Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. Oktober 2023

Der barmherzige Gott

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Barmherzigkeit Gottes (Jahwes) gehört zu den Urerfahrungen des Volkes Israel. Die Patriarchenerzählungen, die Sinaitradition, die Gottessprüche in den prophetischen Büchern, die Psalmen, die späteren Bücher bezeugen: Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Bundeshuld und Treue. Das Neue Testament knüpft nahtlos an die Lehre des Alten Testamentes an. Gott ist der Vater der Erbarmungen (2 Kor 1,3), erklärt der heilige Paulus. Die in Jesus, dem Christus, geschehene Erlösung ergibt sich aus Gottes Barmherzigkeit. Gott, der reich ist im Erbarmen, hat uns mit Christus lebendig gemacht (Eph 2,4). Gott hat uns gerettet durch sein Erbarmen, durch das Bad der Wiedergeburt und durch die Erneuerung des Heiligen Geistes (Tit 3,5). Die Barmherzigkeit Gottes ist die Bereitwilligkeit Gottes, der notleidenden Kreatur aus freier Gnade zu Hilfe zu kommen. Die göttliche Barmherzigkeit ist grundsätzlich allumfassend. Auch das göttliche Strafwalten zielt zunächst auf Bekehrung als Voraussetzung neuen Erbarmens. Nur die Verstocktheit setzt ihr eine Grenze. Der Mensch darf gegen die Barmherzigkeit Gottes nicht sündigen durch Vermessenheit. Die Barmherzigkeit Gottes in der Weise und den Bedingungen ihres Erweises steht in dem souveränen Ermessen Gottes. Das Bittgebet ist die Appellation des Menschen an die Barmherzigkeit Gottes und zugleich deren Rühmung. Lukas, der Arzt, erzählt uns das ergreifende Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der Inhalt dieses Gleichnisses drängt förmlich zum Ergriffensein: die zerlumpte Gestalt des Sohnes, sein reuiges Bekenntnis: „Vater, ich habe gesündigt“, die liebevolle Umarmung des Vaters: „Als er noch fern war, erblickte ihn sein Vater, fiel ihm um den Hals und küsste ihn.“ Kein Vorwurf, keine Beschimpfung, keine Abrechnung des Vaters mit dem heruntergekommenen Sohn. Nur Erbarmen, Freude, Wiederaufnahme. Das Erbarmen trieb Jesus dazu, auch den Zöllnern brüderlich nahe zu sein, an ihren Gastmählern teilzunehmen. Aus Barmherzigkeit hat er dabei die Gefahr hingenommen, dass Übelwollende ihn als „Schlemmer“ und „Trinker“ einstuften. In der Bergpredigt preist unser Herr die Barmherzigen selig, „denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“. Scharf verurteilt wird der unbarmherzige Knecht, dem sein Herr eine Riesenschuld erlassen hatte, der aber seinen Mitknecht wegen einer geringfügigen Schuld ins Gefängnis werfen ließ. Die Heiligen der Kirche haben das Hohelied der Barmherzigkeit Gottes gesungen. Thomas von Aquin schreibt: „Mag der Mensch ein noch so großer Sünder sein, er muss (!) hoffen, dass Gott ihm verzeiht, wenn er nur vollkommen bereut und sich bekehrt.“ Und Franz von Sales formuliert: „Wenn der Mensch sich rein wäscht, klagt Gott ihn an; wenn der Mensch sich anklagt, wäscht Gott ihn rein.“ Das Erbarmen Gottes rufen wir in jeder heiligen Messe an, und zwar mehrfach. Im Kyrie eleison steigt unser Flehen sogar mit dem Rest der griechischen Sprache in unserer Liturgie zum Himmel. Das Leben der Gläubigen ist erfüllt von den Machttaten der göttlichen Barmherzigkeit. Den besten Kommentar liefern Tatsachen des Lebens.

In einem schottischen Dorf lebte eine Mutter. Ihre Tochter, jung und schön, zog in die Stadt und kam bald unter die Räder. Der Mutter blieb es nicht verborgen. Sie weinte viel und betete noch mehr. Oft ganze Nächte hindurch. Mutterliebe ist so. Wenn eine Mutter selbst nicht mehr helfen kann, liegt sie so lange auf den Knien, bis Gott hilft. Wieder einmal also betet jene schottische Mutter eines Abends lange für ihr Kind. Es geht schon auf Mitternacht zu. Das Gebet will kein Ende nehmen. Da hört die Frau plötzlich Schritte, die zur Tür hereinkommen. Sie steht auf, wendet sich um und sieht sich ihrer Tochter gegenüber. Das Kind war reuig heimgekehrt, und wie der Vater vom Evangelium den verlorenen Sohn, so nimmt in jener Nacht die Mutter die verlorene Tochter mit Freuden wieder auf. „Mutter“, fragt dann die Tochter, „wie kommt es, dass ich noch um Mitternacht die Tür offen fand?“ „Kind“, entgegnete die Mutter, „seitdem ich wusste, dass du in Not bist, habe ich die Tür weder bei Tag noch bei Nacht jemals verschlossen. Du solltest sie offen finden, wenn immer du heimkommen würdest.“ O wundergroße Mutterliebe! Unendlich größer als die Mutterliebe ist Gottes Barmherzigkeit. „Kann wohl eine Mutter ihr Kind vergessen, dass sie sich seiner nicht erbarmt? Und wenn sie es vergessen könnte, ich werde dich nicht vergessen“ (Is 49,15). Gottes Tür steht bei Tag und Nacht immer offen, monatelang, jahrelang, lebenslang. Gottes Barmherzigkeit währt bis zum letzten Atemzug eines jeden Menschen.

Gottes Barmherzigkeit geht dem Sünder, dem Gottvergessenen, dem Gottlosen nach. Der belgische kommunistische Abgeordnete Jacquemotte starb während einer Eisenbahnreise plötzlich infolge eines Schlaganfalls. Er hatte in dem Zug ein Abteil gewählt, das bald ganz überfüllt war. Als letzter Passagier war ein katholischer Priester zugestiegen, der nur noch neben dem kommunistischen Abgeordneten einen Sitzplatz finden konnte. „Sie sehen sehr bleich und krank aus, mein Herr“, sagte der Priester zu dem neben ihm sitzenden Abgeordneten, ohne ihn zu kennen. Jacquemotte bestätigte, dass er sich tatsächlich nicht wohl fühle und schon länger leidend sei. Ein Wort gab das andere, sie kamen in ein eifriges Gespräch. Wohl schon lange nicht hatte Jacquemotte so nahe neben einem Priester gesessen. Erinnerungen stiegen in ihm ab. Er erzählte dem Abbé, dass er „eigentlich“ auch Katholik sei, dass er noch gern an seine erste heilige Kommunion zurückdenke und an seine gute Mutter, die ihm eine christliche Erziehung gegeben habe. Er sprach schließlich sogar vor allen Anwesenden sein Bedauern darüber aus, dass er heute so ganz dem Kommunismus verfallen sei. Der Priester wollte ihm mit einigen aufmunternden Worten erwidern, allein es war keine Zeit mehr dazu. Die göttliche Barmherzigkeit wollte auf dieses Bekenntnis hin selbst die Antwort geben: Der Abgeordnete brach in diesem Augenblick, vom Schlag getroffen, zusammen, und der Priester fing ihn in seinen Armen auf. Tief erschüttert hörten alle Mitreisenden, wie der Priester, bis ins Innerste ergriffen, die Absolutionsworte sprach: Ego te absolvo. Ich spreche dich los von deinen Sünden. Weil der Priester das heilige Öl bei sich trug, spendete er dem Sterbenden noch rasch die Letzte Ölung. Jacquemotte verschied danach still und ergeben in den Armen eines der früher von ihm so sehr gehassten Priester.

Gottes Barmherzigkeit weiß auch in scheinbar hoffnungslosen Fällen zu retten. Durch die Straßen einer französischen Stadt rennt wie wahnsinnig ein Mann. Er rennt freiwillig in den Tod. Jetzt steht er auf dem Brückengeländer. Unter ihm rollen die grauen Wogen des Stromes. Ehe es jemand hindern kann, springt er in die Tiefe. Ein paar Tage später fischt man die Leiche aus dem Wasser. Es lag offenbar Selbstmord vor. Der Witwe des Selbstmörders, einer tiefreligiösen Frau, lässt es keine Ruhe. Ihr Gatte war ein herzensguter Mensch gewesen. Unbegreiflich ist es ihr, dass er sich das Leben nehmen konnte. Ob er ewig verdammt ist? Alles in ihr sträubt sich gegen diesen Gedanken. Ob seine Seele im Jenseits gut aufgenommen wurde? Die Frau wagt es nicht zu hoffen. In dieser quälenden Ungewissheit begibt sich die Frau eines Tages zum Bahnhof, setzt sich in den Zug und fährt in ein kleines Dorf im Osten Frankreichs. Dort lebte als Pfarrer von Ars Johannes Vianney, ein guter, ein heiliger Priester. Er wusste mehr als andere von dem, was zwischen Himmel und Erde unsichtbarerweise ge-schieht. Ihn suchte die Witwe auf, um Trost zu haben. Dichtgedrängt stehen die Menschen in der Kirche zu Ars, als die Frau eintritt. Eben hält Pfarrer Vianney Christenlehre. Plötzlich unterbricht er seinen Vortrag, macht eine Pause und sagt dann unvermittelt: „Zwischen Brückenrand und Wasserspiegel ist Raum genug für Gottes Barmherzigkeit.“ Keiner der Zuhörer weiß, was das Wort bedeuten soll. Auch diejenige weiß es nicht, die es angeht. Verwirrt steht sie in der Kirche. Doch schon hat der heilige Pfarrer seinen Platz verlassen, schreitet langsam durch das Gotteshaus, bleibt vor ihr stehen, sieht sie gütig an und sagt noch einmal: „Frau, zwischen Brückenrand und Wasserspiegel ist Raum genug für Gottes Barmherzigkeit.“ So groß ist Gottes Barmherzigkeit. Da ist ein Mensch, der seine Seele ins ewige Verderben werfen will, aber Gottes barmherzige Hand fängt sie auf und bewahrt sie vor dem Untergang. So groß ist Gottes Barmherzigkeit. Kein Sünder, auch der größte nicht, darf an Gottes Barmherzigkeit verzweifeln. Barmherzigkeit ist eine Wesenseigenschaft Gottes. Vertrauen wir auf seine Barmherzigkeit! Aber machen wir uns auch tauglich, sie zu erfahren.

Amen.

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