26. Dezember 2005
Die Bedeutung des Weihnachtsglaubens
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben gestern die Tatsache der Menschwerdung des Gottessohnes bedacht, Diese Tatsache ist aus sich und in sich schon wirksam. Denn das Licht kann nicht aufscheinen, ohne zu leuchten, und die Flamme kann sich nicht verzehren, ohne zu wärmen. Aber diese Tatsache hat auch ihre Spuren in unserem Bewusstsein hinterlassen. Sie ist in unser Denken und Wollen eingegangen. Sie ist zu unserer Überzeugung geworden. Dieses neue Dasein Gottes, das von seiner Schöpfertätigkeit verschieden ist, wird und muss unser Denken und Wollen umgestalten und formen. Und dieses neugeformte Denken und Wollen wird dann auf unser Dasein wirken und es heller, reicher und besser machen. Die Tatsache der Menschwerdung Gottes wird also lebensmächtig auch dadurch, dass sie von uns erkannt, gewusst und bejaht wird. Der Glaube an die Menschwerdung ist lebendmächtig in einem doppelten Sinne. Er bedeutet nämlich eine Entscheidung für den Geist und eine Entscheidung für die Güte.
Der Glaube an die Menschwerdung bedeutet eine Entscheidung für den Geist, ein entscheidendes Anerkennen, dass der Geist das Erste, das Ursprüngliche ist. Das ist zu sagen gegenüber all den evolutionistischen Erklärungsversuchen, die ja eigentlich atheistisch oder pantheistisch sind. Nach dem Evolutionismus, der eine Erklärung der Weltentstehung versucht, ist da am Anfang eine ungeheure dumpfe, träge Masse, Naturkraft, die sich langsam zum Leben, zum Bewußtsein, zur Geistigkeit emporrankt und die dann eben einen vorläufigen Höhepunkt im Menschen findet. Auch das wäre eine Art Menschwerdung, wenn es so geschehen wäre. Die Naturkraft und das Natursein steigt nach diesen Erklärungsversuchen allmählich höher und höher und erreicht schließlich den Menschen wie einen vorläufigen oder auch endgültigen Gipfel. In dieser Auffassung ist der Geist nicht das Erste, sondern das Letzte. Die Finsternis, die Masse, das Dumpfe, das Stoffliche, das Unbewußte ist nach dieser Ansicht das Erste.
Genau das Gegenteil meint das christliche Dogma von der Menschwerdung. Da arbeitet sich nicht etwas Unvollkommenes zur Höhe empor, sondern der unendlich Vollkommene steigt über sich selbst hinaus in einer Tat unendlicher Freiheit und Liebe. Das denkende und wollende Wesen, die Persönlichkeit, die Freiheit, die Initiative, der Selbstbesitz ist das Erste, von dem alles ausgeht. Der Geist ist also nicht der unendlich ferne Schnittpunkt, zu dem die Entwicklungslinien hindrängen, sondern er ist der Mittelpunkt, von dem alle Linien ausgehen. Hier steht nicht das eigentlich hoffnungslose Werden, sondern das Erfülltsein am Anfang aller Dinge und aller Ereignisse. Wenn wir also das Dogma von der christlichen Menschwerdung umfassen, dann wissen wir, dass alles auf Erden auf einem freien schöpferischen Ja, nicht auf einem dumpfen und unbewußten Zwang beruht, dass also auch in unserem Werden und Wesen alles von einem schöpferischen Ja und Wollen ausgehen muss und davon abhängt.
Damit, meine lieben Freunde, ist für alle Zeiten und für alle Verhältnisse, für alle Kulturen und für die fernsten Heimatländer der Menschen die Freiheit, die Persönlichkeit, die Bewusstheit, die Initiative, die Selbstbewegung an die Spitze und auf den Gipfel gestellt. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die europäische Menschheit, die ja seit Jahrhunderten der führende Teil der Menschen ist, dass ausgerechnet die europäische Menschheit das christliche Dogma von der Menschwerdung angenommen hat, so unvollkommen das auch geschehen sein mag. In dieser Menschheit ist der Glaube an das bewusste Leben, an den Geist, an das Ideal, an die Freiheit, an das Leben aufgestanden und lebendig geblieben. In dieser Menschheit ist die Zuversicht und das Vertrauen, also auch das Selbstvertrauen, das Vertrauen auf das Dasein und auf das Leben, aufgewachsen und groß geworden. In dieser Menschheit, in dieser christlichen Menschheit ist die lähmende Angst vor dem Schicksal gewichen dem Vertrauen, dem Glauben, dem fröhlichen Glauben an die Sieghaftigkeit des Geistes und der geistigen Entscheidung.
Der Glaube an die Menschwerdung ist aber auch der Glaube an die Güte. Meine lieben Freunde, dass alles Dasein gut und gut gemeint sei, weil es doch aus einer schöpferischen Bejahung hervorgeht, nicht aus einem unbegreiflichen, finsteren Drang, dass das schöpferische Ja-Sagen, das liebende und freie Erschaffen am Anfang steht und immer gut sein muss, das lernen wir durch die Menschwerdung des Sohnes Gottes. So ist also das Dasein, das Sein, das Leben nicht ein Fluch, sondern ein Segen. Nicht die Vernichtung oder die Selbstvernichtung ist erstrebenswert, sondern das Sein, das immer höhere und immer wärmere und immer reichere Sein. Ferner muss auch das Menschsein etwas Gutes sein; denn Gott hat es sich zu eigen gemacht. Die Menschwerdung Gottes ist ja nicht ein Abfall Gottes zum Unvollkommenen, sondern sie ist ein liebendes Hinausschreiten Gottes zu einem geliebten Sein, eben zum Menschsein. Dieses Menschsein kann darum nicht ein fluchwürdiges Dasein sein, nicht ein beweinenswertes Los, nicht ein unsäglicher Jammer, sondern es muss das Menschsein etwas Liebenswürdiges und Großes sein. Und alles, was dieses Menschsein mit Notwendigkeit bedeutet, also auch das Leid, der Kummer, das Kreuz, die Sehnsucht, die Einsamkeit, der Tod, auch all das muss liebend umfasst werden können, weil Gott es umfaßt hat in seiner Menschwerdung.
Ferner muss nicht nur das Menschsein, sondern auch die Menschheit, so, wie sie wirklich ist, etwas Gutes sein, weil Gott aus Liebe zu ihr in ihrer Mitte wohnen wollte. Es muss also nicht alles, was wir sind und was wir tun, gehasst und abgelehnt werden, vernichtet werden, nein, das Wesentliche und das Ewige auch in unserer Menschheit, in unserer Seele, in unserem Volke muss etwas Lichtes, etwas Gutes und Liebenswertes sein. Auch das Leid muss eine positive Lösung finden, wenn wir sie auch noch nicht sehen. Auch der Tod muss einen Lebenssinn haben, auch wenn er ein Leben auslöscht. Und sogar unser Irren und Fehlen muss einen guten Sinn haben oder wenigstens erhalten können, wenn wir auch selbst dabei keinen guten Sinn in uns tragen. Nun erst, durch die Menschwerdung des Gottessohnes, ist das Wunder der Menschenliebe in ihrer höchsten Erscheinung, in ihrer unsterblichen Kraft möglich geworden. Dass man einen Menschen, und jeden Menschen, liebt, bejaht und fördert, bloß darum, weil er ein Mensch ist, das ist erst möglich geworden, seitdem Gott ein Mensch geworden ist. Katholische Kirche, da sehe ich dein Geheimnis. Du bist verspottet, du bist angespien, du bist verfolgt und geächtet, aber du hast nicht aufgehört, die allgemeine Menschenliebe zu predigen, wie es dich der menschgewordene Gottessohn gelehrt hat. Auch in den düstersten Zeiten der Weltgeschichte hat diese Kirche die allgemeine Menschenliebe hochgehalten, und dafür sind ihre Märtyrer und Bekenner in die Konzentrationslager und Gefängnisse gegangen. Zählen Sie einmal, meine lieben Freunde, zählen Sie einmal die vielen deutschen Priester, die verhaftet und eingesperrt wurden, weil sie polnischen „Untermenschen“, wie man sie damals nannte, weil sie polnischen Untermenschen Gottesdienst hielten und Beichte hörten. Das ist der Ruhm unserer Kirche. Diese Kirche hat keinen Menschen verächtlich behandelt. Sie ist eingetreten für den Embryo und für den Idioten. Diese Kirche hat uns die Liebe zum Feind gelehrt und hat sie praktiziert. In den Wechselfällen der Geschichte haben die, welche das Christentum abgeworfen haben, nach Rache und Vergeltung gerufen. Und das geschieht noch immer. Die katholische Kirche hat Verzeihung und Versöhnung geübt und gepredigt.
Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe. Ich hatte im Gymnasium eine Lehrerin, die ihren Glauben eifrig praktizierte, in ihrem Unterricht keine ideologischen Tiraden von sich gab, sondern einen sachlichen und gut vorbereiteten Unterricht hielt. Aber siehe da, 1945 kam heraus, dass sie seit 1933 Mitglied der NSDAP war. Das bedeutete, sie flog aus der Schule und durfte ihren Beruf nicht mehr ausüben. Millionen, viele Millionen haben dieser Partei angehört, alle die kleinen Nazis, die sich eben einfangen ließen von dem System. Die Kirche hat sich dieser Menschen angenommen. Wir, ihre Schüler, wir haben unserer Lehrerin so genannte Persilscheine ausgestellt, also Bescheinigungen, dass sie sich anständig und einwandfrei verhalten hat in dieser braunen Zeit, und das hat auch Gott sei Dank dazu geführt, dass sie endlich wieder in ihren geleibten Beruf zurückkehren konnte. Die allgemeine Menschenliebe, vor allem die Liebe zu der verfolgten, gekränkten und erniedrigten Kreatur, die hat uns die Kirche gelehrt, und sie hat es gelehrt, weil sie durch die Menschwerdung Christi zur allgemeinen Menschenliebe erzogen worden ist.
Nun kann man auch, meine Freunde, das eigene Menschsein lieben, wie dunkel, wie befleckt, wie leidvoll oder wie widerwärtig es uns auch zuweilen scheinen mag. Denn es ruht in den Absichten und in den Gedanken eines liebenden Gottes, eines Vaters, der es gut mit uns meint, grenzenlos gut, selbstlos gut. Von allem Anfang an und von aller Ewigkeit her ist der Geist, der das Menschsein, der auch dich und mich berufen und geschaffen und geliebt hat, denn er wollte zu uns kommen und in unserer Mitte wohnen. Ich bin überzeugt, erst der Glaube an die Menschwerdung Gottes erzeugt auch den starken Glauben an den Menschen und an das Leben und an die Erde. Er lässt die Sonnengesänge entstehen, wie sie der heilige Franz angesichts der Krippe gesungen hat, oder wie die heilige Elisabeth sie im Herzen trug so voller Geheimnisse, oder wie jener junge Offizier, der am Ende des Krieges noch gefallen ist. Wenige Tage vorher hatte er geschrieben: „Hier draußen an der Front ist mir die Welt wieder so reich geworden, so voller Geheimnisse, so weit und so groß, so unendlich, so im Ewigen wurzelnd, dass ich mir nur noch eines wünschen kann, ewiges Leben, ewiges Schauen und Staunen, ewige Liebe.
Amen.