Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gebote Gottes (Teil 1)

25. Juni 2023

Gott ist der Herr des Sollens

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir leben in einer Zeit, in der schier alles Bestehende und Feststehende sich aufgelöst hat. Wo wir keine allgültigen Gedanken, keine unbestrittenen Grundsätze, keine ewigen Normen, keine notwendigen Ziele, keine unanfechtbaren Werte mehr haben. Das ist der Umsturz der Weltordnung, der Zusammenbruch der sittlichen Ordnung. Wir sind ratlos geworden und verzagt: Was sollen wir eigentlich tun, denken und wünschen? Wofür sollen wir leben? Wir sind heute in einer Periode, wo uns ein welterschütterndes Halt zugerufen wird, weil wir dem Abgrund des Todes, dem Rande des Nichts allzu nahe gekommen sind. So kann es nicht bleiben. Unser Leben muss sich wieder sammeln um eine feste Mitte. Unsere Augen müssen wieder die Sterne suchen, die nicht auf- und untergehen. Unser Wille muss sich wieder aufrichten an einer Notwendigkeit. Wir müssen wieder erkennen: Es gibt etwas, das sein muss; etwas, das respektiert werden muss; etwas, das getan und gelebt werden muss. Der Ausdruck für dieses große Muss ist das Gesetz, das Gebot. Es geht hierbei zu allererst um etwas Ewiges, um Notwendigkeiten, die von der Wirklichkeit ausgehen und die man nicht verletzen kann, ohne mit der Wirklichkeit selbst zusammenzustoßen. Kein Gesetzgeber, kein Gewalthaber hätte je der Menschheit ein Gebot auflegen können, wenn nicht von Uranfang an in den Seelen der Menschen ein Gebot angelegt wäre. Wenn nicht wahrhaft unbedingte Notwendigkeiten uns vorgezeichnet wären. Wir tragen wirkliche Bindungen in uns selbst. Darum erhalten auch die äußeren Vorschriften unseres Zusammenlebens einen Sinn und einen Wert und eine Kraft zur Bindung. Von diesen inneren Bindungen, von denen alles abhängt, muss vor allem die Rede sein.

Wir können drei Gruppen solcher Gesetze und Gebote unterscheiden. Es gibt Gebote des Raumes, Gebote des Lebens und Gebote des Geistes. Die Gebote des Raumes sind die Gesetze der bewegten Energie, die Gesetze des Lichtes und des Stromes, die Gesetze der Schwere und der Masse, die Gesetze der Sterne und der Atome. Wir haben diese Gesetze so weit ergründet, dass wir sie berechnen und benützen können. Naturwissenschaftliche Gesetze sind gekennzeichnet durch Allgemeinheit und Vorhersagewert. Aber auch ein Schauer der Ehrfurcht erfüllt uns immer aufs Neue vor der Majestät dieser Gesetze, an deren Bestand wir nichts ändern können. Wenn wir vor einem Gewitter oder einem Vulkan oder einem Erdbeben, vor dem Meer oder dem Hochgebirge stehen, dann erschrecken wir unwillkürlich vor dem Ernst und der Wucht, die sich da offenbaren. Denn es sind diktatorische Gesetze; wir werden nicht gefragt, ob wir sie anerkennen wollen oder nicht. Nur indem wir sie achten, bejahen und uns ihnen unterwerfen, werden sie uns willfährig und zu Dienern unseres Lebens. Aber wenn wir sie verletzen, dann fährt Feuer und Tod aus den Drähten, mit denen wir uns die Naturkräfte zu Verbündeten machen wollten. Es ist keinem Menschen je eingefallen, sich für autonom zu erklären gegenüber dem Gesetz der Schwere oder den Gesetzen der elektrischen Spannung.

Die Gesetze des Lebens sind die zweite Hauptgruppe von den Gesetzen, unter denen wir leben. Sie sind stiller, verborgener. Fast lautlos und unsichtbar ist ihr Walten in den winzigen Zellen des organischen Lebens. Aber tatsächlich sind sie noch viel gewaltiger als die Gesetze des Raumes. Der Biologe Wolfgang Kuhn schreibt: „Schon ein schalenloser Einzeller ist unbegreiflich komplizierter konstruiert als selbst die größte moderne Fabrikanlage.“ Ein winziges Pflänzchen ist in der Art und Wert seiner Leistungen mächtiger als eine stürzende Sonne. Es macht sich die Gesetze der Atome dienstbar, verwandelt und löst sie nach seinen eigenen Zwecken. Im Lebendigen, im Keimling, der aus der Erde sprosst, im Wachsen einer Frucht ist alles siegreich. Es ist ein Sieg des Beseelten über die Materie. Auch diese Gesetze sind diktatorisch. Mit unwiderstehlicher Gewalt erzwingen sie ihre Erfüllung in jedem Lebewesen. Und wiederum ist es keinem noch so selbstherrlichen Menschen je eingefallen, die Gesetze der Geburt und des Todes, der Ernährung und des Wachstums von Lebewesen ändern oder aufheben zu wollen. Auf jeder ernsten Verletzung dieser Gesetze steht Erkrankung, ja der Tod des Lebens, des eigenen oder eines fremden.

Die Gesetze des Geistes sind die höchste Gruppe von Gesetzen. Sie bestehen und gelten in unserem menschlichen Denken und Wollen, in unserem Schaffen und Lieben. Es sind die Gesetze unseres geistigen Lebens und unserer Kultur, unserer seelischen Entwicklung und unserer Geschichte. Es sind die Gesetze der Vernunft und des Herzens, die Gebote der Wahrhaftigkeit, der Gerechtigkeit und der Liebe. Hier nun tritt etwas Neues auf. Zum Teil sind auch diese Gesetze noch diktatorisch. An den Geboten z.B. des wissenschaftlichen Erkennens können wir nichts Wesentliches ändern. Aber ein Teil der Geistesgesetze ist uns nicht als Zwang auferlegt, sondern kommt wie eine Entscheidung zu uns, die unser eigener Wille zu treffen hat. Das sind die Gesetze des sittlichen Lebens, die Gesetze des Wahrseins und des Gutseins. Diese Gesetze würden ihren Sinn und Wert verlieren, wenn sie zwangsmäßig erfüllt würden. Die Zuverlässigkeit eines Automaten hat nichts zu tun mit dem Hochstand eines treuen Menschen. Die Freiheit, mit der diese Gesetze erfüllt werden, gibt ihnen erst ihren eigentlichen Sinn.

Die Gesetze über die sittliche Welt sind darum die höchsten aller Gebote, die es überhaupt gibt. Denn sie walten über die kostbarsten Werte, die sittlichen Werte. Diese Gesetze sind ebenso notwendig, ja noch notwendiger als die Gesetze des Raumes und der Biologie. Auch auf ihrer Verletzung steht der Tod, nämlich die Verwüstung, der Absturz eines gottähnlichen Geistes. Mit dieser höchsten Notwendigkeit verbindet sich die Freiheit, die höchste, ja die einzige Freiheit, die es gibt, aus eigenem Willen und Entschluss heraus gut zu sein. Die Fähigkeit, über sich selbst hinauszuschreiten und andere zu bejahen, ist die höchste Freiheit, nämlich die Liebe, die wohlwollende, die schaffende, die schenkende Liebe. In der Liebe wird Freiheit und Gebot eins; denn Liebe ist ihr eigenes Gebot. Der Liebende kann nicht anders und ist doch frei. So kommt es, dass der Inhalt und Sinn dieser Geistesgesetze auf ihrem Höhepunkt eben die Liebe ist und die Liebe das größte aller Gebote und aller Gesetze Erfüllung, wie es in der Heiligen Schrift heißt. Der letzte Sinn aller bestehenden Gesetze ist dieser: Du sollst lieben deinen Gott, du sollst lieben deinen Nächsten, du sollst lieben den dir verbundenen Menschen. Du sollst sogar lieben alles, was von Gott ausgegangen ist.

Alle Gebote sind von dem liebenden Gott ausgegangen. Nur Gott, der große Liebende, kann Gebote ergehen lassen. Alle Gebote, die unsere Welt durchwalten, gehen auf Gott zurück, sind seine Gedanken und Befehle. Welche ungeheuerliche Anmaßung liegt darin, dass der Synodale Weg der deutschen Bischöfe mit Herrn Bätzing an der Spitze daran geht, die Gesetzgebung über Gut und Böse in die Hand der Bevölkerung, der Menschen, der Synode zu legen! Die Lebensweise der jeweiligen Zeitgenossen soll entscheiden, was gut und böse ist. Welche ungeheuerliche Verkehrung! Hier vollzieht sich, was Erzbischof Lefebvre mit den Worten beschrieben hat: Sie haben Gott entthront! Sollensgesetze stellen eine Norm für menschliches Verhalten auf, zu deren Einhaltung die Menschen verpflichtet sind. Nur der Schöpfer kann sie erlassen. Weil sie von ihm ausgehen, darum gleichen sie ihm auch: Furchtbar und lieblich wie sein Wesen sind seine Befehle. Wenn wir mit Schrecken und Grauen das zuckende Feuer sehen, das aus den Wolken fährt, flammend vom Ausgang bis zum Niedergang, dann geht uns eine Ahnung auf, was es um den Herrenwillen des Allgewaltigen ist, der gesprochen hat: Hüte dich, den Bund mit dem Herrn, deinem Gott, jemals zu vergessen! Hüte dich; denn der Herrn, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer; ein eifernder Gott ist er. Die Gebote, die den Weltraum und den Herzensraum durchwalten, sind Offenbarungen Gottes. So ist er und so will er sein, und darum muss er wollen, dass auch seine Welt so sei, sein Gleichnis: Ein Großer und Heiliger kann immer nur Großes und Heiliges wollen. Die Gebote, die vom Schöpfer ausgegangen sind, haben ihre letzte, innerste Notwendigkeit, ihre unverletzliche Majestät und ihr Recht zu unbedingter Erfüllung von seinem Willen. Sie sind der sichtbar und hörbar gewordene Wille Gottes. Und wenn sie auch in sich noch so nützlich und wirksam sind im Weltganzen, wenn sie auch noch so geistvoll und genial gedacht sind – das alles sind zwar Gründe genug für uns, sie zu erfüllen; aber alle diese Gründe können keinen Vergleich aushalten mit dem Grund aller Gründe, mit dem Befehl aller Befehle, der da heißt: So spricht der Herr, dein Gott: Du sollst. Das ist mein Wille, und du sollst ihn erfüllen. Darum ist die letzte Begründung aller Sittlichkeit in dem Willen Gottes gelegen. Das Gute um des Guten willen zu tun ist der Inhalt aller Sittlichkeit. Aber dass der Mensch diesen Entschluss fassen soll, das kommt von dem Willen Gottes, der gesprochen hat: Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist. Man könnte denken, dass wir die Gebote der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit, der Keuschheit bewahren und erfüllen aus Liebe zur Ordnung oder zum Fortschritt oder zur Bildung der Persönlichkeit. Das könnte man denken, vielleicht auch versuchen, aber der Versuch würde wohl bald aufgegeben. In ernster Wirklichkeit und auf eine lange Bewährungsfrist werden diese Gebote nur von den Liebenden erfüllt, die entweder direkt um Gottes willen oder um eines geliebten Menschen willen sie halten. Aber ein geliebter Mensch bleibt uns nur nahe, wenn Gott ihn immerfort uns ans Herz legt. So ergibt sich, dass aller Gebote größtes und zugleich aller Gebote erstes (und letztes) jenes eine wunderbare Gebot ist, von dem wir nur mit bebendem Herzen und zitternd vor Scham und Glück sprechen sollten, von dem Gebot: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen; aus deiner ganzen Seele, aus allen deinen Kräften und mit deinem ganzen Gemüte sollst du ihn lieben.

Amen.

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