Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
4. Juni 2001

Der Geist der Wahrheit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Für die ganze kommende Weltgeschichte und Kirchengeschichte gilt das Wort: „Ihr werdet mich nicht mehr sehen, denn ich gehe zum Vater.“ Das Licht, das in die Welt gekommen ist, tritt in die Unsichtbarkeit zurück; es wird dunkel sein in der Welt. Derjenige, der das Licht in die Welt gebracht hat, ja, der das Licht der Welt war, ist in die Herrlichkeit des Vaters zurückgekehrt, und so wird es in dieser Welt finster sein. Die Menschen werden dieses gütige Antlitz nicht mehr sehen, sie werden diese wundertätigen Hände nicht mehr spüren, sie werden diese kostbaren Worte nicht mehr vernehmen, denn er geht zum Vater. In aller Bangigkeit, in aller Ratlosigkeit, in allen Ängsten werden sie Ausschau halten nach dem Antlitz Jesu, und sie werden es nicht mehr sehen. Es ist dunkel geworden in der Welt, dunkel und schweigsam in den Höhen, still, wie es vorher war. Freilich hat es Menschen gegeben, die von Gott gekündet haben, die als Führer des Volkes sich erwiesen haben, die Hirten Moses und Aaron, die Propheten, und auch im Neuen Bunde gibt es Menschen, die als Hirten, Propheten und Lehrer aufgestellt sind. Aber das sind alles Menschen, und sie sind schwach und blind, wie die Menschen sind. Ohne den Geist, ohne den Heiligen Geist vermögen sie nichts.

Aber da erhebt sich die tröstliche Verheißung: „Ich werde ihn euch senden. Wenn ich zum Vater gehe, werde ich ihn euch senden, und er wird bei euch sein und bei euch bleiben.“ Nicht als ob dadurch die Finsternis aufgehoben wäre, nicht als ob dadurch die Kämpfe ein Ende finden würden. Das Gegenteil ist der Fall, denn dieser Geist ist der Geist der Wahrheit, und die Wahrheit ist scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Die Wahrheit ist wie ein brausender Sturm und wie ein verzehrendes Feuer. Und deswegen entzündet der Geist die heftigsten Kämpfe, die auf dieser Welt möglich und denkbar sind.

Der Geist wird nämlich die Welt überführen, daß es eine Sünde gibt. Also nicht bloß Schwäche, nicht bloß Leichtsinn, nicht bloß Wahn, sondern Sünde, etwas, was nicht sein soll, was nicht sein darf, was gegen Gott streitet, was gegen das Sein und die Wirklichkeit gerichtet ist. Es gibt eine Sünde, nicht nur Natur und Naturgesetze, sondern eine Schuld. Das wird der Geist der Welt beweisen. Und diese Sünde wird in der Wurzel und im tiefsten der Unglaube sein. „Weil sie nicht an mich geglaubt haben.“ Dieses Wort wischt das dumme Gerede zurück, als ob die Menschen gewissermaßen mit größter Sehnsucht vor den Pforten der Kirche stünden, als ob sie nur darauf verlangten, aus anonymen Christen zu wirklichen, bekennenden Christen zu werden. Das ist ja nicht wahr! „Sie haben nicht an mich geglaubt, und sie wollen auch jetzt nicht an mich glauben.“ Das ist ihre Hauptsünde, das ist ihre Wurzelsünde, und aus dieser Sünde quellen alle anderen Sünden hervor. Denn wer nicht glaubt, der wird auch die Gebote dessen nicht halten, an den er glauben soll. Er wird also in Laster und Torheit und Schuld verfallen, weil er nicht glaubt. Der Geist wird sie überführen, welche Wucht die Sünde hat. „Du hast noch nicht begriffen die Wucht der Sünde“, schreibt einmal der heilige Anselm von Canterbury. „Du hast sie noch nicht begriffen, die Wucht der Sünde.“ Aber daß es dazu kommt, daß die Menschen die Wucht der Sünde verstehen, dazu ist der Heilige Geist am Werk.

Der Heilige Geist wird die Welt überführen, daß es eine Gerechtigkeit gibt, eine Gerechtigkeit, weil der von uns gegangen ist, der das Erbarmen in Person war, weil der von uns gegangen ist, der gesagt hat: „Mich erbarmt des Volkes.“ Weil der von uns gegangen ist, der gesagt hat: „Vater, verzeih‘ ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“ Weil der von uns gegangen ist, der um seine Stadt und um sein Volk geweint hat. So wird es scheinen, als ob das Erbarmen ausgelöscht sei, als ob nur noch die Gerechtigkeit über dieser Welt walten würde.

Je mehr die Sünde ansteigt, um so mehr wachsen die Leiden der Sünder. Die Gerechtigkeit besteht darin, daß die Sünde ihre Strafe in sich selbst trägt, daß die Sünde eine Hölle begründet. Darin besteht die Gerechtigkeit. Das Meer der Sünde wird ungeheuerlich ansteigen, und in dieses Meer der Sünde werden die Blitze der Gerechtigkeit und des Zornes Gottes einschlagen. Das Anwachsen der Schuld ist begleitet von einem Wachsen der göttlichen Zornesgewalt. So wird es sein. Der Geist wird beweisen, daß es eine Gerechtigkeit gibt, und diese Gerechtigkeit liegt darin, daß alle, die den Willen Gottes mißachten, durch diese Mißachtung an ihrem Fleisch und an ihrem Geist gestraft werden.

Der Geist wird der Welt beweisen, daß es ein Gericht gibt, denn der Fürst dieser Welt ist schon gerichtet. Der Fürst dieser Welt ist der Satan, und seine Trabanten sind Augenlust, Fleischeslust und Hoffart des Lebens. Das Gericht über diesen Fürsten ist in der Ewigkeit schon ergangen. Der Urteilsspruch lautet: Alles, was Sünde, Schuld, Verbrechen und Torheit ist, das ist wertlos, das ist sinnlos, das ist zwecklos, und alles, was Güte und Erbarmen und Reinheit und Hingabe ist, das ist wertvoll und kostbar und groß in den Augen Gottes. Das ist der Urteilsspruch, der ergangen ist und den der Geist der Welt unterbreitet.

Der ist von uns gegangen, der das Erbarmen in Person war. Und deswegen wird es dunkel sein alle Jahrhunderte und Jahrtausende, die nach der Himmelfahrt Jesu vergangen sind. Die Jünger werden in Bangigkeit und in Ängsten der furchtbaren Gewalten des göttlichen Zornes inne werden. Sie werden zittern und zagen, wie der Herr am Ölberg gezittert und gezagt hat, weil sie den Herrn nicht mehr sehen, weil sie sein tröstendes Wort nicht mehr hören: „Fürchtet euch nicht!“ Aber der Geist wird mit den Jüngern sein. Er wird ihnen helfen, er wird sie stärken, er wird sie stützen. Der Geist wird bei ihnen sein und nicht mehr von ihnen weichen. „Ich hätte euch noch vieles zu sagen, was ihr jetzt noch nicht ertragen könnt, aber der Geist wird es euch sagen zu der Stunde, da ihr es braucht, daß ihr alles ertragen könnt.“ Hört ihr es? Es braucht eine Tragkraft! Man muß tragen können, tragen, tragen! Hört ihr es? Man muß wie ein Lasttier tragen können, ohne die Last abzuwerfen, ohne darunter zusammenzubrechen. Tragen muß man können, und der Geist weiß, was ein Mensch tragen kann. Er mißt die Last ab und legt sie dann auf die Schultern. Nicht zu jeder Stunde kann man alles ertragen. Es gibt Ereignisse, es gibt Geschehnisse, es gibt Menschen, es gibt Widerfahrnisse, die kann man nur zu bestimmten Zeiten ertragen, aber der Geist wählt die Zeiten aus, da man sie ertragen kann. Und wie im Kleinen, so ist es auch im Großen. Die Kirche kann nicht zu allen Zeiten alles ertragen. Äußere Verfolgungen, Gefahren: Das kann nur ein Geschlecht von Kastakombenchristen ertragen. Innere Erschütterungen, Zersetzungserscheinungen, Zerfallserscheinungen: Das kann nur ein Geschlecht von glühenden Seelen ertragen, von Menschen, die im Heiligen Geiste leben, von Heiligen, die von einer ungeheuren Tragkraft und Opferkraft erfüllt sind.

Es kann sein, daß am Ende der Zeiten die Fluten des Unheils so hoch schlagen, daß selbst die Auserwählten den Mut verlieren möchten. Es kann sein, daß, wenn die Abenddämmerung der Kirche und der Kirchengeschichte gekommen ist, daß dann die Angriffe von außen und die Zerfallserscheinungen im Inneren der Kirche ein Maß annehmen, daß selbst die Guten verzweifeln möchten. Aber dann wird der Heilige Geist zur Stelle sein und sie aufrichten und sie trösten und sie stärken. Er wird machen, daß sie Menschen werden, die all diese Wirrsale ertragen können. Er wird dafür sorgen, daß sie nicht kleinliche und ängstliche Opportunisten sind, sondern Menschen, die von Ewigkeitsgedanken erfüllt sind, die wissen, daß ihnen die Zeit und die Ewigkeit gehört, Menschen, die wissen, daß letztlich nicht die Torheit und die Qual und das Laster siegen, sondern daß im letzten die Güte und die Treue, die Reinheit und das Erbarmen, die Hingabe und die Treue siegen. Das wird der Geist in ihnen bewirken.

Amen.

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