9. Oktober 1994
Wunden am mystischen Leib Christi
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Eine der ergreifendsten Andachten unseres katholischen Glaubens ist die Verehrung der heiligen fünf Wunden. Die Soldaten, die den Herrn ans Kreuz nagelten, haben ihm die Hände und die Füße durchbohrt. Das sind vier Wunden, die sie ihm geschlagen haben. Der Soldat, der sein Herz durchstieß, brachte ihm die fünfte Wunde bei. So sind es die heiligen fünf Wunden, die wir verehren. Wir verehren sie, weil wir darin den Preis unserer Erlösung erkennen. „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Er trug unsere Schmerzen; um unserer Missetaten willen lag die Strafe auf ihm. Durch seine Wunden wurden wir geheilt.
Die Verehrung der heiligen fünf Wunden hat sich in vielen Gebeten und Andachten der Kirche niedergeschlagen. Im Abendgebet „Bevor ich mich zur Ruh' begeb'„ heißt es ja am Schluß: „In deine Wunden schließ' mich ein, dann schlaf' ich ruhig, keusch und rein.“ Nach der heiligen Kommunion beten wir ja gern das Gebet „Seele Christi, heilige mich!“ Da heißt es: „In tua vulnera absconde me“ – verbirg in deine Wunden mich. Warum denn verbergen? Ja, damit die Gefahren, damit die Bedrohungen gegen uns nicht ankönnen; gegen sie wollen wir geborgen und verborgen sein in den Wunden unseres Herrn. In meiner Heimat singt das gläubige Volk ein ergreifendes Lied. Das beginnt so: „Herr, ich küsse deine Füße, deiner heiligen Hände Mal.“ Auch hier Verehrung der heiligen fünf Wunden. Besonders, wenn es heißt, Abschied zu nehmen von einem Menschen, beten wir gern die Andacht von den heiligen fünf Wunden. Noch vor dreißig, vierzig Jahren war bei fast allen Begräbnissen zu hören: „Durch die heilige Wunde deiner rechten Hand, erbarme dich seiner“ oder „ihrer“, je nachdem, ob es ein Mann war oder eine Frau, die man zu Grabe trug.
Die Verehrung der heiligen fünf Wunden geht auf den realen Leib Christi, also auf jenen Leib, den er von der Jungfrau Maria empfangen hat, mit dem er durch Galiläa und Judäa gewandert ist, den er ans Kreuz getragen hat und der in verklärter Weise im Himmel lebt. Aber Christus hat auch einen mystischen Leib. Sein mystischer, sein geheimnisvoller Leib, mit dem er sich gleichsam ausweitet, ist die Kirche. Und dieser mystische Leib trägt auch Wunden, und es sind Wunden, die ihm die eigenen Angehörigen geschlagen haben. Es sind vor allem fünf Wunden, an denen der mystische Leib Christi krankt. Der Herr wollte, daß seine Kirche, daß sein mystischer Leib im Glauben eins sei. Er ist ja gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben, und alle sollten die Wahrheit annehmen und in der Wahrheit verbleiben, von der Wahrheit künden. Der mystische Leib Christi ist, wie wir alle wissen, nicht mehr eins in der Wahrheit. Die Wahrheit unserer Kirche hat an vielen Stellen Schaden gelitten. Das ist eine, vielleicht die schlimmste Wunde am mystischen Leibe Christi, daß die Wahrheit nicht mehr den obersten Rang besitzt, daß Falschlehrer aufgetreten sind bis in hohe Ränge hinein und die Wahrheit verdunkeln, das Volk irreführen, ja teilweise aufhetzen gegen die Wahrheit und die Verkündiger der Wahrheit.
Die zweite Wunde am Leibe Christi ist die Verdunkelung der Sittenlehre. Der Herr ist doch gekommen, damit alle den Willen Gottes erfüllen. Das war ja sein Ziel, und er hat es in einer vorbildlichen Weise bewährt. „Es ist meine Speise“, sagt er, „den Willen des Vaters zu tun“, und es sollte die Speise aller sein, die sich zu ihm bekennen, daß sie in der Sittenlehre, die Gott durch seine Kirche unfehlbar verkündet, stehen. Aber auch hier wissen wir alle, daß diese Sittenlehre angefochten ist, daß Falschlehrer aufgestanden sind. Vor wenigen Monaten erst hat der Heilige Vater in seiner großen Enzyklika „Veritatis splendor“ (Der Glanz der Wahrheit) die katholische Sittenlehre und ihre Prinzipien lichthell und über allen Zweifel erhaben dargestellt. Es haben sich 16 katholische, sogenannte katholische Moraltheologen zusammengetan, um diese Enzyklika und damit die Lehre der Kirche zu zerfetzen. Das ist die zweite Wunde der Kirche, die zweite Wunde am mystischen Leibe Christi.
Der Herr wollte, daß Gott im Geist und in der Wahrheit angebetet wird. Es sollte ein reiner, ein heiliger Gottesdienst sein, nicht ein äußerlicher und veräußerlichter, sondern ein inniger, aus der Seele, aus den Tiefen der Seele kommender. Wir alle wissen, an wie vielen Stellen unserer Kirche der Gottesdienst verschandelt, verderbt und verunstaltet wird. Den neuesten Gag hat sich einer in Norddeutschland geleistet. Er läßt die Wandlungsworte von den Leuten mitsprechen. Die Wandlungsworte, die der Priester in der Vollmacht Christi und in der Stellvertretung Christi allein wirksam aussprechen darf, werden in dieser Pfarrei von sogenannten „Konzelebrantinnen“ mitgesprochen. Eine weitere Wunde am mystischen Leibe Christi, die Verunstaltung der Gottesverehrung.
Der Herr hat zur Nachfolge aufgerufen. In besonderer Weise sind in seine Nachfolge gerufen die Ordensleute. Sie sollen arm, keusch und gehorsam leben. Die Älteren von uns wissen, daß die Orden einstmals eine Zierde unserer Kirche waren. Wenn die Kirche in der Welt angesehen war – und sie war angesehen –, dann war sie es nicht zum geringsten Teile wegen der Wirksamkeit unserer Ordensleute, der Männerorden, der Frauenorden – vor allem der Frauenorden, die in Krankenhäusern, in Altersheimen und in Kindertagesstätten ihre Liebe verströmten an die ihnen Anvertrauten. Das Ordensleben unserer Kirche liegt darnieder, meine lieben Freunde. Jeder Brief, den ich von Ordensangehörigen erhalte, bezeugt mir aufs neue, wie weit das Ordensleben krank geworden ist. Als ich jetzt nach Hause kam, lag der Brief einer mir bekannten Ordensschwester vor: „Während ich in die Abendmesse gehe, gehen die anderen vor den Fernseher.“ In einem österreichischen Stift, das einstmals eine Zierde unserer Kirche war, sind, wie mir ein zuverlässiger Gewährsmann versicherte, die Mönche nirgends lieber als außerhalb des Klosters. Sie, die sich also dem klösterlichen Dienst und der klösterlichen Einsamkeit gewidmet haben, rennen, fliehen aus dem Kloster, um in der Welt ein vermeintliches Glück zu finden. Das sind nur wenige Beispiele, die sich beliebig vermehren lassen. Aber das ist eine der Wunden am mystischen Leibe Christi.
Was soll ich schließlich sagen vom Priestertum? Der Herr hat die Priester zu seinen Stellvertretern gemacht. Sie sollten sein Erlösungswerk weitertragen. „Nicht mehr Knechte nenne ich euch, sondern Freunde.“ Er hat ihnen einzigartige Vollmachten gegeben, vor allem jene, täglich das heilige Meßopfer feiern zu können und Menschen von der Sünde befreien zu dürfen. Welches Glück, meine Freunde, welches Glück, über solche Vollmachten zu verfügen! Aber auch hier wissen Sie, daß das Priestertum darniederliegt. Ich rede nicht von den 80.000 oder 100.000 Priestern, die ausgeschieden sind, die ihren Beruf verlassen haben. Ich rede von denen, die dabeigeblieben sind. Unter denen sind viele, viele, die ihrer priesterlichen Berufung nicht nachkommen, die mehr schlecht als recht ihren Dienst versehen, die sich mit anderen Dingen statt mit der Not der Seelen beschäftigen, die in unguter Weise ihre Verkündigung verrichten, die Gläubigen aufbringen gegen die kirchliche Autorität, falsche Lehren verbreiten, die Kinder verführen. Das ist vielleicht eine der schlimmsten Wunden unserer Kirche.
Was macht man, meine lieben Freunde, wenn eine Mutter krank ist? Man pflegt sie. Man verdoppelt seine Liebe. Man verläßt sie nicht. Und so müssen wir es tun mit dem mystischen Leibe Christi, mit unserer Mutter, der Kirche. Ihre Wunden, die wir nur allzu gut kennen, dürfen unsere Liebe nicht vermindern, sondern müssen sie vermehren. Wir müssen uns bemühen, daß wir nicht zu denen gehören, die ihr neue Wunden zufügen, daß unser Leben ein Beispiel der Treue und der Hingabe an den Willen Gottes sei, daß unsere Gottesverehrung rein und ehrfürchtig sei, daß wir auf diese Weise unsere heilige Mutter trösten, trösten durch unsere Liebe, durch unsere Treue, durch all unsere Bemühungen im Dienste der heiligen Religion.
Amen.