Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
28. August 2022

Ist Gottesdienst „Religionswahn und Afterdienst Gottes“?

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Christentum hat von Anfang an den eucharistischen Gottesdienst als die Mitte seines religiösen Lebens angesehen, die Feier der Messe an den Sonntagen als unentbehrlich erklärt und ihre Teilnahme geboten. Niemals haben alle Christen, die dazu verpflichtet sind, den Sonntagsgottesdienst besucht. Aber in den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Messteilnehmer rapide gesunken. Wie erklärt sich dieser Abfall? Die Gründe für das Fernbleiben katholischer Christen vom sonntäglichen Gottesdienst sind vielfältig. Häufig sind sie platt und seicht. Viele sind zu faul und zu bequem, um aufzustehen, zur Kirche zu gehen und dort zu beten. Manchen passt die Zeit und die Dauer des Gottesdienstes nicht; er ist ihnen zu früh, und er dauert zu lange. Zahlreiche Christen vermissen in der nachkonziliaren Eucharistiefeier das Numinose, also die Erhabenheit der Anbetung des Herrn Himmels und der Erde. Unterhaltung und Ermahnungen, die Umwelt zu schützen, finden sie auch anderswo. Der Hauptgrund für das Versäumnis des sonntäglichen Gottesdienstes ist allerdings ein anderer. Es ist der Verlust des Glaubens. Die meisten Messschwänzer haben die Überzeugung von Gott und seiner Gründung, der Kirche Gottes, vom Sinn und von der Pflicht der Gottesverehrung verloren. Sie halten den Gottesdienst und die Anbetung Gottes überhaupt für überflüssig und sinnlos. Sie können sich für diese Einstellung auf den Königsberger Philosophen Immanuel Kant berufen. Er hat mit folgenden Sätzen denen, die des Gottesdienstes überdrüssig sind, eine scheinbare Rechtfertigung gegeben: „Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.“ Wahn ist eine inhaltliche Denkstörung, die durch subjektive Gewissheit des Betroffenen, Unkorrigierbarkeit (durch widerlegende Argumente) und meist durch den Widerspruch zum objektiven Sachverhalt gekennzeichnet ist. Afterdienst ist ein Verhalten, das in sich unsinnig und verkehrt ist und dem Anerkennung und Verehrung zollt, was total irrig ist. Kant fährt fort in seiner Verurteilung religiösen Verhaltens, indem er schreibt: „Das Beten, als ein innerer förmlicher Gottesdienst und darum als Gnadenmittel gedacht, ist ein abergläubischer Wahn.“ Für Kant war die Erfüllung der täglichen Pflichten genug Gottesdienst und allein Gottesdienst. Die Gleichsetzung von Religion und Moral und die Ablehnung spezifisch religiöser Pflichten haben eine starke Wirkung ausgeübt. Kant ist nicht irgendwer. Er gilt als großer Gelehrter und als der Philosoph des Protestantismus. Sein Einfluss war und ist gewaltig. Nach ihm richten sich in Deutschland und anderen Ländern Millionen von Menschen. Sie lassen sich von ihm einreden: Man braucht nicht zu beten und den Gottesdienst zu besuchen. Es genügt, die täglichen Pflichten zu erfüllen.

Der Mensch stößt überall an Grenzen, in seinem eigenen Leben, in der Natur, er wird krank, er muss sterben. Er hat das Bewusstsein der eigenen Beschränktheit und Ohnmacht. Er erlebt sein Ungenügen, sein Versagen, seine Schuld. Diese weckt notwendig das Sündenbewusstsein, mit ihm das Verlangen nach Versöhnung. Die Tatsache der Sünde und des Übels und das Verlangen, ihr Dasein zu erklären und womöglich zu zerstören, bilden den tiefsten Grund aller Religionen. Dieses Sündenbewusstsein hat seinen Grund im Gewissen. Die moralische Seite, das Gewissen, ist der wunde Punkt, in dem der Ungläubige am sichersten gepackt werden kann. Die Abhängigkeit des Menschen von Gott aufgrund der Schöpfung ist das objektive, das Sünden- und Schuldbewusstsein das subjektive Moment der natürlichen Religion. Der Mensch hat von Natur aus eine religiöse Anlage. Sie drückt sich in verschiedener Weise aus. Nicht wenige Menschen sagen: Es muss doch etwas geben. Gemeint ist: etwas Höheres, etwas Letztes, etwas über uns, wie immer dieses vorgestellt werden mag. Sie spüren, dass wir Menschen nicht allein sind, dass die Erde nicht ein und alles ist. Eine andere Weise, wie sich die religiöse Anlage im Menschen meldet, ist die unausrottbare Neigung, zu etwas aufzusehen, zu etwas emporzuschauen, etwas zu schätzen, etwas zu vergöttern.

Die Anerkennung und Verehrung Gottes äußert sich in Gehorsam und Zuneigung, in Gebet und Gottesdienst. Der Kult, die Verehrung die Gott und ihm allein gebührt, ist die Anbetung. Anbetung ist die rühmende Anerkennung der (in Schöpfung und Heilsgeschichte kundgewordenen) Herrlichkeit Gottes, der um seiner selbst willen preis- und anbetungswürdig ist. In der Anbetung wird die Grundwahrheit des Geschöpfseins realisiert. Der Mensch wendet sich bewusst dem Schöpfer zu, der ihn mit der Gabe des Seins beschenkt. Der Mensch, der Gott anbetet, handelt seinsgerecht. Er bekennt seine Abhängigkeit von Gott und seine Unterordnung unter Gott, wenn er ihn lobt und preist, wenn er ihn bittet und ihm dankt. Indem man Gott Verehrung und Anbetung erweist, leistet man das ihm Gebührende, stellt man das richtige sittliche Verhältnis zu Gott her. Die Anbetung vollzieht sich in geziemender Weise im Gottesdienst. Er hat den Zweck, in gottgefälliger Weise dem Höchsten die gebührende Ehre zu erweisen. Paulus sieht die Schuld der Heiden darin, dass sie, obwohl sie Gott erkannt, „ihn nicht als Gott verherrlicht oder ihm gedankt haben“ (Röm 1,21).

Anbetung als gesamtmenschliche Antwort auf die Erfahrung des Heiligen Gottes hat eine innere Dimension: das innerliche, demütig-dankbare Anerkennen Gottes als des Herrn und Schöpfers, Retters und Befreiers. Der vorzüglichste innere Akt der Gottesverehrung ist die Bereitschaft, sich Gott hinzugeben und sich ihm gänzlich zu unterwerfen, um ihm so die gebührende Ehre zu erweisen. Die innere Haltung der Anbetung will sich äußern in Gesten, Wort und Schweigen. Der Einklang des Innern und Äußern in der Gottesverehrung ist wohl begründet. Der Mensch schuldet Gott die Hingabe aller Kräfte im religiösen Tun. Die innere anbetende Hinwendung zu Gott hängt auch von ihrem äußeren Vollzug ab; ohne ihn ermattet sie, verarmt sie und erstirbt schließlich. Die Natur des Menschen drängt zur äußeren Gottesverehrung. Beim Einzelmenschen strömt die innere religiöse Ergriffenheit psychologisch auf das sinnliche und leibliche Sein und Handeln über. Sie äußert sich in Wort und Gesang, in Haltung und Gebärde. Gesten der Anbetung sind Verbeugung, Niederknien, Niederwerfen des Körpers (mit Küssen des Bodens), Erheben oder Falten der Hände, Berührung des geweihten Gegenstandes. Selbstverständlich müssen innere Gesinnung und äußeres Verhalten übereinstimmen. Äußere Handlungen der Gottesverehrung, die nicht von der inneren Verehrung beseelt und getragen sind, sind wertlos.

Der Mensch ist nicht allein; er lebt in der Gemeinschaft und in der Gesellschaft. In seinem ganzen Leben und Wirken ist er auf die Tätigkeit anderer angewiesen. Seine Entwicklung, seine Erziehung, sein Lernen sind ohne die Mitwirkung anderer nicht denkbar. So wird der Mensch auch in der Religion von anderen unterwiesen, unterrichtet und belehrt, angeleitet und geführt. Er steht vor Gott als Gemeinschaftswesen und muss daher Handlungen der Anbetung im Verein mit anderen leisten. Die soziale Natur des Menschen führt zu gemeinsamer Gottesverehrung. Die natürlichen Gemeinschaften (Familie, Volk) stammen von Gott und sind deshalb verpflichtet, Gott zu ehren. Sie stehen in ihrer Verbundenheit vor Gott, und es ist daher notwendig, dass sie dieselbe auch durch gemeinsame Gottesverehrung zum Ausdruck bringen. Die Familie ist nicht nur vor den Menschen eine Einheit, sondern auch vor Gott. So muss sie dieselbe auch im gemeinschaftlichen Gebet ausdrücken. Das Volk ist die Summe von Menschen, die sich als eine ideelle Einheit versteht, d.h. als eine durch gemeinsame Herkunft, Geschichte, Kultur und Sprache verbundene Gemeinschaft. Das Volk schuldet Gott die gemeinsame Anerkennung und Verehrung.

Für die Gesellschaft und ihre Kultur ist der sichtbare und öffentliche Gottesdienst ebenso pflichtgemäß wie heilsam. Religion ist keine Privatsache. 1. Die Öffentlichkeit des Gottesdienstes hebt die subjektive Frömmigkeit. Das Beispiel anderer und das Erlebnis der Gemeinschaft sind geeignet, den Einzelnen in seiner religiösen Haltung zu stärken und zu festigen. Als Konrad Adenauer 1955 nach Moskau reiste, sah er für den Sonntag den Besuch der hl. Messe in der Ludwigskirche vor. Das Bild des knienden Kanzlers ging durch die ganze Welt. Die öffentliche Gottesverehrung ist auch sittlich von größter Bedeutung. Sie belebt den religiösen Sinn und das Vertrauen auf den einzigen Mittler. Sie steigert die Liebe zu der einen, heiligen, katholischen Kirche. Sie bekämpft den individualistischen Trieb. 2. Die Öffentlichkeit des Gottesdienstes fördert die objektive Ehre Gottes. Er wird dadurch vor den Völkern als höchster Herr und letztes Ziel bekannt. Der Tag gemeinsamer öffentlicher Gottesverehrung ist seit Entstehung des Christentums die Feier des Brotbrechens, die Gedächtnisfeier des Opfers Christi. Sie ist der Höhepunkt gottgewollter Anbetung. Wenn der Priester das heilige Opfer darbringt, ehrt er Gott, erfreut er die Engel, erbaut er die Kirche, hilft er den Lebenden, erwirbt den Verstorbenen Ruhe und macht sich selbst aller Güter teilhaftig. Bei der Darbringung des Messopfers ist Gott in besonderer Weise gegenwärtig und wirksam. Der Einzelne kann in seinem Glauben nur bestehen, wenn er immer wieder das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung Jesu mitfeiert. Sobald dem Menschen die Hoffnung und Aussicht auf unvergängliche Güter genommen ist, stürzt er sich gierig auf die irdischen Güter, und von diesen versucht ein jeder, soviel er vermag, an sich zu reißen. Daher Eifersucht, Missgunst, Hass. Kein Friede draußen, keine Ruhe drinnen. Wo die Gottesliebe nicht herrscht, dort hat die fleischliche Begierde die Oberhand. Jeder, der zum Gottesdienst kommt, legt vor den anderen Christen ein Glaubensbekenntnis ab. Jeder, der grundlos fehlt, macht sich schuldig vor den Mitchristen. Denn wir Menschen leben auch vom Zeugnis und Beispiel anderer. Wenn ich fernbleibe, dann bleibe ich meinen Mitchristen mein persönliches Glaubenszeugnis schuldig.

Man kann fragen welchen Nutzen die Religionsübung hat und wem sie dient. Die Gottesverehrung nützt nicht Gott. Der Allerhöchste bedarf nicht der äußeren Ehre, da er als der unendlich Vollkommene sich selbst genügt. Schon die Erschaffung des Menschen hat nicht Gott bereichert, sondern die Geschöpfe. So bringt auch die Verherrlichung Gottes nicht ihm Gewinn, sondern dem Menschen. Der hl. Augustinus sagte es: „Uns nutzt es, Gott zu verehren, nicht Gott dem Herrn selbst.“ Man kann in einem richtigen Sinne sagen: Nicht Gott benötigt die Verehrung, sondern der Mensch hat es nötig, Gott zu verehren. Gott bedarf auch des Bittgebetes nicht, um die Bedürfnisse des Menschen zu erfahren oder gnädig gegen ihn gestimmt zu werden. Dennoch kann er auf das Gebet nicht verzichten, weil er verlangen muss, dass der Mensch ihn als höchsten Herrn und Geber alles Guten, als Urgrund und Endziel seines Lebens anerkenne, was eben im Bittgebet geschieht. Die geistigen Geschöpfe, die Menschen, sind berufen, den eigentlichen Zweck der Schöpfung zu erfüllen, die stumme Sprache der Natur zum lebendigen Hymnus zu gestalten. Was die Pflanzen und die Tiere durch ihr Sein und Leben tun, nämlich Gott verherrlichen, der sie so wunderbar ausgestaltet hat, das ist dem Menschen aufgetragen in Lob und Dank, die Gott dargebracht werden, zum Ausdruck zu bringen. Die wesentliche Eigentümlichkeit des Menschen, die ihn von allen übrigen Geschöpfen der sichtbaren Welt unterscheidet, ist seine Fähigkeit, mit Gott zu reden. Das Sein und die Würde des Menschen werden durch den Gottesdienst gefördert. Im Gottesdienst erinnert sich der Mensch seiner Gottähnlichkeit und Gottbestimmung. Indem er sich anbetend oder flehend Gott unterordnet, ordnet er sich der gottgewollten Ordnung ein. Die Religionsübung wirkt fördernd auf die öffentliche Gesittung. Die Menschen werden zu ihrem Heile an den höchsten Herrn erinnert, vom Bösen abgehalten, für das Gute gewonnen, wenn immer sie sich in die öffentliche Religionsübung eingliedern. Die Religion und die religiöse Übung leisten der Kultur einen unerlässlichen und unersetzlichen Dienst. Von ihr geht eine wunderbare, die Seelen einigende, die Klassen versöhnende Kraft aus; sie adelt die Arbeit, sie macht die Berufstätigkeit zu einer Art Gottesdienst, sie weckt Opferbereitschaft und Gemeinsinn sowie das Bewusstsein der Verantwortlichkeit, sie schützt und hegt Scheu und Scham, sie lässt den Geist der Treue erstarken. Das sittliche Schaffen im Leben und im Beruf leidet durch die Gottesverehrung keinen Schaden. Das Gebet adelt und fördert die Arbeit. Gebet und Arbeit sind, recht verstanden, beide Gottesdienst. Die Anbetung erhebt und stärkt das Gemüt und den Willen der Menschen, damit sie den Dienst in der Welt desto gewissenhafter und treuer erfüllen.

Wer es unterlässt, Gott anzubeten, verliert den Blick auf seinen Schöpfer und Herrn. Er zerschneidet das Seil, das ihn an den Unendlichen, Ewigen, Absoluten bindet. Er verlässt den Felsen, auf dem seine Füße Halt finden. „Für dich ist es schlimm, nicht für Gott, wenn du den Namen Gottes von dir stößt“ (Aug.). „Gott verlassen heißt zugrunde gehen“ (Aug.). Wer es unterlässt, Gott anzubeten, verarmt. Ihm entgeht der Reichtum Gottes, seiner Offenbarung, seiner Gnade. Wer es unterlässt, Gott anzubeten, verliert das ewige Ziel aus den Augen. Er läuft und läuft, aber nicht zum Ziel.

Der tiefste Grund der Religion ist das Empfinden der Abhängigkeit des Menschen von der Natur und von dem Herrn der Natur. Der Mensch weiß oder ahnt, dass über dem Endlichen ein Unendliches, über dem Zeitlichen ein Ewiges sein muss. Religion lebt aus der Überzeugung, dass es mit der von Kontingenz und Endlichkeit geprägten Wirklichkeit nicht sein Bewenden haben kann. Der Philosoph Hermann Lübbe sagt es auf seine Art: Die eigentliche Funktion der Religion ist, „eine Praxis der Kontingenzbewältigung“ zu bieten. Gott will und muss anerkannt werden als Urgrund unseres Seins, als Urheber aller Güter, als Vater und Leiter aller Dinge. O Gott, schenke uns immerdar die Gesinnung, dass wir deinem Willen entsprechend leben, die wir ohne dich nicht sein können.

Amen.

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