30. September 2018
Die hinreichende und die wirksame Gnade
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das Evangelium, das Sie eben gehört haben, berichtet von einem Hochzeitsmahl, zu dem viele geladen waren, aber die Geladenen folgten der Einladung nicht. Dieses Gleichnis des Herrn ist ein Bild für eine tiefe Wahrheit. Es spricht vom Angebot der Gnade und von der Ablehnung der Gnade. Was ist Gnade? Gnade ist jede geistliche Gabe, die uns Gott zu unserem Heil verleiht. Es gibt Gnaden, welche die Fähigkeit zu Heilshandlungen geben, aber infolge des widerstrebenden Willens die von ihnen beabsichtigten Heilshandlungen nicht hervorbringen. Man nennt diese Gnaden hinreichende, bloß hinreichende Gnaden. Sie sind nicht wirksam. Sie werden angeboten, aber sie werden nicht angenommen. Die Existenz einer wahrhaft hinreichenden Gnade, die aber wegen des Widerstandes des Willens unwirksam bleibt, wird in der Heiligen Schrift mit größtem Ernst bezeugt. Den Städten, welchen Christus Strafreden hielt, fehlte es nicht an Bekehrungsgnade, aber an Bekehrungswillen: „Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wären zu Tyrus und Sidon die Wunder geschehen, die bei euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche Buße getan. Ich sage euch: Tyrus und Sidon wird es am Tage des Gerichtes erträglicher als euch. Und du, Karpharnaum, wurdest du wohl bis zum Himmel erhoben? In die Unterwelt sollst du hinabgestoßen werden. Denn wären in Sodom die Wunder geschehen, die in dir geschehen sind, es hätte Buße getan und stände heute noch. Doch ich sage euch: Dem Lande Sodom wird es am Tage des Gerichtes erträglicher gehen als dir.“ Jerusalem, der heiligen Stadt, ist die Gnade des Herrn wiederholt angeboten worden, aber es hat sich ihr versagt. „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie eine Henne ihr Küchlein unter ihre Flügel sammelt, und ihr habt nicht gewollt! Nun wird euer Haus euch verödet bleiben.“ Die Gleichnisse von den Talenten, vom unbarmherzigen Knecht, von den Winzern und von den törichten Jungfrauen bezeugen den gleichen Tatbestand: Die Gnade wird angeboten, aber sie wird nicht angenommen. Die zahlreichen Mahnungen eröffnen den Blick für die schwere Verantwortung, die die Gnade für den Menschen bedeutet. „Gebraucht er sie nicht zu seinem Heile, so wird sie ihm zum Unheil.“ „Als Mitarbeiter ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade nicht vergebens empfangen habt“, schreibt Paulus an die Gemeinde in Rom. Die größere Gnade steigert die Schuld des Menschen, der sich ihr versagt. „Wäre ich nicht gekommen und hätte ich nicht zu ihnen geredet, so wären sie ohne Sünde. Nun aber haben sie keine Entschuldigung für ihre Sünde. Wer mich hasst, der hasst auch meinen Vater. Hätte ich unter ihnen nicht die Werke vollbracht, wie sie kein anderer vollbracht hat, so wären sie ohne Sünde. Nun aber haben sie diese Werke gesehen und hassen mich und meinen Vater. Doch es muss das Wort in Erfüllung gehen, das in ihrem Gesetze geschrieben steht: Sie hassen mich ohne Grund.“ Dennoch kann man die unwirksame Gnade nicht als ein Unheil bezeichnen. In ihr wird ja den Menschen die Gnade Gottes angeboten; sie sind von der Liebe Gottes erfasst. Diese Gnaden, auch die unwirksamen Gnaden, kommen aus der Liebe Gottes. Sie sind Ausdruck der göttlichen Liebe. Aber der von der Liebe Gottes ergriffene Mensch widerspricht ihr. Er will nicht in Gehorsam und Hingabe leben, sondern in Selbstherrlichkeit.
Die Kommunionaussage, der Kommunionvers der heutigen heiligen Messe erinnert daran, Gott hat befohlen, treu seine Gebote zu beachten. Und er gibt die Kraft, dass wir sie beachten können. Es gibt die wirksame Gnade. Dies ist jenes göttliche Tun, das den Willen des Menschen mit unfehlbarer Sicherheit zu einer Heilshandlung bewegt. Auch die wirksame Gnade wird von der Heiligen Schrift vielfältig bezeugt. „Meine Schafe hören auf meine Stimme. Ich kenne sie, und sie folgen mir. Ich schenke ihnen das ewige Leben. Sie werden in Ewigkeit nicht verloren gehen, und niemand wird sie meiner Hand entreißen. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist mächtiger als alle. Niemand wird sie der Hand meines Vaters entreißen“, weder eine äußere Macht noch die Schwäche und Bosheit des eigenen Willens. Das sind jene, die Christus zu seinen Freuden gemacht hat; sie sind Gottes Werk. Er hat sie umgeschaffen zu guten Werken. Ein wunderbares Beispiel für die Wirksamkeit der Gnade, die Wirkmächtigkeit der Gnade ist der heilige Paulus. Ihn hat die Gnade nicht bloß zu einem Christusgläubigen, sondern zu einem bevorzugten Werkzeug Christi gemacht, umgewandelt. Er bekennt als seine eigene Erfahrung: „Ich bin der Geringste unter den Aposteln, nicht wert, Apostel zu heißen, denn ich habe die Kirche Gottes verfolgt. Aber durch die Gnade Gottes bin ich, was ich bin. Seine Gnade, die mir zuteil geworden, ist in mir nicht unwirksam geblieben, denn ich habe mehr gearbeitet als die anderen, doch nicht ich, sondern die Gnade Gottes in mir.“
Die Begnadung des gerechtfertigten Menschen ist eine Neuschaffung. Die alte welthafte, sündige und vergängliche Existenzweise ist in der Taufe untergegangen. Die neue christusförmige Existenzweise hebt in der Taufe an. Der Übergang vom welthaften Leben zur Teilhabe am Christusleben ist eine wirkliche Erneuerung. „Wenn einer in Christus ist, ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen. Siehe, es ist neu geworden.“ Die Gnade hat den Menschen umgeschaffen in der Taufe. Die Christusförmigkeit des gerechtfertigten Menschen wird durch Paulus mit dem Bild vom Kleide verglichen und veranschaulicht. Die auf Christus getauft sind, haben Christus „angezogen“. Es ist das Gewand der himmlischen Herrlichkeit und Unvergänglichkeit, das uns gegeben worden ist. Der Getaufte ist in die Herrlichkeit Christi gekleidet. In diesem Kleide ist er ein neuer Mensch. Im begnadeten Menschen findet aber nicht bloß ein Gesinnungswandel statt, sondern ein Seinswandel. Der Mensch wird sowohl in seinem Denken und Wollen als auch in seinem Sein, in seiner Existenzweise und in seinem Sosein umgestaltet und neu geformt. Die dem Menschen anhaftende innere Gerechtigkeit und Heiligkeit heißen wir heiligmachende Gnade. In der Epistel des heutigen Sonntags ergeht die Mahnung: „Ziehet den neuen Menschen an.“ Ja aber er hat doch eben gesagt, dass er schon angezogen worden ist in der Taufe. Wie passt das zusammen? Die Erneuerung des Menschen ergreift nicht nur sein Wesen, sondern auch sein Wirken. Die Handlungen des gerechtfertigten Menschen tragen den Stempel der Gott- und Christusähnlichkeit. Sie sind Auswirkungen und Erscheinungen seiner inneren seinshaften Erneuerung und Heiligung. Der gerechtfertigte Mensch wird von der Liebe beherrscht. Er wird vom Geiste getrieben. Die Gotteskinder müssen als solche, als Gottesfreunde leben und handeln. Diejenigen, in denen sich die Herrschaft Gottes durchgesetzt hat, sollen als Boten des Himmels erscheinen. Das neue Sein fordert ein neues Sollen. Die Christusgläubigen sollen die Herrlichkeit, in die sie getauft sind, in ihrem Leben darstellen. Von welchem Gewicht dieses neue Sollen ist, ersieht man daraus, dass Paulus seine Mahnungen zu einem neuen Leben aus Christus so schroff formuliert, als hätten die Leser seiner Briefe dieses neue Leben noch gar nicht empfangen. Er bezeugt, dass unser „alter Mensch“ mit Christus gekreuzigt ist, und fordert doch dazu auf, den alten Menschen mit seinen Taten auszuziehen. Er bezeugt, dass diejenigen, welche Christus angehören, ihr Fleisch mit seinen Leidenschaften gekreuzigt haben, und doch fordert er auf, das, was an den Gliedern irdisch ist, zu töten. Er bezeugt, dass die in Christus Existierenden ein neues Geschöpf sind, und fordert doch dazu auf, den neuen Menschen anzuziehen. Er bezeugt, dass Christus in den Christen wohnt, und wünscht doch den Ephesern, dass Christus in ihren Herzen wohnen möge. Diese Spannung zwischen Indikativ und Imperativ offenbart die Spannung und den Zusammenhang zwischen dem neuen Sein und dem neuen Sollen des Christen. Die Christusbezogenheit soll das ganze Denken und Wollen des Menschen erfassen und durchdringen, bis der in ihm wirkende Christus seine ganze Gesinnung erfüllt und sein Leben gestaltet. Die in Christus erschienene und die von Christus gewirkte Liebe ist der Grund des sittlichen Handelns des Christen. Damit ist Gebot und Gesetz nicht außer Kraft gesetzt oder geschwächt, sondern im Gegenteil: tiefer gegründet. Wer sich in Liebe an Gott hingibt, muss es in der Weise des Gehorsams gegen die Gebote tun. Die Erfüllung der Gebote ist jetzt Ausdruck der Liebe. In der Erfüllung der Gebote antworten wir auf den Ruf der göttlichen Liebe. Das Gesetz ist eine Offenbarung der Liebe Gottes, und der Gehorsam gegen das Gesetz ist ein Ausdruck der Liebe des Menschen. Wenn der Begnadete den Geboten gehorcht, wirkt er sein durch Christus verwandeltes Wesen aus, vollzieht er jene Liebe, welche Christus in ihm wirkt. Meine lieben Freunde, im Gehorsam erweist sich die Freiheit, die Freiheit nicht vom Gesetz Gottes, sondern die Freiheit vom Gesetz der Sünde. Wenn der Begnadete nach dem Gesetz Gottes handelt, handelt er in der seinem neuen Stand gemäßen Weise. „Für die Freiheit“, schreibt Paulus „hat euch Christus freigemacht. Steht darum fest und lasst euch nicht wieder in das Joch der Knechtschaft spannen.“
Amen.