28. Februar 2016
Der betende Jesus
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Jesus ist der menschgewordene Gottessohn. Er bleibt Gott, aber er nimmt an, was er nicht hatte, nämlich eine Menschennatur. Und als Mensch hat er ein ganzes, vollmenschliches Leben geführt. Er ist gewandert, er ist müde geworden, er hat gebetet. Und das soll das Thema unserer heutigen Überlegungen sein: Der betende Jesus.
Die Evangelien beschreiben einstimmig das Erdenleben Jesu als ein Leben des Gebetes. Schon als das erste Mal der Vater sich zu ihm bekannte, nämlich bei der Taufe im Jordan, da heißt es: „Jesus betete, und dann tat sich der Himmel auf.“ Sein Heilandswirken wird als eine beständige Zwiesprache mit dem himmlischen Vater geschildert. „Des Morgens stand er früh auf und kam in eine wüste Stätte und betete daselbst“, berichtet Markus. „Er aber zog sich zurück in öde Gegenden und betete“, schreibt Lukas. „Und da er das Volk entlassen hatte, stieg er auf einen Berg, um allein zu beten“, berichtet Matthäus. Immer wieder schreiben die Evangelisten von dem stillen, einsamen Beten Jesu, besonders der Evangelist Lukas. Er merkt eigens an, dass Jesus den Berg der Verklärung bestieg des Betens wegen. Von ihm erfahren wir auch, dass die Apostelwahl durch eine Nachtwache Jesu im Gebet vorbereitet wurde: „Und es begab sich in diesen Tagen, dass er auf einen Berg stieg und betete, und er verbrachte die ganze Nacht im Gebete mit Gott. Als es Tag geworden war, rief er seine Jünger.“ Das messianische Wirken Jesu geschah ganz und gar in der Kraft des Gebetes. Als er an das Grab des Lazarus geführt wurde, da betete Jesus: „Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wusste, dass du mich allezeit erhörst.“ Jesus beurteilte seine Wundertat als Gebetserhörung. Auch als Jesus den Taubstummen heilte, da blickte er zum Himmel auf und seufzte, ehe er sein „Öffne dich!“ sprach. Und von dem tobsüchtigen Knaben erklärt er: „Diese Art wird nur ausgetrieben durch Gebet und Fasten.“ Sämtliche Evangelisten erzählen, dass er „dankend Brot in seine Hände nahm“ und so die Brotvermehrung einleitete. Jesus hat sich von den offiziellen jüdischen Gebeten nicht ausgeschlossen. Er hat am Synagogengottesdienst teilgenommen, er hat die dabei gesprochenen Gebete mitgebetet, er hat sich an den Pilgerfahrten in den Tempel beteiligt, er hat auch die Sitte des Tischgebetes beobachtet, und die Liturgie des Paschamahles hat er wie jeder andere gesetzestreue Jude gefeiert. Auch der Wortlaut mancher Gebete Jesu ist uns bekannt. Denken wir an das Gebet am Ölberg, das Gebetswort für seine Feinde am Kreuze, den Gebetsruf aus den Psalmen 22 und 31, den Jubelruf, an das hohepriesterliche Gebet, das uns Johannes überliefert hat. Alle diese Gebete – mit Ausnahme der Psalmen – beginnen mit der Anrede „Vater“. Es gibt kein Beispiel dafür, dass Jesus sich mit den Jüngern in einem gemeinsamen Gebet zusammengeschlossen hätte. Er betet anders und auf andere Weise als seine Jünger; das hängt mit seinem Selbstbewusstsein zusammen. Er ist ja keiner von ihnen, er ist einer aus der Gottheit. Er betet deswegen anders, weil er der wesensgleiche Sohn des himmlischen Vaters ist. Wenn Jesus betet, dann tut er es mittels seines menschlichen Willens. Wenn er als Bittsteller beim Vater auftritt, dann zeigt das, dass er nach seiner menschlichen Natur vom himmlischen Vater abhängig ist. Es ist auch zu beachten, dass es kein Gebet Jesu gibt, in dem ein Schuldbekenntnis oder ein Schuldbewusstsein sich zeigt; er ist der Sündlose.
Wie die messianischen Krafttaten Jesu so stand auch sein messianisches Leiden unter dem Zeichen des Gebetes. Im hohepriesterlichen Gebet weiht sich Jesus dem himmlischen Vater, der Ehre des Vaters; dankend und segnend stiftet er das Bundesmahl, das eucharistische Opfersakrament; in Gethsemane holt er sich in einem ergreifenden Gebet Kraft zum messianischen Opfer. Und mitten in der Todesqual drängt sich auf seine Lippen das Gebet des Psalmisten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auch hier ist es wieder Lukas, der noch zwei Worte Jesu am Kreuze uns überliefert, nämlich: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ und schließlich: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“
Ein Blick in das Beten Jesu ist ein Blick in seine geheimnisvolle Beziehung zum himmlischen Vater. Jesus wusste sich in steter Lebensgemeinschaft mit seinem Vater: „Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes niedersteigen und aufsteigen über dem Menschensohn.“ Dieses Bewusstsein innerer Gottverbundenheit ward ihm zugleich mit seiner menschlichen Natur geschenkt, und das war ihm eine beglückende Nötigung von Jugend auf. „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“, sagt der zwölfjährige Jesus. Kein anderes Wort ist bezeichnender für sein Gebet als das immer wiederkehrende „mein Vater“. Die Jünger werden von ihm angeredet als „euer Vater“, aber er hat eine einzigartige Beziehung zu „seinem Vater“. Er schließt sich mit dem Vater zu einer Einheit zusammen, die er ausdrückt: „Niemand kennt den Vater als der Sohn.“ Gott bekennt sich zu ihm als himmlischer Vater in dem Worte: „Du bist mein geliebter Sohn.“ Das ist das Höchste und Tiefste, in dem die menschliche Seele Jesu sich ihrer unvergleichlichen in der Personeneinheit mit dem göttlichen Worte gründenden Gottbezogenheit bewusst wird. Das Gebet Jesu ist ein ständiges Bewusstwerden seiner Beziehung zum Vater, eine ständige Auswirkung seines Kindesbewusstseins. Im Gebet Jesu vollzieht sich der Lebensaustausch seiner Menschheit mit dem himmlischen Vater.
Weil es aus der Tiefe seines persönlichen Lebens hervorquillt, ist das Gebet Jesu seine persönlichste, innerlichste Tat. Mit scharfen Worten wendet er sich gegen den Redeschwall und Mechanismus beim Gebet: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht Worte häufen wie die Heiden.“ Was persönlich und wahr empfunden wird, kann nur schlicht und einfach sein. Jesus verwirft auch alles, was die Reinheit der Gebetsabsicht beflecken könnte, alles Schielen auf Menschenlob: „Die haben ihren Lohn davon, die sich auf die Straße hinstellen und beten. Nein, wenn du betest, geh in dein Kämmerlein, schließ die Türe zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen.“ Das Beten verlangt eben im Sinne Jesu eine wunderbare Scham. Alles Außermenschliche, Außerseelische, alles Unpersönliche muss von ihm fern bleiben. Im Gebet berühren sich das menschliche Ich und das göttliche Du, und da hebt das große Schweigen an, weil Gott redet. Die innere Bezogenheit auf das göttliche Du ist Jesus wesentlich. Sein Gebet gilt nur einem: dem Willen des Vaters, im Vollbringen des Guten wie in der Abwehr des Bösen. „Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden! Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern! Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!“ Freilich um den täglichen Bedarf dürfen wir beten: „Gib uns unser tägliches Brot“, aber nur um unser tägliches Brot, für heute. Und was sonst noch ein Kind von seinem Vater erbitten mag; irgendwie hat es immer Bezug auf Gottes Willen, auf Gottes Absicht. Gott ist der eigentliche Inhalt des Gebetes, sein Wille, sein Reich. Jesu Beten ist Einordnung in den Willen des Vaters. Das fällt natürlich am schwersten bei dem göttlichen Zulassen. Hier muss sich bewähren, ob der reine Wille Gottes in mir zur Herrschaft gelangt ist, und deswegen offenbart sich das Wesen des Gebetes Jesu niemals deutlicher als am Ölberg. Jesus ging ein wenig weiter, fiel auf sein Angesicht, betete und sprach: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Des Vaters Wille bleibt auch im Todeskampf für Jesus das letztlich Entscheidende. Sein Beten auf dem Ölberg ist ein Tasten nach dem Willen des Vaters, ein Sich-Einschmiegen in diesen Willen. Mit erschütternder Anschaulichkeit tritt hier der Wesenskern des Betens Jesu uns vor Augen, die unbedingte Bejahung des göttlichen Willens. Ein Beten, das von der Erfüllung dieses Willens absehen und nur Persönliches erstreben würde, oder das den klaren göttlichen Willen umbiegen oder erweichen möchte, das stünde nicht auf der Höhe des Gebetes Jesu. Jesus hat nie um etwas Persönliches zum Vater gerufen. In der ersten und zweiten Versuchung weist er ein solches Gebet ausdrücklich ab. Sein Beten stand im Dienst des Reiches Gottes und der Ehre des Vaters. Jesus hat auch niemals gefragt: Warum?, sondern der Wille des Vaters ist ihm das schlechthin Höchste, die Offenbarung der Ehre des Vaters. Dass ein Mensch blindgeboren wurde, dass der Menschensohn leiden muss, das geschieht, damit die Werke des Vaters offenbar werden, auf dass die Schrift erfüllt werde; weiterzufragen ist nicht seines Geistes. Weil alles Beten Jesu nur um Gottes willen, um der Ehre des Vaters willen geschieht, darum sind seine Gebete mit Vorzug Dankgebete. Er nimmt kein Brot, keinen Fisch in seine Hand, er beginnt keine Mahlzeit, ohne dem Vater zu danken. Vor der Leiche des Lazarus betet er: „Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast.“ Den geheilten Besessenen von Gerasa mahnt er: „Geh in das Haus zu den Deinen und verkünde, was Großes der Herr an dir getan hat!“ Er tadelt die Undankbarkeit der Aussätzigen: „Sind nicht zehn rein geworden? Und warum kommt nur einer, ein Fremdling, der Gott die Ehre gibt?“ Auf der Höhe seines messianischen Wirkens, da er in seinen Jüngern die Früchte reifen sieht, da bricht sein übervolles Herz aus in den Lobspruch: „Vater, ich preise dich, Herr des Himmels und der Erde, dass du solches den Weisen und Klugen verborgen, aber den Kleinen geoffenbart hast. Ja, Vater, so war es wohlgefällig vor dir.“ Soweit wir um Bittgebete des Herrn wissen, beziehen sie sich fast ausschließlich auf die Herrlichkeit des Vaters und die Sicherung seines Reiches. Er betet für Petrus, dass sein Glaube nicht wanke; er fleht für die Jünger: „Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch diese mit mir seien.“ Er will einst den Vater bitten, dass er den Jüngern den Tröster sende, und er verspricht all die vor seinen Vater im Himmel zu bekennen, die ihn selbst vor den Menschen bekennen. Und wenn er einmal – wie am Ölberg – für sich selbst betet, um die Abwendung des Schlimmsten, da wissen wir doch, dass er als Letztes und Entscheidendes den Willen des Vaters sucht und bejaht. Der einzige und eigentliche Gegenstand des Betens Jesu ist der Wille des Vaters; der menschliche Wille hat sein Recht verloren.
Nun wissen wir ja, dass der Herr die Beter ermuntert hat, ihre Anliegen vor Gott vorzutragen: „Bittet, so wird euch gegeben; klopfet an, so wird euch aufgetan.“ Hier zeigt sich eine weitere Eigenart des Betens Jesu, nämlich seine glaubensgewaltige Zuversicht; sie lässt sich vom betenden Jesus gar nicht trennen. In der Parabel vom ungerechten Richter, welcher der Witwe nur nachgibt, weil er Gott nicht fürchtet und die Menschen scheut, weil sie ihm lästig sind, im Gleichnis von dem zudringlichen Freund, der dem anderen nur gibt, weil er ihn fortwährend um ein Brot bittet und man ihn wegen der schlafenden Kinder nicht abweisen kann, im Gleichnis von der Macht der natürlichen Elternliebe, die dem Kind nicht einen Skorpion gibt, wenn es um ein Ei bittet, da wandelt Jesus immer wieder sein Wort ab: „Alles, worum ihr im Gebet bitten werdet, werdet ihr empfangen, sofern ihr glaubt.“ Es gibt also eine Bedingung der Erhörung: es ist der Glaube, es ist die Zuversicht, es ist das Vertrauen, es ist die Einfügung in den Willen Gottes. Wir dürfen beten, wir dürfen um alles beten, was erlaubt ist, aber es muss immer dazu gesagt werden: wenn es dein Wille ist. Wenn du willst, kannst du mich gesund machen. „Habt Glauben an Gott“, sagt der Herr, „wahrlich, ich sage euch: Wenn einer zu diesem Berge sagt: Hebe dich hinweg und stürze dich ins Meer, und er zweifelt nicht an dem, was er sagt, sondern glaubt, dass es geschieht, dann wird es geschehen. Ich sage euch: Was immer ihr bittet und betet, glaubt, dass ihr es empfanget und es wird euch werden.“ Vielleicht hat der heilige Johannes empfunden, dass das Bittgebet von den Menschen missbraucht werden kann, dass sie sich auf diese Worte des Herrn stützen und dann meinen, sie können automatisch Erhörung ihrer Gebete verlangen. Deswegen ermuntert auch Johannes zum Bittgebet, immer wieder, aber er fügt immer hinzu: Es muss im Namen Jesu oder im Namen des himmlischen Vater gebetet werden, also in der Gesinnung, wie sie Jesus hatte, also in der Bereitschaft, wie sie Gott zu Eigen ist. Wir müssen in der Absicht Jesu beten und diese Absicht haben wir heute kennengelernt, es ist die Absicht, den himmlischen Vater zu verherrlichen. Der Glaube darf grenzenlos sein, die Zuversicht darf grenzenlos sein, denn dem Vater ist alles möglich. Vor seiner Allmacht zerbricht jedes Naturgesetz; er versetzt Berge. Aber nur in der Ergebung im Vaterwillen ist unser Bitten wohl geborgen. Eine Fehlbitte gibt es nicht für den, der sich den Willen des Vaters zu Eigen macht.
Amen.