27. November 1994
Die philosophische Bestreitung der Existenz Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Die Leugnung Gottes hat viele Gesichter. Aber ihr Ausgangspunkt ist einer, nämlich die Autonomie, das Selbstgefühl, die Selbstherrlichkeit, die Selbstgesetzlichkeit des Menschen. Wie immer im einzelnen der Atheist seine Überzeugung begründen mag, alle atheistischen Erscheinungen lassen sich in letzter Linie auf die Überheblichkeit des Menschen zurückführen. In der europäischen Geistesgeschichte hat seit der Renaissance ein Bewußtsein immer mehr Menschen erfaßt, daß sie der Mittelpunkt des Kosmos seien. Sie entscheiden über Wirklichkeit und Wert. Sie entscheiden auch über Wirklichkeit und Wert der Religion. Sie besitimmen, ob Religion notwendig ist und wie Religion zu sein hat. Dieser Ausgangspunkt der Autonomie läßt sich an den verschiedenen Vorläufern oder Wegbereitern des vollen Atheismus deutlich zeigen.
Die Erkenntnis der Herrlichkeit, der Macht und der Unermeßlichkeit der Welt erzeugte bei den einen die sogenannte pantheistische Verirrung. Im Pantheismus werden Gott und Welt in eins gesetzt. Die Welt wird in ihrer numinosen Tiefe empfunden; man spricht von der „allschaffenden Mutter Natur“. Das Natürliche ist das Fromme und das Unnatürliche oder Widernatürliche ist das Böse. Vertreter dieser pantheistischen Verirrung sind z.B. der jüdische Philosoph Spinoza, aus unserem deutschen Geisteskreis Hölderlin, Goethe, Schelling. Die pantheistische Verirrung ist insofern mit der Autonomie des Menschen verkoppelt, weil der Mensch hier aus einem bestimmten Lebensgefühl, der Empfindung der Natur, urteilt, es kann keinen persönlichen Gott geben, es kann kein Gegenüber von Gott und Welt geben, sondern Gott und Welt müssen in eins gesetzt werden.
In diesem Sinne sagt z.B. Goethe: „Wer Kunst und Wissenschaft hat, der hat Religion. Wer sie nicht hat, der habe Religion.“ Hier werden also Kunst und Wissenschaft als Religionsersatz angesehen, und nur wer der Kunst und der Wissenschaft darbt, der müsse eine Religion haben.
Ein anderer Strang des Geisteslebens sah die Welt als ein System von mechanisch wirksamen Ursachen an. Die Welt ist gewissermaßen eine Maschine. Gewiß, sie mußte einmal gebaut und in Gang gesetzt werden, und dazu braucht man einen Gott. Aber nachdem sie läuft, ist Gott entbehrlich. Gott wird zum deus otiosus, also zu dem Gott, der nicht mehr in die Welt, die er einmal geschaffen hat, eingreift, weder durch Wunder noch durch eine Offenbarung. Hier bildet sich eine sogenannte natürliche Religion aus. Der Mensch bestimmt, was Inhalt dieser natürlichen Religion ist, also beispielsweise in England Tindal, Cherbury, Locke, in Frankreich Rousseau, Diderot, Voltaire. Zu dieser natürlichen Religion gehören nach diesen Autoren gewöhnlich die Existenz Gottes, Unsterblichkeit des Menschen, Freiheit des Willens. Alles andere ist menschliches Gemächte, menschliches Erzeugnis, und muß sich gefallen lassen, nach dieser von ihnen aufgestellten Naturreligion beurteilt zu werden. Daß damit die ganze Offenbarung und das Christentum hinfällt, ist offensichtlich.
Die Argumente, die im Kampf gegen das Christentum verwendet werden, lassen sich aber auch zum Angiff gegen Gott benutzen. Ein Mann wie Descartes, der französische Philosoph, hielt persönlich am Christentum fest. Aber er stellte ein Wahrheitskriterium auf, das gefährlich werden konnte. Wahr ist nach ihm nur das, was klar und deutlich erkennbar ist. Wenn sich Wirklichkeiten zeigen, die nicht klar und deutlich erkennbar sind, dann müssen sie geleugnet werden. So liegt in der Konsequenz der Descartesschen Aufstellungen die Leugnung Gottes, vor allen Dingen die Leugnung der Gottesbeweise. Und die ist ja dann von Kant vorgenommen worden. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant beschränkte die menschliche Erkenntnis auf die Empirie, auf die Erfahrung. Alles, was jenseits der Erfahrung ist, ist nach seiner Meinung dem Erkennen unzugänglich. Es gibt keine Gottesbeweise. Kant gilt als der große Zertrümmerer der Gottesbeweise. Dennoch hat er die Existenz Gottes angenommen, und zwar als ein Postulat der praktischen Vernunft. Er sagt, wir brauchen Gott. Der Mensch entscheidet, ob er Gott braucht. Und warum braucht er ihn? Er benötigt ihn für die Begründung der Moral, des Sittengesetzes, und für die Erfüllung des Glückseligkeitsverlangens. Bei Kant wird also Gott in den Dienst des Menschen genommen. Er dient dem Menschen, statt daß es, wie wir glauben, umgekehrt sein muß, daß der Mensch Gott dient. Nein, nach Kant ist die Existenz Gottes als Postulat, d.h. als Forderung, der praktischen Vernunft notwendig, um Moral und Glückseligkeitsverlangen zu befriedigen.
Selbstverständlich konnten Männer auftreten und sind Männer gekommen, die sagten, wir brauchen weder für die Moral noch für das Glückseligkeitsverlangen Gott, und diese Entwicklung ist bei Kant angelegt.
Im endigenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert nahm die Autonomie der Vernunft, die bisher auf die Vernunft gegründet war, eine andere Färbung an. Sie wurde zur Autonomie des Gefühls. Nicht mehr die Vernunft entscheidet, ob Gott existiert, sondern das Gefühl entscheidet. Einer der Hauptvertreter dieser Gefühlsphilosophie und Gefühlstheologie ist der protestantische Theologe Schleiermacher, der in Berlin gelehrt hat. Nach ihm entscheidet das menschliche Gefühl der Abhängigkeit, seine Sehnsucht nach dem Unendlichen über die Existenz Gottes. Der Mensch hat ein Gespür schlechthinniger Abhängigkeit, und danach richtet es sich, ob Gott existiert oder nicht; denn erkennen kann man Gott nicht. Darin ist er ein getreuer Schüler von Kant. Er kommt zwar auf diese Weise zu einem göttlichen Wesen, aber nicht zum persönlichen Gott. Die Gefühlsphilosophie und Gefühlstheologie Schleiermachers kennt keinen persönlichen Gott. Religion, sagt er einmal, hat nicht der, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern derjenige, der keiner Schrift bedarf oder der selbst eine machen könnte.
Wir sehen, hier ist alles auf den Subjektivismus gestellt, auf das persönliche Empfinden des Menschen. Mit dieser Theologie und Philosophie lassen sich Kirche, Kirchenlehre, kirchliche Moral überhaupt nicht mehr begründen. Und selbstverständlich gab es andere, die sagten: Mein Gefühl spricht anders als das Gefühl von Herrn Schleiermacher. Mein Gefühl sagt mir, daß wir Gottes nicht bedürfen, ja daß wir ihn gar nicht mögen.
Ein typischer Vertreter dieser gegensätzlichen Gefühlsphilosophie ist Ludwig Feuerbach. Er hat im vorigen Jahrhundert Tausenden und Abertausenden von Intellektuellen das Material geliefert, um vom christlichen Glauben zum Atheismus überzugehen. Das 19. Jahrhundert war bei den Intellektuellen weitgehend ein Jahrhundert des Atheismus. Wie kommt Feuerbach zu seiner Einstellung? Nun, sein Gefühl sagt ihm, daß der Mensch ein Bündel von physiologischen Vorgängen ist. Das Denken ist gewissermaßen ein Schwitzen des menschlichen Körpers, ein Ausschwitzen des menschlichen Körpers; und diese physiologischen Vorgänge haben auch die Vorstellung von Gott erzeugt. Der Mensch hat Wünsche, unerfüllbare Wünsche. Er kann sie auf Erden nicht befriedigen, und so projiziert er, also verlegt er seine Wünsche in ein überirdisches Reich und nennt dieses Gott. Gott, die Gottesvorstellung, ist nichts anderes als ein Produkt des Menschen. Sein Gefühl der Unerfülltheit veranlaßt ihn, einen Gott zu entwerfen, bei dem er eine Scheinerfüllung, eine illusionäre Erfüllung seiner Wünsche erlebt oder erleben soll. Wenn aber einmal das wirkliche Glück der Menschen gekommen ist, wenn nämlich alle menschlichen Bedürfnisse befriedigt sind, dann bricht die Gottesvorstellung zusammen, dann verschwindet sie, weil die illusionäre Erfüllung nicht mehr notwendig ist gegenüber der tatsächlichen Befriedigung der menschlichen Wünsche. Sie sehen sofort, daß Feuerbach einer der Väter des Marxismus und des dialektischen Materialismus ist.
Ein anderer Gefühlsphilosoph ist Friedrich Nietzsche. Nach ihm geht Gott gegen den guten Geschmack. Er verhindert die menschliche Größe, er engt den Menschen ein, er beschränkt ihn, und deswegen darf Gott nicht existieren. Das Lebensgefühl des Übermenschen wehrt sich gegen eine derartige Einengung und Beschränkung. Darum muß Gott geleugnet werden.
Das Autonomieverlangen des Menschen ist die gemeinsame Wurzel der Gottesleugnung. In der Gegenwart hat es sich in den verschiedenen Arten der Existenzphilosophie einen Ausdruck geschaffen. Die Existenzphilosophie geht von der unbestreitbaren Tatsache aus, daß unendlich viel Leid und Schmerz in der Welt ist. Ihre Anhänger sind der Meinung, daß der Mensch im Angesicht einer letzten Sinnlosigkeit, einer letzten Hoffnungslosigkeit lebt und leben muß. „Wir sind allein“, sagt einer von diesen Philosophen einmal. Er meint damit, es gibt keinen Gott. Wir sind allein. Aber angesichts der Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit soll der Mensch sein Leben aufschäumen lassen zu äußerster Intensität, soll er sein eigentliches Selbst gewinnen. Also eine radikale Bejahung des Diesseits, aber auch eine ebenso radikale Verneinung des Jenseits. Das ist die letzte Auswirkung des menschlichen Autonomiestrebens. Das Gefühl, daß alles sinnlos sei, gibt diesen Existenzphilosophen die Ansicht ein, es könne keinen Gott geben und es brauche keinen Gott zu geben.
Wie kann man, meine lieben Freunde, Anhängern des Atheismus begegnen? Ist es möglich, sie zu bekehren, sie von der Falschheit ihrer Ansichten zu überzeugen? Selbstverständlich muß immer das Bemühen um eine rationale Begründung unseres Glaubens am Anfang stehen. Wir müssen uns allezeit Mühe geben, die Gottesbeweise, die ja vielfältig vorgelegt, ergänzt und erneuert worden sind, den Menschen nahezubringen. Es gibt auch in der Gegenwart vereinzelt Schriften, welche die Gottesbeweise einleuchtend darlegen, etwa die Schriften des Saarbrücker Biologen Kuhn. Unser Bemühen muß also zweifellos immer vom Verstand ausgehen und die Einwände gegen Gottes Existenz zu widerlegen suchen. Es gibt keine durchschlagenden Beweise für die Nichtexistenz Gottes.
Aber das genügt nicht. Wir müssen zweitens positiv die Schönheit, die Herrlichkeit und den Glanz Gottes den Menschen, die nicht glauben, zu vermitteln suchen. Wir müssen sie davon überzeugen, daß Gott eine Wirklichkeit ist, die über alle noch so glänzende irdische Wirklichkeit hinausreicht, daß er eine Macht ist, die alle Macht der Erde weit übersteigt, daß er eine Intelligenz besitzt, die jede menschliche Intelligenz weit, weit hinter sich zurückläßt. Mir persönlich ist immer wieder der Blick zum Sternenhimmel ein besonders eindrucksvoller Hinweis auf Gott. Die Astronomie hat uns so viele gewaltige Daten bereitet, die uns an die Macht und Weisheit des Schöpfers gemahnen. Wenn von der Erde, meine lieben Freunde, ein Lichtstrahl ausgeht, dann schießt er mit einer Geschwindigkeit von 300 000 Kilometern in der Sekunde dahin. In 8 Minuten ist dieser Lichtstrahl bis zur Sonne gedrungen. In 4 Sekunden erreicht er die äußersten Planeten, in 4 Jahren dringt er vor bis zum Fixsternenhimmel, bis zum weitest entfernten Fixstern. In drei- bis vierhundert Jahren erreicht er jenen Raum, den wir gerade noch mit unseren Werkzeugen und Methoden erreichen können. Aber es gibt Gestirne, die sind Hunderttausende, Millionen von Lichtjahren von uns entfernt. Am 18. August 1901 zeichnete sich auf der fotografischen Platte des Astronomischen Instituts in Heidelberg ein Bild des Andromedanebels ab. Diese Strahlen, die am 18. August 1901 sich dort abbildeten, waren von dem Andromedanebel vor 1 Million Jahren ausgegangen. Sie haben 1 Million Jahre gebraucht, bis sie die Platte erreichten. Es gibt Gestirne, die sind Hunderte von Millionen Lichtjahre von uns entfernt.
Diese mathematisch sicheren Daten vermögen uns eine Ahnung von der Macht, Weisheit und Kraft des Schöpfers zu geben. Wir sollten den Menschen die Zweck- und Zielstrebigkeit der Natur aufzeigen, etwa den Bau eines Käfers oder die Struktur unseres Auges, um sie davon zu überzeugen, wie absurd es ist, anzunehmen, der Zufall, der blinde Zufall, habe so etwas hervorgebracht.
Drittens gibt es aber noch eine ganz bedeutsame Aufgabe, die uns angesichts des Atheismus und der Atheisten in unserer Umgebung gestellt ist. Die meisten Menschen sind nicht erstrangig intellektuell, die meisten sind überwiegend emotional bestimmt. Sie sprechen also stärker an auf Erlebnisse als auf Überlegungen. Deswegen ist es so bedeutsam, daß sie erleben, wie Menschen sind, die an einen Gott glauben. Sie müssen in ihrer Umgebung Menschen vorfinden, deren Leben, Verhalten, Denken und Wollen von der Existenz Gottes geprägt ist. Sie müssen Menschen begegnen, bei deren Leben sie sagen: So wie dieser Mensch ist, möchte ich sein, und den Gott, den dieser Mensch anbetet, den möchte ich kennenlernen. Wenn wir so sind, daß die Menschen ihre verschüttete Anlage für Gott wieder freilegen, daß die Sehnsucht nach Gott, die in irgendeiner Weise selbst im gottfernsten Menschen noch schlummert, daß ihre Sehnsucht nach Gott wieder aufbricht, dann haben wir die wichtigste Funktion gegenüber dem Atheismus unserer Zeit erfüllt.
Amen.