6. August 2006
Das Geschenk des übernatürlichen Lebens
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben uns den Wert des natürlichen Lebens am vergangenen Sonntag vor Augen geführt. Gott schützt es mit seinem Gebot: „Du sollst nicht töten!“ Aber das natürliche Leben ist nicht das einzige, was uns gegeben wurde. Es gibt auch ein übernatürliches Leben, ein Leben der Gnade, der Gottesfreundschaft, das uns in der Taufe in die Seele eingesenkt wurde und das seitdem, so hoffen wir, unaufhörlich in uns gewachsen ist. Von diesem übernatürlichen Leben wollen wir heute erstens den Wert, zweitens die Gefährdung und drittens das Wachstum bedenken.
Der Wert des übernatürlichen Lebens überragt den des natürlichen Lebens. Niemand anders als unser Herr Jesus Christus hat diesen Wert eindeutig uns gelehrt: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele?“ Was nützt es, wenn er reich wird? Was nützt es, wenn er Erfolg hat? Was nützt es, wenn er die Karriereleiter emporsteigt, wenn er dabei das göttliche Leben, das Gnadenleben in seiner Seele beschädigt oder gar verliert?
Das irdische Leben geht zu Ende, 30, 50, 80, manchmal 90 Jahre. Aber ein Ende kommt bestimmt. Und was ist dieses kümmerliche irdische Leben gegenüber dem ewigen Leben! Die Ewigkeit ist ja nicht eine Summe von Jahren, die angehäuft werden. Es ist eine andere Qualität. Deswegen überragt das übernatürliche Leben das irdische Leben. Am Leben der Seele hängt eine ganze Ewigkeit! Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber Schaden leidet an seiner Seele? Es steht das übernatürliche Leben unendlich höher als das irdische Leben, und wir haben deswegen eine gesteigerte Verantwortung für dieses Leben. Die Sorge, die wir für das übernatürliche Leben verwenden, muss die Sorge für das natürliche Leben weit überragen.
Denn zweitens das übernatürliche Leben ist gefährdet. Der Neid des Teufels gibt keine Ruhe, sondern sucht das übernatürliche Leben uns zu rauben. Er möchte dieses Glück des Paradieses wie den ersten Menschen zerstören. Das tut er durch die Verführung. Die Verführung besagt, dass ein Mensch einen anderen in die Sünde hineinführt. Das ist der schlimmste Teufelsdienst, den es geben kann, einen Menschen in die Sünde hineinführen, oft mit schmeichelnden Worten und mit schönen Reden, mit freundlicher Miene. Und so werden unschuldige Kinder, leichtgläubige Jugendliche und unvorsichtige Erwachsene in die Verführung hineingeführt. Sie folgen dem Lockruf und sind plötzlich in einem Abgrund erwacht. „Ein böser Gesell führt hundert in die Höll!“ So sagt der Volksmund. Und ein anderes Wort lautet: „Man wollte gefallen, man hat gefallen, man ist gefallen.“ Ja, das ist der Weg der Verführung.
Ich war viele Jahre in der großen Stadt München. Vor 50 Jahren lernte ich dort einen ungarischen Priester kennen. Er erzählte mir, dass er fortwährend von Prostituierten angesprochen wird. Meine lieben Freunde, ich war, wie gesagt, viele Jahre in München; ich bin nicht ein einziges Mal von Prostituierten angesprochen worden. Das ist die Verführung natürlich. Aber man geht eben nicht dahin, wo man verführt werden kann.
Die zweite Weise, wie der Teufel seinen Dienst verrichtet, ist das Ärgernis. Das Ärgernis besteht darin, dass man eine Tat setzt, eine Tat vollbringt, die anderen Anstoß ist und Anreiz zur Sünde bietet. Anstoß zur Sünde und Anreiz zur Sünde wird durch das Ärgernis geboten. Hier macht man sich also schuldig an fremden Sünden. Das Ärgernis ist tausendfältig, meine lieben Freunde. Wenn der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem protestantischen Kirchentag in Hannover das Abendmahl nahm, da gab er Ärgernis! Und wenn der ehemalige Bundeskanzler Kohl jetzt mit einer Lebensgefährtin herumzieht, ohne verheiratet zu sein, dann gibt er Ärgernis!
Viele Sünden kann der Mensch nicht allein begehen; er muss einen Helfer dazu haben. Wenn er auch den Willen zur Sünde von sich aus hat, ohne Mithilfe eines anderen würde sie nicht zustande kommen. Deswegen gibt es viele Weisen, wie man zur Sünde anderer mithelfen kann: durch Aufmuntern: „Traust dich ja nicht.“ So haben wir als Jugendliche immer wieder gehört: „Du traust dich ja nicht“, nämlich eine böse Tat zu setzen, um den anderen zu dieser Tat zu bewegen. Oder loben wegen der bösen Tat, unterstützen bei der bösen Tat, schweigen zu der bösen Tat! „Wehe dem Menschen, durch den Ärgernis kommt“, sagt der Herr, „es wäre ihm besser, es würde ihm ein Mühlstein an den Hals gehängt und er würde in die Tiefe des Meeres versenkt.“ Das heißt, er hätte es besser, wenn er vorher sterben würde, bevor er Ärgernis gegeben hat. Ärgernis und Verführung sind Seelenmord, Teufelswerk. Der Teufel ist ein Menschenmörder von Anbeginn, und er mordet das Kind Gottes, er mordet den Bruder Christi, er mordet den Träger des Heiligen Geistes. Das ist die Verführung eines einzigen Menschen.
Aber dabei bleibt es ja nicht, denn meistens wird er Verführte selbst wieder zum Verführer. Er hat nämlich kein Ruhe, bis die anderen nicht auch so sind, wie er ist. Und wenn er den anderen verführt, dann ist das wie ein Wellenring, den ein Stein erzeugt, wenn man ihn ins Wasser wirft. Er zieht immer weitere Kreise, bis er sich am Ufer bricht. Ähnlich ist es mit der Verführung. Man hat ausgerechnet, dass, wenn ein Mensch einen anderen im Jahre, in einem Jahre, verführt, dass nach 25 Jahren 16.800.000 verführte Menschen vorhanden sind. Wie kann man das wieder gut machen? Im Jahre 1088 starb Beringar von Tours. Er war ein Gegner der heiligen Wandlung und des Altarsakramentes, hatte jahre-, jahrzehntelang die kirchliche Lehre bekämpft. Aber 10 Jahre vor seinem Tode hat er sich bekehrt. Und auf dem Sterbebett sagte er: „Bald werde ich vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Was meine Sünden anbetrifft, bin ich ruhig, denn ich habe Buße getan und hoffe auf Gottes Barmherzigkeit. Aber was die Sünden der anderen betrifft, die ich verführt habe, da bin ich in großer Sorge und fürchte, verloren zu gehen.“ Ja, die können wir nie mehr zurückholen, diese Sünden; die können wir nie mehr einholen. Wir können versuchen, sie gutzumachen durch Gebet, durch Beispiel, durch Aufklärung des anderen, den wir verführt haben. Aber eine völlige Wiedergutmachung ist ausgeschlossen.
Verführung und Ärgernis können nur wirken, wenn wir ihnen Gelegenheit bieten, zu wirken. Zur eigenen Sünde wird eben die Verführung erst, wenn man mit dem eigenen freien Willen sich in die Gefahr hineinbegibt. Wer leichtsinnig und grundlos sich in die nächste Gelegenheit zur Sünde begibt, begeht schon eine schwere Sünde. Das Aufsuchen, das grundlose Aufsuchen der nächsten Gelegenheit zur Sünde ist schon eine schwere Sünde. Deswegen müssen wir immer wieder warnen: Meide die Gelegenheit! Die Sünde ist leicht zu meiden, wenn man die Gelegenheit meidet. „Die Gelegenheit macht Diebe.“ „Wer sich in die Gefahr begibt, der kommt darin um“, sagt die Heilige Schrift. Deswegen warnt der Herr so vor der Gelegenheit, mahnt er uns, rücksichtslos mit uns selbst zu sein, um die Gelegenheit zu überwinden, um die Unholde in der eigenen Brust niederzuringen: „Wenn deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, hau sie ab! Es ist dir besser, lahm oder verstümmelt in das Leben einzugehen, als mit zwei Händen oder zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden. Wenn dein Auge dich ärgert, reiß es aus! Es ist dir besser, einäugig in das Leben einzugehen, als mit zwei Augen in das ewige Feuer geworfen zu werden.“ Wir haben, meine lieben Freunde, einen unermesslichen Schatz zu hüten und sollen ihn nicht verlieren.
Im Gegenteil, und das ist das Dritte, was wir bedenken wollen: Das übernatürliche Leben soll wachsen. Wir sollen im Innenleben Gottes reifen und vorankommen. Wir sollen nicht stehen bleiben oder zurückfallen. Nein, wir brauchen die warmen Strahlen der Liebe Gottes, um im geistlichen Leben zu wachsen. Wir brauchen das Atmen der Seele im Gebet. Wir brauchen die heiligen Sakramente, die uns die Gnade vermittelt. Und wir brauchen das Brot des Lebens in der heiligen Eucharistie. Nur so können wir als lebendige Rebzweige am Weinstock Christi wachsen.
Und ist unsere Seele krank geworden, dann gibt es ein Heilmittel. Der Herr hat nach dem Schiffbruch eine zweite Planke zur Verfügung gestellt, und dieses wunderbare Geheimnis ist das Bußsakrament. O, meine lieben Freunde, kein Geringerer als der Irrlehrer Martin Luther hat über die Beichte gesagt, dass es ein herrliches und heiliges Ding ist um das Beichtsakrament. Es ist also möglich, aus dem Verlust und aus der Schwächung des geistlichen Lebens sich zu erheben, indem wir unsere Sünden bereuen, bekennen und vom Priester die Freisprechung, die Lossprechung der Sünden erhalten. Wir sollen unser übernatürliches Leben zum Wachstum bringen, bei uns und bei anderen. Denn wir sind gehalten, auch dem Nächsten in seinem übernatürlichen Leben zu dienen. Er ist ja Kind Gottes wie wir, er ist Bruder Christi wie wir, er ist Geistträger wie wir. So sollen wir also Sorge tragen um das göttliche Leben in den Seelen unserer Brüder. Wir sollen apostolisch wirken, so wie die Apostel immer bedacht waren, das Evangelium auszubreiten, die Welt für Christus zu gewinnen. So sollen wir apostolisch wirken, indem wir uns unserer Brüder annehmen.
Das wichtigste Apostolat, aber nicht das einzige, ist das Gebet. Beten für die Menschen, die uns anvertraut sind, die uns fern stehen, für die Gefährdeten, für die Versuchten, für die Verführten. Beten, das ist ein ungeheures Apostolat, das wir ausüben können. Und wir können dieses Apostolat verdoppeln, indem wir zum Gebet unsere Leiden fügen, indem wir die Leiden aufopfern für die Gestrandeten, für die Gefährdeten, für die Jugend, für die Priester. Dadurch wird das Gebet noch kostbarer und noch wirksamer. Durch eine solche Meinung wird unser Gebet inniger und herzlicher.
Zum Gebet muss aber auch das Wort treten. Wir haben auch eine Pflicht, die Hoffnung, von der wir leben, zu bekennen. Wir müssen den Menschen Rechenschaft geben können für unsere Hoffnung. Wir dürfen nicht schweigen. Wir müssen das Geschwätz durchbrechen, indem wir Zeugnis legen. Das besagt, dass wir die Menschen aufklären, was Gott und was die Kirche bedeutet. Vielleicht haben Sie gesehen, dass am Eingang von Budenheim der ehemalige Theologieprofessor Hubert Mynarek ein Plakat aufgestellt hat: „Spart euch die Kirche!“ Gegenüber vom Minimal, da steht dieses Plakat: „Spart euch die Kirche!“ Lesen Sie mal, was draufsteht. Da haben wir eine Pflicht, gegenüber solchen Anwürfen die Menschen aufzuklären, ihnen die Wahrheit zu verkünden und sie auch zu mahnen. Mahnen ist ein schwerer Dienst, und Zurechtweisen ist ein noch schwererer Dienst, aber er ist uns auferlegt, und wir dürfen uns davon nicht dispensieren.
Das Wort ist wichtig, ja unerlässlich. Aber häufig wirksamer ist das Beispiel. „Laßt euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater preisen, der im Himmel ist!“ Worte begeistern, Beispiele reißen mit. Aus Büchern werden die wenigsten Menschen zum Glauben finden, aber durch das Beispiel eines tadellosen Lebens, eine gottinnigen Lebens können Menschen aufmerksam gemacht werden auf das hohe Gut des Glaubens und der Gnade. „O könntest du begreifen“, schreibt einmal das Buch von der Nachfolge Christi, „wieviel du selbst an innerem Frieden gewinnen und was für große Freude du anderen bereiten würdest, wenn du von ganzem Herzen gut sein und recht tun möchtest!“ Ich wiederhole noch einmal dieses ergreifende Wort. „O könntest du begreifen, wieviel du selbst an innerem Frieden gewinnen und was für große Freude du anderen bereiten würdest, wenn du von ganzem Herzen gut sein und recht tun möchtest!“
Wenn wir uns so verhalten, meine lieben Freunde, sind wir Mitarbeiter Gottes, und eine höhere Berufung kann es nicht geben, als Mitarbeiter Gottes zu sein. Wir säen jetzt und hoffen auf die Ernte. Wir dürfen uns dann auch bei der Ernte freuen. Welches Glück wird es für uns sein, wenn wir in den Himmel einziehen und uns Menschen entgegenkommen und sagen: „Ich bin durch dich besser und heiliger geworden.“ Wie trostvoll ist ein Sterben, wenn man diese Welt verlassen muss, wenn man sich sagen kann: Durch mich sind andere Menschen besser geworden. In der Welt ist’s dunkel, leuchten müssen wir, du in deiner Ecke, ich in meiner hier.
Amen.