den Jesus von Nazareth übertragen, wenn er nicht durch dessen Erscheinung überzeugt war, daß er der menschgewordene Gott ist?

Ein dritter Vorfall spielte in den Jahren 37 bis 41. Er ereignete sich in Lystra, das ist in der heutigen Türkei. In Lystra traten Paulus und Barnabas auf. Sie heilten dort einen Lahmen. Darüber gerieten die Leute außer sich. Als die Scharen sahen, was Paulus getan hatte, erhoben sie ihre Stimme und riefen auf lykaonisch: „Götter in Menschengestalt sind zu uns herabgekommen!“ Den Barnabas nannten sie Zeus, den Paulus aber Hermes, weil er der Wortführer war. Der Priester am Tempel des Zeus vor der Stadt brachte Stiere und Kränze an das Tor und wollte opfern samt dem Volke. Da die Apostel Barnabas und Paulus das hörten, zerrissen sie ihre Kleider, sprangen unter das Volk und riefen: „Ihr Leute, was tut ihr denn da? Auch wir sind sterbliche Menschen wie ihr. Wir verkünden euch die Heilsbotschaft, daß ihr euch von diesen nichtigen Götzen zum lebendigen Gott bekehren sollt, der Himmel und Erde und das Meer gemacht hat und alles, was darin ist.“ Ein erneuter Beweis dafür, daß die Jünger Jesu jeden Versuch einer Apotheose, das ist das griechische Wort für Vergottung,  strikt ablehnten. Es war für sie etwas Unfaßbares, etwas Unmögliches, Menschen göttliche Ehre zu erweisen.

Wenn sie das aber an Jesus von Nazareth taten, dann nicht deswegen, weil sie in ihm einen Menschen, der würdig ist, vergottet zu werden, sahen, sondern weil sie durch seine Erscheinung, durch sein Selbstbewußtsein, durch sein Auftreten, durch sein Wort und sein Werk davon überzeugt worden waren, daß hier nicht ein bloßer Mensch am Werke ist, sondern Gott in menschlicher Gestalt. Sie sind überwältigt worden von der Wirklichkeit Jesu. Nicht ihr Glaube hat den Jesus von Nazareth zum Christus, zum Erhöhten, zum Gottessohn gemacht, sondern weil sich Jesus als der leibhaftige, als der wirkliche Gottessohn offenbarte, deswegen haben sie ihm die Ehre erwiesen, auf die er Anspruch erheben konnte. Nicht der Glaube hat die Gottheit Christi erzeugt, sondern der Glaube war die Antwort, die einzige richtige, die einzige sachgerechte Antwort auf sein göttliches Wesen. „Wir haben geglaubt und erkannt, daß du der Sohn Gottes bist, der Heiland der Welt.“

Amen.

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