4. Dezember 1994
Die Unbegreiflichkeit Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Vor kurzer Zeit rief mich ein Priester aus der Diözese Würzburg an. Er schilderte den fortschreitenden Zerfall in unserer Kirche, den überall zu beobachtenden Niedergang, den Priestermangel, die Uneinigkeit in grundwesentlichen Fragen, falsche Lehren von Bischöfen, aufmüpfige Superlaien, und dann stellte er die Frage: Was sagt denn Gott eigentlich dazu? Warum greift er nicht ein? Hat er Freude daran, daß seine Kirche zerfällt?
Die Unbegreiflichkeit Gottes ist auch für die Frommen ein schweres Problem. Wir haben an den vergangenen Sonntagen uns die Gottesbeweise vor Augen geführt. Wir haben erkannt: Es gibt die Möglichkeit, auf rationale Weise das Dasein Gottes einem Gutwilligen überzeugend darzutun. Wir sind freilich auch auf den Atheismus zu sprechen gekommen. Es gibt Menschen, die wirklich oder vermeintlich nicht an Gott glauben, ja die Existenz Gottes leugnen.
Wenn wir von der Möglichkeit der natürlichen Gotteserkenntnis sprechen – und sprechen müssen –, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß Gott immer, auch wenn er von uns als existierend erkannt ist, ein Geheimnis bleibt. Gott ist unbegreiflich und unaussprechlich. Das ist ein Dogma, ein Glaubenssatz der Kirche. Zuletzt wurde er ausgesprochen vom I. Vatikanischen Konzil: „Gott ist unbegreiflich und unaussprechlich!“ Seine Lebensfülle, sein Seinsreichtum ist von solcher Art, daß er durch kein menschliches Erkennen durchschaut, durch keinen menschlichen Begriff eingefangen, durch kein menschliches Wort umfaßt werden könnte.
Schon der Mensch ist ja für jeden Menschen ein Geheimnis. Weil er eine Person ist, besitzt er etwas Unmitteilbares. So geöffnet ein Mensch gegenüber anderen sein mag – und er soll es sein –, so wenig ist er imstande, das Tiefste und Letzte und Innigste aus seiner Person fortzugeben. Die Person ist unmitteilbar. Jeder Mensch hat ein In-sich-Sein, das niemals einem anderen eröffnet werden kann. Was vom Menschen gilt, das trifft in noch viel höherem Maße auf Gott zu. Gott ist in allem anders als der Mensch. Er ist also auch in seiner Personalität anders als der Mensch. Und zwar ist es das Geheimnis seiner Personalität, daß das göttliche Wesen in dreipersonaler Weise existiert. Sein Seinsreichtum, seine Seinsfülle ist von solcher Unermeßlichkeit, daß sie nur durch ein dreipersonales göttliches Ich ausgedrückt werden kann. Die Dreipersonalität Gottes ist das tiefste, letzte, unauslotbare und unmitteilbare Geheimnis Gottes. Seine Unendlichkeit folgt erst aus der Dreipersonalität. Weil er der Dreipersonale ist, ist er der Unendliche. Nur in dreipersonaler Weise kann seine Unendlichkeit gelebt werden. Auch wenn Gott sich dem Menschen enthüllt (in der Offenbarung), bleibt er der Unbegreifliche. Seine Offenbarung ist die Offenbarung der Unbegreiflichkeit. Gott offenbart sich so, daß die Menschen an ihm erkennen: Gott ist unbegreiflich. Er handelt so, daß sie über ihn staunen, daß sie über ihn verwundert sind, daß sie sein Verhalten seltsam und merkwürdig finden.
Das war schon im Alten Bunde so. Die Frommen des Alten Testamentes erlebten, daß Gott die Seinen führte und schützte; aber sie erlebten auch, daß er die Feinde über die Seinen triumphieren ließ, und das erschien ihnen verwunderlich und schwer zu begreifen. Das Geheimnis der Unbegreiflichkeit Gottes ist in besonderer Weise ausgesprochen im Buche Job. Der treue Diener Job wird von Gott mit schwersten Heimsuchungen bedacht. Er verliert seinen Besitz, seine Kinder; er selbst wird geschlagen mit Krankheiten, obwohl er doch immer ein gottesfürchtiger, gottestreuer, Gott liebender Mann war. Wie er in seiner ausweglosen Lage Klagen und Anklagen gegen Gott erhebt, da spricht zu ihm einer seiner Freunde: „Kannst du den Urgrund Gottes ergründen oder an des Allmächtigen Grenze dringen? Über den Himmel hinauf ist sie hoch - was willst du beginnen? Unter die Hölle hinab ist sie tief – was willst du erkennen? Weiter ist sie an Maß als die Erde und über das Meer hinaus breiter. Braust er daher und nimmt in Gewahrsam und ruft vor Gericht – wer will es ihm wehren?“ Dieser Freund verweist also Job auf Gottes Unergründlichkeit. Seine Wege sind nicht des Menschen Wege, seine Pläne sind nicht durchschaubar, seine Gerichte sind nicht zu ergründen. Und deswegen heißt es dann einige Kapitel weiter im Buche Job: „Siehe, Gott ist größer als wir verstehen. Unerforschlich die Zahl seiner Tage.“ Job ringt sich schließlich durch, ja zu sagen zur Unbegreiflichkeit Gottes, und spricht deswegen: „Wer ist's, der planvolles Walten verdunkelt durch Unverstand? So habe ich geredet ohne Verständnis. Zu wunderbar war es, als daß ich's begriff.“ Hier ist das Eingeständnis der Unbegreiflichkeit Gottes aus dem Munde Jobs aufgezeichnet.
Eine besondere Qualität und Intensität nimmt Gottes Unbegreiflichkeit an, wenn die Frommen das Glück der Gottlosen sehen. „Denn ich ereiferte mich ob der Frechen, da ich der Frevler Wohlergehen sah. Sie kennen keine Nöte, gesund und kräftig ist ihr Leib. Sie merken nichts von anderer Menschen Mühsal und werden nicht wie andere geplagt. Darum ist der Hochmut auch ihr Halsgeschmeide, umgibt Gewalttat sie wie ein Gewand. Aus bösem Sinn gebiert sich ihre Bosheit, der schlimmen Lüste sind sie übervoll. Sie treiben Spott und reden voller Bosheit. Sie sagen: Ach, wie sollte Gott das wissen. Gibt es beim Höchsten überhaupt ein Wissen? Seht nur, so geht es den Frevlern! Sie häufen Reichtum allzeit ungestört.“
Diese im 73. Psalm ausgesprochene Beobachtung fällt begreiflicherweise besonders drückend auf die Seele der Frommen. Wir Menschen neigen ja dazu, Gott verpflichten zu wollen, unsere Treue zu ihm, unsere Liebe zu ihm, unsere Verehrung für ihn vergolten zu sehen. Unsere Berechnung lautet so: Wenn ich Gott treu bin, dann muß er mich beschützen bei Gefahr. Aber das ist offenbar nicht die Weise, wie der unbegreifliche Gott handelt, sondern er gibt auch die Seinen dem Untergange preis. Er läßt über sie Schweres, ja Schwerstes kommen. Im Buche Kohelet, das in gewisser Hinsicht einem Pessimismus das Wort redet, heißt es: „Ich sah die Mühsal, die Gott den Menschen aufgebürdet hat, sich damit abzuplagen. Die Welt hat er ihrem Forschergeist übergeben, doch ohne daß der Mensch das Werk, das Gott wirkt, ergründen kann vom Beginn bis zum Ende.“ Die Unergründlichkeit Gottes muß vom Frommen schweigend angebetet werden. Es ist unmöglich, seine Wege zu durchschauen, seine Pläne zu ergründen. So heißt es im Buche Sirach: „Er ist alles. Wie können wir ihn preisen? Er ist ja noch größer als alle seine Werke. Er ist doch immer noch erhaben. Wer kann ihn preisen, wie er ist? Vieles, was verborgen ist, ist noch viel größer als dieses. Von seinen Werken sehen wir nur wenig.“ Diese Verse aus dem Buche Sirach wollen uns davon überzeugen, daß die Offenbarung Gottes gleichzeitig seine Verhüllung ist. Es ist eine verhüllende Offenbarung. Es wird uns gewiß von Gott etwas enthüllt, aber so, daß seine Unbegreiflichkeit deswegen nicht beseitigt wird.
Das gilt auch für den Gipfel der Offenbarung in Christus Jesus. Hier ist die Fülle der Offenbarung gegeben. In Christus Jesus hat Gott das letzte Wort an die Menschheit gerichtet, hat er das Geheimnis, das von ewigen Zeiten her in ihm verborgen war, den Menschen geoffenbart. Im Epheserbrief hat der Apostel Paulus über diese Offenbarung des Geheimnisses Gottes gesprochen. „Er hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan. Es hat ihm gefallen, und so hatte er es sich vorgenommen, um seinen Heilsplan zu verwirklichen in ihm in der Fülle der Zeiten. In Christus wollte er alles im Himmel und auf Erden wieder einheitlich zusammenfassen. In ihm sind wir auch zu Erben berufen, wir, die wir vorausbestimmt wurden nach dem Vorsatze dessen, der alles wirkt, nach dem Ratschlusse seines Willens.“ Und an einer anderen Stelle: „Allen will ich klarmachen, welches die Verwirklichung des Geheimnisses sei, das von Ewigkeit her verborgen gewesen in Gott, dem Schöpfer des Alls. Aber jetzt soll den Mächten und Gewalten im Himmel durch die Kirche die überaus mannigfaltige Weisheit Gottes kund werden. So war es Gottes Ratschluß von Ewigkeit her. Er hat ihn ausgeführt in Christus Jesus, unserem Herrn.“
Das ist also der Inhalt dieser Offenbarung, daß Gott seinen Sohn in die Welt sandte, um alles in ihm zusammenzufassen, um ihn als das Haupt der Schöpfung zu deklarieren, um die Menschen in das Sohnes-, in das Kindesverhältnis zu Gott zu rufen. Zu diesem Zweck war es notwendig, das dreipersönliche Leben Gottes zu offenbaren. Denn dieses dreipersönliche Leben ist es, woran wir teilnehmen, wenn wir Kinder Gottes werden. Gnadenleben heißt Teilnahme am dreipersönlichen Gottesleben. Also mußte die Dreipersonalität Gottes offenbart werden. Früher war sie unbekannt. Sie ist erst bekannt geworden, seitdem Christus auf Erden erschienen ist. Natürlicherweise kann man den dreipersönlichen Gott nicht erkennen. Warum nicht? Unser Erkennen Gottes geht ja aus von den Geschöpfen. Wir sehen die Geschöpfe als die Wirkung und schließen auf Gott als die Ursache. Nun sind aber alle Werke Gottes nach außen von allen drei Personen gewirkt. Sie werden durch das göttliche Wesen hervorgebracht. Infolgedessen kommen wir bei der Erkenntnis Gottes aus den Geschöpfen immer nur zur Erkenntnis des göttlichen Wesens, niemals zur Erkenntnis der drei Personen in Gott. Es ist also ein Geheimnis über allen Geheimnissen, das uns von Gott notwendig geoffenbart werden muß und das wir auch dann nicht begreifen können, wenn es uns mitgeteilt ist.
Die Erkenntnis des dreipersonalen Gottes kann nur der vollziehen, der vom Heiligen Geist erfüllt ist. Nur wen Gott zieht, der kann zu ihm kommen. Nur wen der Heilige Geist belehrt, der ist imstande, eine menschlich begrenzte Einsicht in die Dreipersonalität zu gewinnen. Von dieser Einsicht sagt der Apostel Paulus im 1. Brief an die Korinther: „Der natürliche Mensch faßt nicht, was des Geistes Gottes ist. Ja, als Torheit erscheint es ihm. Er vermag es nicht zu verstehen, weil es geistig beurteilt werden muß. Der geistige Mensch aber beurteilt alles.“ Wer vom Heiligen Geist belehrt ist, der vermag das Geheimnis der Trinität zu erfassen. Ein anderer sagt vielleicht: Wer das vom Geheimnis der Trinität erfüllte Glaubensbekenntnis „Quicumque“ beschworen hat, der hat den Gesetzen des menschlichen Denkens abgeschworen. So hat ein böser Mensch gesagt. Nein, der geistliche Mensch versteht auch das nach menschlicher Art, was von der Dreipersonalität Gottes überhaupt zu verstehen ist. Aber selbstverständlich bleibt dieses innerste Geheimnis Gottes für den Menschen undurchschaubar. Auch die Seligen des Himmels können Gott nicht durchschauen, selbst wenn sie ihn sehen. Sie sehen ihn so, daß sie seine Unbegreiflichkeit miterkennen. Und dieses Sehen, das uns in Aussicht gestellt ist, ist etwas Gewaltiges. Es geht weit über das hinaus, was wir jetzt erkennen. „Denn jetzt sehen wir nur wie durch einen Spiegel, in Rätseln, jetzt ist mein Erkennen Stückwerk. Einmal aber werde ich von Angesicht zu Angesicht sehen. Dann werde ich erkennen, wie auch ich erkannt bin.“
Der Apostel Paulus hat sein ganzes christliches Leben darum gerungen, die Erkenntnis des Heiles in Christus den Heiden zu vermitteln. Er war sich aber auch immer bewußt, daß das verstandesmäßige Begreifen der Offenbarung an eine Grenze stößt und stoßen muß. Gott kann sich sein Geheimnis nicht entreißen lassen. Er bleibt nur dann Gott, wenn er vom Menschen nicht durchschaut, gleichsam übermächtigt werden kann. Der Mensch müßte Gott sein, um Gott völlig zu erkennen. Und so preist der Apostel auch die Fügungen und Führungen Gottes: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und wie unerforschlich seine Wege! Wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm zuerst etwas geschenkt, das vergolten werden müßte?“ Niemand! So ist die Antwort auf diese rhetorische Frage.
Wenn wir, meine lieben Freunde, vor dem Rätsel der Fügungen und Führungen Gottes stehen, wenn unser eigenes Schicksal uns düster und trostlos dünkt, wenn das Leid über die Qualen der Mitmenschen uns ans Herz greift, wenn der Schmerz über die Wunden unserer heiligen Mutter Kirche uns betrübt und unruhig macht, dann sollen wir uns nach den Worten des Apostels auf die Knie begeben und die Unergründlichkeit Gottes, aber auch die Weisheit Gottes anbeten. Gott muß Gott bleiben. Er bleibt aber nur Gott, wenn er nicht durchschaubar ist, wenn seine Fügungen und Führungen in seinem göttlichen Plan richtig zum Ziele kommen, auch wenn wir Menschen es nicht begreifen.
Ein Fürst sagte einmal zu einem weisen Mann: „Zeige mir deinen Gott!“ Er antwortete: „Gott kann man nicht sehen.“ Der Fürst war unwillig. Da sagte ihm der weise Mann: „Komm mit mir in den Hof des Palastes!“ Sie gingen hinaus. Dann forderte der weise Mann den Fürsten auf: „Schau in die Sonne!“ „Das kann ich nicht“, sagte der Fürst. „So“, sagte der weise Mann, „du vermagst nicht einmal einen Strahl eines Geschöpfes Gottes auszuhalten, und da verlangst du, Gott selbst zu sehen?“ Wahrhaftig, so ist es. Wir haben genug Wege und Mittel, um zu Gott zu finden. Wir haben seine natürliche Offenbarung, seine Werkoffenbarung in der Schöpfung. Wir haben seine übernatürliche Offenbarung, seine Normoffenbarung in den Fügungen und Führungen des Alten und des Neuen Testamentes. Daran muß es uns genug sein. Wir können Gott finden in einem ausreichenden Maße. Es ist genug Licht da für den, der sehen will. Freilich, es ist auch genug Dunkel da für den, der nicht sehen will.
Amen.