20. August 2023
Die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das am 1. November 1950 verkündete Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel spricht zunächst aus, dass Maria voll erlöst ist. Zur vollen Erlösung gehört nicht nur die Vollendung der Seele, die wir von allen Heiligen im Himmel glauben. Zur vollen Erlösung gehört auch die Vollendung des Leibes, d.h. die Vollendung des ganzen leibhaftigen Menschen. Gott verspricht das Unglaubliche, dass der Leib, in dem wir so viel Mühsal, Kummer und Not ertragen müssen, aus seiner Kümmerlichkeit und Verfallenheit befreit und zum Leben in Kraft und Schönheit geführt werden soll. Nur eine solche Erlösungsbotschaft ist eine wahrhaft menschliche Botschaft von der Erlösung. Denn der Mensch ist eine aus Geist und Leib sich aufbauende Wirklichkeit. Das ist die höchste Macht des geschaffenen Geistes, dass er dem Stoff seine eigene Gesetzlichkeit aufzuprägen vermag. Indes leiden wir daran, dass der Stoff dem Geist zähen und mannigfachen Widerstand entgegensetzt. Da dürfen wir die Verheißung vernehmen: Einmal wird es dem Geist gelingen, sich rein und ungebrochen im Stoff darzustellen. Das wird in jener Zukunftsstunde geschehen, in der Gott dem Geist ein zweites Mal gestatten wird, einen Leib aufzubauen und zu formen. Der neue zukünftige Leib wird vom Geist geformt werden nach dem Gesetz des Geistes. Er wird ein Transparent für die himmlische Liebe und Wahrheit, für Gott selbst sein.
Im auferstandenen Christus steht das Urbild dieses vollerlösten Menschen vor uns. Für uns ist das, was ihm zuteil wurde, die Hauptverheißung Gottes. Das Dogma der Aufnahme Mariens sagt uns nun, dass an einem aus uns das, was an Christus schon geschah, was für uns alle noch Zukunftshoffnung ist, schon verwirklicht ist. An Maria hat sich die Kraft des auferstandenen Christus schon voll ausgewirkt. An Maria hat sich die Verwandlungskraft des auferstandenen Christus schon radikal geoffenbart. Im Glauben an die leibliche Aufnahme Mariens in die himmlische Existenzweise vollzieht der katholische Christ seinen Glauben an die Allgewalt des auferstandenen Christus. Er sieht in diesem Ereignis die Erfüllung dessen, was Maria in einer Stunde der Entrückung sehen durfte: „Selig werden mich preisen alle Geschlechter.“ Frei von jeder Not des irdischen leiblichen Lebens lebt sie in königlicher Erhabenheit über die Gesetze des Verwelkens und Alterns, in der Teilnahme am herrscherlichen Leben unseres Herren. Was für uns alle, was auch für die Heiligen des Himmels Zukunftshoffnung ist, das ist für Maria gegenwärtige Wirklichkeit. Dass es sich gerade an ihr erfüllt hat, hat seinen Grund in ihrer Stellung in der göttlichen Heilsökonomie. Denn sie ist der Typus des Gottesvolkes der Kirche. An ihr, der Repräsentantin aller Christusgläubigen, sollte nach Gottes Ratschluss schon innerhalb der Geschichte sich ereignen, was an denen, die durch sie repräsentiert werden, erst im Kommen ist: die durch Christi Auferstehung eingeleitete Verwandlung des menschlichen Daseins, ja der ganzen Welt zum neuen Himmel und zur neuen Erde.
Das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel ist die Antwort des Himmels auf schwere und aufwühlende offene Fragen der Zeit. Die Fragen der Zeit umkreisen die mit dem Worte Materialismus gekennzeichneten Probleme. Hat der Materialismus recht oder nicht? Hat er nicht wenigstens halbrecht? Hängt nicht alles vom Leibe und seinen Nöten ab? Ist es nicht auch bei uns Christen so, dass wir uns leibliche Sicherheit wünschen vor der Tugend oder der Gebetsfähigkeit, dass uns sicheres Einkommen, eine glückliche Ehe, Gesundheit und Geld vor die Gemeinschaft mit Gott gehen? Angesichts des vielen Elends sind solche Wünsche verständlich. Aber ist dabei nicht zu fürchten, dass wir uns mit ihnen nicht hinreichend von den Materialisten unterscheiden? In dem Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel spricht die Kirche ein entschiedenes Ja zum leiblichen Leben. Vollendete leibliche Existenz ist ihre letzte Hoffnung. Im blühenden leiblichen Leben vollenden sich alle Wege der göttlichen Weltplanung. In dem entschiedenen Ja klingt jedoch ein klares Nein mit, das Nein zur jetzigen Gestalt der Welt und des Leibes. Denn sie ist der Vergänglichkeit unterworfen. Wer sich an sie hingibt, als wäre sie das Letzte und Eigentliche, verliert sich an vergängliche Werte. Er hat falsche Hoffnungen und daher letztlich gar keine Hoffnung. Der Materialist ist ein Nihilist und deshalb ein Verzweifelter.
Die Gestalt der in leibhaftiger himmlischer Existenz vor uns stehenden Mutter des Herrn ruft uns zu: Setzt eure Hoffnung auf den Leib, der durch Tod und das Kreuz hindurch zu seiner letzten Größe verwandelt wird. Alles leibliche Mühen auf Erden ist ein Ansatz für die Vollendung des leiblichen Lebens, die Gott selbst an jedem von uns wirken wird und die er an Maria schon gewirkt hat. Der Blick in diese Zukunft gibt uns die rechten Maßstäbe für die Wertung des Leiblichen und die rechten Antriebe für das leibliche Tun. „Verherrlicht Gott in eurem Leibe“ (1 Kor 6,20). Wenn Menschen die bewegende Frage stellen: Was ist der Mensch? gibt das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel die Antwort. Es gibt die Antwort, indem es uns das Bild des vollendeten, des durch Christi Heilswerk vollendeten, und zwar an Leib und Seele vollendeten Menschen darbietet. Der jetzige Mensch ist erst der Anfang des Menschen. Der vollkommene Mensch wird erst in der Zukunft hervorkommen, deren Stunde wir nicht kennen, die Gott aber kennt. Wie dieser zukünftige Mensch aussieht, ist am auferstandenen Christus zu sehen. Was an ihm schon geschah, wird durch ihn auch an uns geschehen. Die Auferstehung Christi ist von einer solchen Wirkgewalt, dass sie nach Gottes Heilsplan sich an einer aus unserem Kreis, an Maria, schon vor dem Weltende, also innerhalb der Geschichte, ausgewirkt hat. Dass es die Auferstehung der Toten überhaupt gibt, ist so gewaltig und umstürzend, dass die Frage nach dem Wann darüber verblasst, dass also die Zeitdifferenz nur eine Nebenrolle spielt.
Wo sind die Beweise für das Mariendogma vom 1. November 1950? Wenn es solche gibt, können sie nur dort liegen, wo die Grundlagen unseres Glaubens überhaupt liegen: in der Heiligen Schrift und in der mündlichen Überlieferung. Die Heilige Schrift ist das letztlich vom Heiligen Geist durch menschliche Werkzeuge der Kirche geschenkte Christuszeugnis. Sie gehört also der Kirche. Diese allein kann dafür bürgen, dass es hier um Gottes Wort geht und nicht um das Wort religiös ergriffener Menschen. Sie allein vermag den Sinn dessen, was in diesem Buch bezeugt ist, zu verstehen und zu deuten. Die Kirche ist die letzte Instanz für die Interpretation der Heiligen Schrift. Was das kirchliche Lehramt sagt, liegt in der Verlängerung dessen, was die Wissenschaft zu sagen vermag. Wenn die Wissenschaft das Schriftwort von der Hochbegnadeten deutet, das uns Lukas hinterlassen hat, kann sie nichts Endgültiges über das Ausmaß dieser Begnadung sagen. Das kirchliche Lehramt gibt uns die Versicherung, dass die Begnadung auch die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel in sich schließt. Wenn der katholische Christ einem solchen Zeugnis des katholischen Lehramtes vorbehaltlos Vertrauen entgegenbringt, dann liegt der Grund darin, dass er den Heiligen Geist für das Herz und die Seele der Kirche hält und ihn daher wirksam weiß, wenn das kirchliche Lehramt spricht. Der Heilige Geist vollzieht dabei jene Funktion, die Christus von ihm voraussagte, als er den Seinen verhieß, der Heilige Geist werde sie in alle Wahrheit einführen. Die durch das kirchliche Lehramt vorgenommene Deutung der Heiligen Schrift ist eine Selbstinterpretation des Heiligen Geistes.
Was die zweite Quelle, die mündliche Überlieferung betrifft, so glaubt nach dem Ausweis der liturgischen Texte die Christenheit seit dem siebenten Jahrhundert an das Dogma der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. So stellt dieses keine neue Wahrheit dar, sondern eine alte Wahrheit in neuer Fassung. Freilich stand die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel dem Volke Gottes nicht immer so klar vor Augen wie heute. Heute gehört sie als fester Bestandteil zum Glaubensbewusstsein. Von der voll entfalteten Gestalt lässt sich leichter denken, was im Embryonalzustand schwerer zu fassen ist. Das ist ein Vorgang, der uns überall begegnet. Erst die voll entfaltete Eiche lässt die ganze Kraft und die Wachstumsrichtung der Eichel verstehen. Man kann die Eiche nicht von der Eichel her, sondern nur die Eichel von der Eiche her, das Unentfaltete vom Entfalteten her begreifen. Der Heilige Geist hat die Kirche immer tiefer in das Geheimnis von Werk und Leben Christi eingeführt. Diese Aufgabe ist auf kein Jahr und kein Jahrhundert begrenzt. Der Heilige Geist vollzieht sie bis zum Ende der Zeiten. Was die Kirche dabei sieht und ausspricht, ist immer das alte Wahre, aber in stets lebendiger Entfaltung. Die Kirche tut nur, was ihr der Christusglaube sagt, ja, was ihr der Gehorsam gegen Jesus Christi abverlangt. So ist das Dogma von der Aufnahme Mariens in den Himmel Vollzug des Christusglaubens. Er heißt uns zu sprechen: Singet dem Herrn ein neues Lied, denn Wunderbares hat er getan.
Amen.