25. August 2019
„Noch fremd klingt die Lehre: Stirb zur rechten Zeit“
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch fremd klingt die Lehre: Stirb zur rechten Zeit!“ Wir haben am vergangenen Sonntag darüber nachgedacht, was dieses Wort Friedrich Nietzsches wohl bedeutet. Nietzsche meinte zu wissen, wann es Zeit ist zum Sterben, nämlich dann, wenn der Mensch selbst zu der Ansicht kommt, die Zeit sei da. Nietzsche propagierte den Freitod, die Selbsttötung, den Suizid. „Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.“ Und weiter schreibt er: „Jeder, der Ruhm haben will, muss sich beizeiten von der Erde verabschieden und die schwere Kunst üben, zur rechten Zeit zu gehen.“ Zu diesem Thema muss man zuerst die Begriffe klären. Das Wort Selbstmord ist eigentlich nicht richtig, denn Mord ist ja die hinterlistige Straftat aus niederen Motiven, und das kann man beim Selbstmord kaum annehmen. Richtiger ist die Wendung Selbsttötung oder auch das lateinische Wort Suizid; das hat sich jetzt eingebürgert. Freitod dagegen bewertet die Selbsttötung positiv bis hin zur emphatischen Bejahung der Freiheit zum Tode als spezifisch menschlicher Möglichkeit. Nietzsche hat mit seiner Aufforderung zum Freitod starken Beifall gefunden. Viele Menschen sehen in der Selbsttötung ein legitimes Mittel, einen nach ihrer Meinung unhaltbar gewordenen Zustand zu beenden. Weltweit töten sich jährlich etwa eine Million Menschen, geschätzt 60-mal so viele machen einen Suizidversuch. Die höchsten Raten der Selbsttötung finden sich in den baltischen Ländern, in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in Slowenien, in Sri Lanka und in Ungarn. In Deutschland werden jedes Jahr etwa 10000 Suizide ausgeführt. Als der israelitische König Saul sich der militärischen Niederlage in Afek am Gelboe gegenübersah, schritt er zur Selbsttötung – der König Saul. Ein anderes Phänomen ist der Massensuizid. Am 15. April 73 n. Chr. töteten sich in der Festung Masada 1000 Juden selbst, als die Römer die Festung stürmten. Aus der Geschichte sind uns viele Selbsttötungen bekannt. Brutus, der erbitterte Gegner Caesars, das Haupt der Verschwörung gegen Caesar, beging Selbsttötung, als er in der Schlacht von Philippi unterlag. Und der römische Feldherr Varus, der im Teutoburger Wald vernichtend geschlagen wurde, stürzte sich in das Schwert. Das 20. Jahrhundert ist besonders reich an Menschen, die sich selbst den Tod gegeben haben. So manche der tapferen Männer, die an dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 beteiligt waren, haben sich das Leben genommen. Ich erinnere an den Generaloberst Ludwig Beck, an den General Henning von Tresckow, an den Feldmarschall Hans von Kluge. Stauffenberg, bekennender katholischer Christ, lehnte es dagegen ab, der Aufforderung des Generalobersten Fromm nachzukommen, sich zu erschießen. „Sie müssen sich sofort erschießen“, sagte er ihm. „Ich denke gar nicht daran“, antwortete Stauffenberg. Die Absicht, sich der Beteiligung an einem Unrecht zu entziehen, kann zum Suizid veranlassen. Der Reichskriegsgerichtsrat Werner Lueben hatte den Vorsitz im Prozess gegen die drei Stettiner Priester Lampert, Simoleit und Lorenz. Am 28. Juli 1944 wurden über sie die Todesurteile verhängt. Bei der Urteilsverkündung fehlte Lueben. Er hatte sich in der Nacht zuvor das Leben genommen, weil er diese Urteile nicht unterschreiben wollte. Für so manchen Menschen waren die Schrecken, die er von einer entmenschten Soldateska erlebt hatte, so unerträglich, dass er sich den Tod gab. Die Rote Armee drang im Januar 1945 in Schlesien ein. Ihre Soldaten quälten und ermordeten zahllose unschuldige Menschen – auch meine Großmutter. Besonders abgesehen hatten sie es auf Mädchen und Frauen. Ein 13 Jahre altes Mädchen in Freystadt in Schlesien wurde so oft vergewaltigt, dass sie sich danach auf den Dachboden schleppte und erhängte. Im Zusammenhang mit der deutschen Katastrophe von 1945 haben sich viele Hauptschuldige das Leben genommen. Ich erinnere an Hitler und Göring, Goebbels und Himmler. Die friedlichen Zeiten nach Beendigung des Krieges haben die Suizide zurückgedrängt, aber nicht beendet. Müdigkeit, Niedergeschlagenheit, Überdruss, Verzweiflung mögen die Gründe gewesen sein, dass so berühmte Künstler wie Gustaf Gründgens und Maria Callas sich selbst den Tod gegeben haben. Gestern rief mich ein Lehrer aus Norddeutschland an. Er sprach von seinem Pfarrer, der ein großer Modernist war, alles umdrehte in der Kirche, die Predigten in modernistischer Weise vortrug, den Gottesdienst so hielt. Er habe ihn mehrfach ermahnt und gebeten, das zu unterlassen; er tat es nicht. Er wurde dann versetzt. „Und jetzt“, sagte er, „habe ich die Nachricht bekommen: Er hat sich umgebracht.“ Die Intention, die mit einer Suizidhandlung verbunden ist, kann unterschiedlich sein, z.B. der Wunsch nach Ruhe, das Ausweichen vor einer Katastrophe, die droht, Rache für eine massive Kränkung. Es gibt auch den öffentlichen Suizid, der als politischer Appell gemeint ist. Am 18. August 1976 nahm sich der evangelische Pfarrer Oskar Brüsewitz durch Selbstverbrennung in Zeitz das Leben. Er wollte damit gegen die Unterdrückung der christlichen Erziehung in der DDR protestieren.
Die Kirche richtet nicht über jene, die sich selbst den Tod gegeben haben. Den Einblick in die Seele hat Gott allein. Die Entscheidung darüber, was der Selbsttöter mit seinem Leben gemacht hat, trifft Gott. Doch aus christlicher Sicht muss daran festgehalten werden: Die Selbsttötung ist keine Lösung des rechtzeitigen Sterbens. Hier führt der Mensch aus eigenem Entschluss das Ende seines irdischen Lebens herbei; diese Befugnis steht ihm nicht zu. Die Selbsttötung kann nicht der rechte Zeitpunkt des Sterbens nach Gottes Willen sein, weil er gegen Gottes Willen und Gebot geschieht. Die katholische Sittenlehre lehnt den Suizid als unzulässigen Eingriff in die göttliche Schöpfungsordnung und Verletzung des 5. Gebotes ab. Die Selbsttötung ist eine schwere Sünde gegen die Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst. In vielen Fällen bedeutet ja der Suizid auch die Weigerung, der Gemeinschaft fernerhin zu dienen.
Der Wunsch, selbst das Ende des eigenen Lebens bestimmen zu können, hat sich in den letzten Jahrzehnten ständig weiter ausgebreitet. Weil man sich selbst mit der Weise zur Selbsttötung überfordert sieht, schaut man aus nach Helfern. So ist in den letzten Jahrzehnten die Diskussion um die Sterbehilfe in den europäischen Ländern in ungeahnter Weise aufgeflammt. Das Thema hat wiederholt den Gesetzgeber beschäftigt. Der Anspruch jedes Menschen, den ihm verfügten eigenen Tod sterben zu dürfen, umfasst auf Seiten der Angehörigen, der Ärzte und des Pflegepersonals eine ausreichende medizinische Grundpflege, eine wirksame Schmerzbekämpfung und den menschlichen Sterbebeistand. Wenn die heilenden Möglichkeiten der Medizin erschöpft sind, ist damit die ärztliche Behandlungspflicht noch nicht erloschen. Sie besteht nun darin, einem schwerstkranken Patienten die letzte Wegstrecke seines Lebens zu erleichtern und ihm, solange es möglich ist, die äußeren Voraussetzungen dafür zu schaffen und zu erhalten, dass er sich mit seinem Sterben auseinandersetzen und in die Haltung einer Annahme des eigenen Todes hineinwachsen kann. Für den Christen bedeutet Sterbebegleitung das Bemühen, den Sterbenden auf Gott, auf Gottes Vorsehung, auf Gottes Gericht sowie auf Gottes Verheißungen hinzurichten. Die Kirche stellt die Sakramente der Buße, der Kommunion und der letzten Ölung bereit, um den Sterbenden geeignet zu machen, nach dem Tod in Gottes Herrlichkeit einzugehen. Das staatliche Recht dagegen gibt die Selbsttötung frei. Nach herrschendem Verständnis der Verfassung schließt das Selbstbestimmungsrecht des Menschen die frei verantwortete Selbsttötung als Grundrecht ein. Verboten ist nur noch die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung. Aber auch dieses Gesetz von 2015 wird angefochten, sogar mit Verfassungsbeschwerden. Das christliche Sittengesetz im Verständnis der katholischen Kirche verbietet die Selbsttötung ausnahmslos.
Davon abzugrenzen sind zwei andere Verhaltensweisen. Zulässig ist die Anwendung narkotischer Mittel zur Linderung unerträglicher Schmerzen, auch wenn als ungewollte Nebenwirkung eine Beschleunigung des Todes eintreten sollte. Zulässig ist auch die Unterlassung der Anwendung sittlich nicht gebotener Mittel zur Verzögerung des natürlichen Todes und zur Verlängerung des Sterbens, also das Abschalten lebensverlängernder Apparate oder die Unterlassung entsprechender ärztlicher Maßnahmen bei völliger Aussichtslosigkeit weiterer Behandlung eines unwiderruflich bewusstlosen Patienten.
Anders steht es um die Begleitung von Personen, die sich selbst töten. In jüngster Zeit nimmt der ärztlich unterstützte und begleitete Suizid zu. Suizidbegleiter bleiben bis zum sicheren Herzstillstand vor Ort und informieren anschließend die Behörden. Der ärztlich unterstützte Selbstmord oder besser die ärztlich unterstützte Selbsttötung ist nach dem Urteil des Bundesgerichtshofes von 2019 zulässig. Suizide stellten, so hat das Gericht entschieden, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der sterbewilligen Person dar; Rettungsmaßnahmen entgegen deren Willen seien nicht geboten. Vertreter der Ärzteschaft haben das Urteil scharf kritisiert. Statt den Sterbewunsch als gegeben hinzunehmen und lediglich zu prüfen, ob er aus freien Stücken erfolgt, sind Ärzte gefordert, Menschen aufzuzeigen, wie ein Weiterleben gelingen, Schmerzen besser kontrolliert und gesellschaftliche Teilnahme wieder mehr erfahren werden kann. Sterbebegleitung soll Beistand und Fürsorge für Menschen sein, die den Tod vor Augen haben. Sterbebegleitung kann und darf aber keine Hilfe zur Selbsttötung sein. Die Suizidassistenz ist keine ärztliche Aufgabe – so die Ärzteschaft in Deutschland.
Einen Schritt weiter geht die Beihilfe zur Selbsttötung. Sie kann darin bestehen, dass der Arzt das Mittel bereitstellt, mit dem der Lebensmüde sich umbringt. Beihilfe zur Selbsttötung ist in Deutschland nicht strafbar. Sie wird bereits von Einzelpersonen und von Organisationen betrieben. Mit oder ohne gesetzliche Grundlage wird in vielen Ländern und von vielen Ärzten die gewünschte Beendigung des eigenen Lebens durch geeignete Mittel propagiert und praktiziert. Gegen die Beihilfe zum Selbsttöten muss das christliche Sittengesetz Einspruch erheben. Suizide geschehen zu 90% aufgrund von Depressionen, die behandelt werden können. Der Suizidhelfer verhilft dem Lebensmüden nicht zur ersehnten Linderung und Heilung, sondern zerstört das Leben selbst. Beihilfe zur Selbsttötung wird auf echte Euthanasie – von der ich gleich sprechen werde – hinauslaufen. Wenn der Arzt die tödlichen Medikamente bereitstellen soll, wird niemand verstehen, warum er sie nicht auch gleich verabreichen darf.
Eine weitere Stufe der assistierten Tötung wird erreicht mit der Tötung auf Verlangen. Bei der Tötung auf Verlangen führt nicht der Sterbewillige, sondern ein anderer den Tod herbei. In den Niederlanden und in Belgien ist seit 2001 bzw. 2002 die Tötung auf Verlangen, also die aktive Sterbehilfe straffrei. Dort kommt es auch zu Tötungen ohne ausdrückliches Verlangen, in den Niederlanden jährlich rund 1000-mal. In Deutschland ist es noch nicht so weit. Die aktive Sterbehilfe, also das gezielte und tätige Herbeiführen des Todes ist noch unzulässig und wird als Tötungsdelikt bestraft. Die direkte Lebensvernichtung ist keine medizinische Maßnahme. Die katholische Lehre erhebt gegen den so genannte Gnadentod unwiderruflich Einspruch. Sie weiß sich durch Gottes Gebot gehalten, gegen die freiwillige (und erst recht gegen die erzwungene) Beendigung des Lebens mit Hilfe anderer ihre Stimme zu erheben. Und dafür haben wir ja Beispiele, erschütternde und abschreckende Beispiele. Denn von dem auf Wunsch bewerkstelligten Freitod ist der Weg nicht weit zu der gegen oder ohne den Willen betriebenen Beseitigung von Menschen, die der Gesellschaft als unnütz oder schädlich erscheinen.
Die Nationalsozialisten propagierten offen die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Hitler stimmte im Oktober 1939 der Gewährung des so genannten Gnadentodes zu. Der Erlass wurde auf den 1. September (Kriegsausbruch) 1939 zurückdatiert. 1940/41 wurden etwa 70000 geistig oder psychisch Kranke, aber auch andere, so genannte Asoziale getötet. Die Aktion wurde im August 1941 aufgrund kirchlicher Proteste gestoppt, aber schon im September des Jahres unter strenger Geheimhaltung weitergeführt. Sie erbrachte noch einmal 20000-30000 Opfer. Ich kann ein persönliches Erlebnis zu dieser schrecklichen Maßnahme beisteuern. Als Kind spielten wir mit zwei Personen in unserem Hause, die geistig zurückgeblieben waren. Wir hatten keinen Einwand, mit ihnen Spiele zu machen; sie waren auch durchaus fähig, daran teilzunehmen. Aber eines Tages wurden sie abtransportiert, und wenig später bekam die Mutter die Nachricht, sie seien an Lungenentzündung gestorben. Die Tötung angeblich unnützer Personen wurde bereits in der Weimarer Republik von Professoren vertreten. Die Nazis konnten sich auf ein Gutachten der beiden Universitätsprofessoren Binding und Hoche aus dem Jahre 1920 stützen. Sie verfassten damals die Schrift „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Der Gnadentod, wie man die Tötung kranker, missgebildeter und geistig defekter Menschen nennt, kann nicht der rechte Zeitpunkt für die unglücklichen Menschen sein, zu sterben, die da umgebracht werden. Ihre Beseitigung geschieht gegen Gottes Willen und Gebot. Die katholische Kirche hat sich zum Anwalt des göttlichen Sittengesetzes gemacht und ihre Stimme gegen den Massenmord an hilflosen Menschen erhoben. Am 27. Juli 1941 stieg in Münster der Bischof Galen auf die Kanzel und predigte: „Wenn es einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, unproduktive Mitmenschen zu töten, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und den Kriegern, den Opfern des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden und dadurch unproduktiv werden, freigegeben.“
„Viele sterben zu spät, und einige sterben zu früh. Noch fremd klingt die Lehre: Stirb zur rechten Zeit!“ So hatte Friedrich Nietzsche verkündet und für diese Parole viel Zuspruch gefunden, der bis heute anhält. Er zielte mit seiner Rede auf den Freitod, den der Mensch selbst bestimmt. Diese Weise, das Leben zu beendigen, findet zunehmend Anhänger. Der ehemalige katholische Theologe Hans Küng in Tübingen dachte, wie er vor einiger Zeit öffentlich erklärte, daran, sich in seine schweizerische Heimat zu begeben, um sich dort vom irdischen Leben befreien zu lassen. Das christliche Sittengesetz, wie es die katholische Kirche im Auftrag Gottes unfehlbar verkündet, sieht Leben und Tod des Menschen in die Hand Gottes gelegt. Er und er allein bestimmt, wann die Uhr des irdischen Lebens abgelaufen ist. Der Mensch besitzt nicht die Befugnis, das Ende seiner irdischen Laufbahn herbeizuführen. Der Suizid ist ein unzulässiger Eingriff in Gottes Recht. Der Mensch kann und soll dem Menschen helfen beim Sterben, aber nicht zum Sterben. Wir Gläubigen sollten, meine lieben Freunde, zu unserem Gott flehen: „Herr, wie du willst, soll mir geschehen, und wie du willst, so will ich gehen. Hilf deinen Willen nur verstehen. Herr, wann du willst, dann ist es Zeit, du kommst nie zu spät, sondern zur rechten Zeit.“
Amen.