Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. Juni 1997

Die natürliche Offenbarung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Unter den Gläubigen herrscht eine große Unsicherheit. Es gibt so viele Religionen auf dieser Erde, und eine davon soll die wahre sein. Die Vielfalt der religiösen Gestalten legt für manche den Verdacht nahe, daß alle gleich wahr oder auch alle gleich falsch sein könnten. Nun gibt es eine Religion, die den Anspruch erhebt, nicht von der Erde zu stammen, sondern vom Himmel. Diese Religion ist das Christentum. Das Christentum beansprucht, eine geoffenbarte Religion zu sein. Also nicht eine Religion, die aus der religiösen Sehnsucht des Menschen stammt ist, sondern eine Religion, die ihre Wurzel in dem Sich-Enthüllen Gottes selbst hat. Das ist ein ungeheurer Anspruch, und dieser Anspruch ist auch immer von den Feinden des Christentums bekämpft worden. Früher waren das die alten Religionen, wie das Judentum, das natürlich seine Berechtigung verliert, wenn es eine von Gott geoffenbarte neue Religion, einen neuen Bund gibt. Aber nicht nur die alten Religionen stehen auf gegen den Offenbarungsanspruch des Christentums, sondern auch die Abgefallenen unserer Zeit, die Atheisten, die Agnostiker, die dem Christentum den Königsmantel der Absolutheit von den Schultern ziehen wollen.

Es ist deswegen meine Absicht, den Offenbarungscharakter des Christentums heute und an den folgenden Sonntagen zu entwickeln. Wir wollen damit unseren Glauben stärken und festigen. Wir wollen in der Überzeugung begründet werden: Wir stehen in der wahren, in der einzig wahren, in der geoffenbarten Religion. Nur aus der Festigkeit des Glaubens kann die überzeugende Lebensführung erwachsen. Wer unsicher ist im Glauben, kann für diesen Glauben nichts wagen und nichts aufs Spiel setzen. Nur wer im Glauben verwurzelt und fest begründet ist, der ist imstande, Opfer zu bringen für diesen Glauben, ja, wenn es nötig ist, sein Leben für ihn in die Schanze zu schlagen.

Das Christentum ist eine Offenbarungsreligion. Was heißt Offenbarung? Offenbarung heißt im allgemeinen Sprachgebrauch, etwas Verborgenes enthüllen, einen Vorhang wegziehen. Aber im religiösen Sprachgebrauch bedeutet es noch mehr, nämlich, daß Gott selbst, der Verborgene, aus seiner Verborgenheit heraustritt und dem Menschen Mitteilungen über sich und über die Menschen macht. Offenbarung im religiösen Sinne ist ein Heraustreten Gottes aus der Unsichtbarkeit und ein Hineintreten in die Sichtbarkeit des Menschen. Wie und auf welche Weise das geschieht, wird uns in späteren Predigten beschäftigen. Aber in jedem Falle ist Offenbarung ein Enthüllen verborgener Wirklichkeiten.

Die Offenbarung schließt ein Dreifaches in sich. Einmal, daß Gott sich auf irgendeine Weise den Menschen bekundet, daß er zu den Menschen spricht, sei es durch Worte, sei es durch Zeichen. Das zweite Element der Offenbarung besteht darin, daß es einen Empfänger geben muß, denn die Offenbarung richtet sich an einen Empfänger. Dieser Empfänger ist der vernunftbegabte Mensch. Wenn Gott spricht, will er gehört werden. Wenn Gott redet, will er eine Antwort vernehmen. Diese Antwort ist die gläubige Annahme, die Hingabe des Menschen an den sich offenbarenden Gott. Das dritte Element der Offenbarung ist der Inhalt. Bei der Offenbarung wird etwas vermittelt. Die Offenbarung ist nicht nur ein unbestimmter Impuls, die Offenbarung ist die Vermittlung von Wahrheit.

Nun unterscheidet das Christentum zwei Arten der Offenbarung, die natürliche und die übernatürliche. Am heutigen Sonntag wollen wir uns nur der natürlichen Offenbarung zuwenden. Die natürliche Offenbarung besteht darin, daß aus der Schöpfung auf den Schöpfer geschlossen werden kann; daß aus den sichtbaren Dingen der unsichtbare Urheber erkannt werden kann. Die Dinge dieser Welt erklären sich nicht selbst. Sie sind, wie man sagt, kontingent, d.h. sie bedürfen einer Erklärung für ihr Dasein. Es muß hinter ihnen eine Macht stehen, die sie ins Leben gerufen hat und die ihnen die Ordnung des Gehorchens mitgeteilt hat. So gibt es einen berechtigten Schluß aus der Schöpfung auf den Schöpfer. Die Heilige Schrift Alten und Neuen Bundes bezeugt uns die natürliche Offenbarung. Unser größter Komponist, Ludwig van Beethoven, hat den Psalm 19 in wunderbarer Weise vertont. Dieser Psalm 19 ist ein Zeugnis für die natürliche Offenbarung. Darin heißt es nämlich: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Himmelsgewölbe. Tag um Tag macht es die Runde, Nacht um Nacht bringt es die Botschaft. Das sind nicht Reden, nicht Worte, deren Klang nicht vernehmbar, in alle Welt dringt ihr Mahnruf hinein, ihr Wort bis ans Ende der Erde. Dem Sonnenball schuf er am Himmel ein Zelt, er tritt wie ein Bräutigam aus seiner Kammer, frohlockt wie ein Held, den Weg zu durcheilen. Vom Saume des Himmels kommt er hervor, kehrt um erst am anderen Ende. Nichts kann sich bergen vor seiner Glut.“ Das ist natürliche Offenbarung. Das ist das Loblied auf den Gott, der die Schöpfung hervorgebracht hat. Das Alte Testament verurteilt mit Schärfe jene, die diese Botschaft nicht vernehmen, die sich zwar an den Geschöpfen ergötzen, aber nicht den Weg von ihnen zum Schöpfer finden. „Toren von Natur waren nämlich die Menschen“, heißt es im Buche der Weisheit, „denen die Erkenntnis Gottes fehlte, die nicht imstande waren, aus den sichtbaren Gütern auf den Seienden zu schließen, die beim Betrachten der Werke den Werkmeister nicht fanden. Hingegen Feuer, Wind, flüchtige Luft, den Kreis der Sterne, das gewaltige Wasser, die Leuchten des Himmels hielten sie für Götter, die die Welt regieren. Doch wenn sie schon hingerissen durch deren Schönheit sie für Götter hielten, so hätten sie billig erkennen sollen, wieviel herrlicher deren Gebieter ist. Denn der Urheber der Schönheit hat sie geschaffen. Und wenn sie schon über deren Kraft und Wirksamkeit staunten, so hätten sie doch daraus schließen sollen, wieviel mächtiger ihr Schöpfer ist. Denn aus der Größe und Schönheit der Geschöpfe wird durch Vergleiche ihr Schöpfer erschlossen.“ Wahrhaftig, hier haben wir die Urkunde der natürlichen Offenbarung in der Heiligen Schrift. Und das, was das Alte Testament verkündet hat, wird im Neuen Testament aufgenommen. Der größte Theologe unserer Kirche, der heilige Paulus, schreibt in seinem Brief an die Römer: „Was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar. Gott selbst hat es ihnen geoffenbart. Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen.“ Das ist der entscheidende Satz: Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen.

Die Kirche hat immer – im Gegensatz zum Protestantismus – an der natürlichen Offenbarung und an der Möglichkeit, mit den Kräften der Vernunft die Schöpferkraft Gottes zu erschließen, festgehalten. Im Ersten Vatikanischen Konzil hat sich die Kirche zu der natürlichen Offenbarung bekannt. Da hat sie ausgesagt: „Die heilige Kirche hält fest und lehrt: Gott, aller Dinge Grund und Ziel, kann mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen mit Sicherheit erkannt werden.“ Und um es ganz deutlich zu machen, daß die natürliche Offenbarung ein Glaubenssatz der Kirche ist, hat die Kirche auf diesem Konzil formuliert: „Wer sagt, der eine und wahre Gott, unser Schöpfer und Herr, könne mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft durch das, was gemacht ist, nicht mit Sicherheit erkannt werden, der sei ausgeschlossen.“

Jetzt wissen wir es also: Es gibt eine natürliche Offenbarung. Gott hat sich in den Werken kundgetan. Der Mensch ist fähig, mit seiner Vernunft aus den Geschöpfen auf den Schöpfer zu schließen. Die menschliche Vernunft ist gewiß durch die Sünde, durch die Erbsünde und durch die persönliche Sünde, geschwächt. Aber auch die geschwächte Vernunft ist noch fähig, aus der Schöpfung auf den Schöpfer zu schließen.

Die Geschöpfe erklären sich nicht selbst. Sie rufen nach einer Erklärung. Sie könnten auch nicht da sein. Wenn sie aber da sind – und sie sind da –, dann muß jemand sie ins Leben gerufen haben. Ebenso können wir aus der Sinnfrage auf Gott schließen. Die irdischen Werte sind brüchig, begrenzt, beschränkt. Sie vermögen dem menschlichen Herzen, das nach dem Höchsten ausschreitet, keine letzte Erfüllung zu gewähren. Es muß ein Urwert, ein absoluter Wert, ein vollkommener Wert existieren, der alle irdischen Werte begründet, dem alle irdischen Werte ihre Werthaftigkeit verdanken. Aus der Natur, auch aus dem Gewissen, das ja ein Bestandteil der Natur ist,  vermag der Mensch auf den Schöpfer zu schließen. Freilich müssen wir die Beschränktheit der natürlichen Offenbarung erkennen. Die natürliche Offenbarung spricht nicht so deutlich wie die Wortoffenbarung. Sie geschieht gewissermaßen unter Runenzeichen, verhüllt. Sie ist eine Offenbarung, die schwer zu deuten ist, und ihr Inhalt ist nicht so reich, wie wir es wünschen. Diese Offenbarung geschieht indirekt, nämlich vermittelt durch Geschöpfe. Es ist nicht so, daß Gott in ihr unmittelbar zum Menschen spricht, mit menschlichen Worten, sondern er spricht durch seine Werke, und diese Werkoffenbarung ist nicht so deutlich vernehmbar wie eine Wortoffenbarung. Dennoch ist sie allgemein und kann verstanden werden.

Der große französische Schriftsteller de Maistre hat einmal in seinen Erinnerungen aus St. Petersburg von einem Schiffbrüchigen erzählt, der auf eine Insel verschlagen wurde, die er für unbewohnt hielt. Aber siehe da, am Strande entdeckte er eine Figur, die mit dem Finger in den Sand gezeichnet war. Sofort blitzte es in ihm auf: Hier muß es Bewohner geben. Daran knüpft de Maistre die Bemerkung: „Wenn eine Figur, mit dem Finger in den Sand gezeichnet, den Menschen dazu bringt, auf Urheber zu schließen, dann sollte die Figur, die am Sternenhimmel gezeichnet ist, uns nicht zum Urheber der Sterne führen?“ Wahrhaftig, es wäre töricht, diese Zusammenhänge zu leugnen. Es gibt eine natürliche Offenbarung. Der Mensch ist fähig, sie mit den Kräften seines Verstandes zu vernehmen und durch sie zum Schöpfer hingeführt zu werden.

Als Graf Mirabeau, einer der Vorläufer der Französischen Revolution, starb, ließ er sein Bett ans Fenster bringen und wollte noch einmal hinausschauen in die aufblühende Natur – es war im April 1791. Und als er dieses Schauspiel vor sich hatte, wie die Natur sproßte und in Glut getaucht war, sprach er das Wort: „Und das alles soll kein Gott geschaffen haben?“ Wahrhaftig, das alles muß ein Gott geschaffen haben.

Amen.

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