Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Gebet
13. August 2023

Das Gebet

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Der Gottgläubige spricht den Namen Gottes glaubend, hoffend und liebend aus, ehrfurchtsvoll und doch auch zärtlich. Er spricht ihn betend aus. Ja, dieses Nennen des göttlichen Namens ist eben sein Gebet, ist überhaupt das Gebet. Das eigentliche Wesen und der Kern alles Betens ist das Beten im Geist und in der Wahrheit. Beten ist nichts anderes als ein Dusagen zu Gott, ein vertrautes Nennen seines Namens. Beten ist nicht etwa Willkürliches, nicht ein von außen uns aufgenötigtes Tun. Nein, beten ist etwas ganz Innerliches und Notwendiges, was aus unserem personalen Verhältnis zum Vater und Herrn ohne weiteres aufblüht. Sobald ein Mensch die Augen zu Gott erhebt und inne wird, dass Gott ein Wesen ist, das man anerkennen, ja verehren und lieben muss, dann betet er auch schon. Wenn ein Mensch Gott begegnet, und sei es auch nur in Gedanken, und Gott irgendwie anerkennt, dann betet er ohne weiteres schon. Je mehr, je wärmer, je freudiger und liebender, je inniger er Gott gelten lässt und anerkennt und aus dieser Gesinnung heraus ein Herzens-Du zu ihm sagt, um so vollkommener betet er. Gebet ist also für einen solchen Menschen etwas sehr Leichtes; es fließt aus ihm wie aus einer übervollen Schale, es strahlt aus ihm wie aus einer entzündeten Kerze. Darum ist das Beten weder nutzlos noch zeitraubend. Es ist ebensowenig nutzlos wie alle jene Zwiesprachen, die wir mit den Menschen unserer Ehrfurcht oder Liebe halten. Die Zwiesprache mit Gott ist eine Befruchtung des Geistes, ist ein Reichtum und eine Seligkeit. Freilich ist auch ein Leid und ein großer Ernst im Beten. Wir können die verschiedenen Haltungen der betenden Seele in drei Gruppen einteilen. Es gibt ein verlangendes Beten, ein empfangendes Beten und ein leidendes Beten.

Das verlangende Beten ist wie das Ausstrecken von notleidenden und hilfesuchenden Händen, ist wie der Hilferuf eines bedrängten Menschen. Und bedrängt ist doch schließlich jeder Mensch. Auch der stolze und selbstgenügsame Mensch wird bei tieferer Selbsterkenntnis und reicherer Lebenserfahrung immer mehr auch von seiner Armut und seiner Enge, von seinen Schranken und seinem Nichtkönnen und darum auch von seiner Not ergriffen und erschreckt werden. Und wenn einer für sich selbst nichts zu bitten und zu verlangen hätte, ist er nicht ständig umgeben von anderen Menschen, deren Not zum Himmel und zum Herzen jedes guten und mitfühlenden Menschen ruft und doch durch keine menschliche Anstrengung gelindert werden kann? Warum sollten wir in solcher Not nicht den Namen dessen rufen, der allmächtig und gütig zugleich ist; der alle Naturgesetze und alles Weltgeschehen in seiner Hand trägt; der unser demütiges Flehen um Hilfe für uns oder für andere schon von Ewigkeit her in den Plan seiner Vorsehung aufgenommen hat; der den Lauf der Welt schon so geordnet hat, dass die Bitten seiner Kinder darin untergebracht und berücksichtigt, ja sogar erhört sind, soweit eine buchstäbliche Erfüllung mit den Notwendigkeiten seiner göttlichen Weisheit und Güte vereinbar ist.

Verlangendes Gebet ist auch und vor allem das Rufen und Suchen nach Gott selbst. Gewiss dürfen und sollen wir auch um das tägliche Brot bitten, aber vorher kommen noch andere Bitten: Geheiligt werde dein Name! Zu uns komme dein Reich! Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden! In einem Menschen kann das ganzen Tagwerk, das ganze Berufsleben, die tägliche Arbeit mit ihrer Last und Mühsal zu einem beständigen Beten werden, weil in ihm das Verlangen lebt: Herr, dein Wille gescheh, wo ich geh und steh!; weil das Verlangen darin lebt: Dein Name werde geheiligt und gebenedeit, soweit ich dazu beitragen kann als der Bote deines Lichtes und deines Wohltuns. Dein Reich komme zu uns, das Reich deiner Gnade, Erlösung und Liebe. Es komme auch durch mich, deine Menschen sollen gerettet werden und erlöst auch durch mich. Deine Kinder, die meine Hausgenossen, meine Freunde und meine Arbeitskameraden sind, sollen durch meine Arbeit und meinen Dienst ernährt, erfreut und erhoben werden. Selbst wenn ein Mensch dieses sein inneres Verlangen niemals in einem Worte seines Mundes ausspräche, wenn es nur in ihm lebt und sich auswirkt in seinem Dienst, dann betet er, dann hat er das verlangende Beten. Gott schaut auf das Rufen, das Streben, das Werben eines solchen verlangenden Menschen. Jedes echte Verlangen eines betenden Menschen wird irgendwie erhört; je größer und reiner es ist, um so wortwörtlicher kann es erhört werden. Wenn es eine Beimischung von Kleinem und allzu Zeitlichem und Irdischem enthält, muss es freilich erst in einen großen Zusammenhang eingefügt werden und kann nur in diesem Zusammenhang Erfüllung finden, aber eine Erhörung ist immer da.

Wenn ein starkes Gebet den Himmel aufreißt, dann kommt ein neues Beten, in dem so beschenkten Menschen auf: das empfangende Beten. Das ist zunächst ein Aufnehmen und eine Offenheit für alles, was Gott schickt und schenkt, ob es Fügungen und Schickungen der Vorsehung oder Zeichen und Erweise seiner Liebe und Nähe sind. Das empfangende Beten ist eine Feinhörigkeit für Gottes Einsprechungen, ein Lauschen auf die innere Stimme, ein Offenhalten der Augen für Gott in jeder Gestalt, wie er auch kommen mag: als unbegreiflicher Fremdling oder als süßer Gast der Seele. Es ist ein Bereitstehen und Warten auf alle Offenbarungen Gottes in Natur und Übernatur, im Sakrament, in der Kirche, im täglichen Leben. Dann kommt eine wunderbare Gelassenheit über den Menschen, der sich von Gott geliebt weiß und das einfach geschehen lässt. Dann kommt eine neue, unerhörte Freude in seine Seele, und sein empfangendes Beten wird zum Danken. Dieser Dank drängt sich an Gott: Ich danke dir. Was soll ich dir wieder tun für alles, was du mir getan hast? In solchem dankbaren Empfänger kommt das Gebet auf seine einfachste Form: Es wird ein Nennen des göttlichen Namens und sonst nichts. In solchen Augenblicken kann die Seele nichts anderes mehr als den Namen Gottes flüstern, aushauchen.

An dieser Stelle wird das empfangende Beten von selbst zu einem leidenden Beten. Denn alles Beten mündet irgendwo in das Meer des Leids, das alle großen Dinge in sich versammelt. Das heilige Leiden, das heiligmachende und darum auch seligmachende Leiden nimmt auch das Beten des Menschen auf, wenn es seine letzte Reife erhält. Das leidende Beten kommt zunächst aus dunkler Tiefe, aus dem Leid der Schuld und des Schuldbewusstseins; man nennt es Reue. Das leidende Beten aus der Tiefe der Schuld vermag nur ein Wort mühsam zu stammeln: Vater, ich habe gesündigt wider den Himmel und vor dir! Wenn es auch nicht immer eine Schuld ist, die einer ausdrücklichen Reue bedarf, so ist doch stets viel in uns, was uns selber widerstrebt, und so müssen wir es auch zu Gott mitnehmen. Dann wird das leidende Beten zu einem Kampf mit unserer eigenen Seele, zu einer großen Scham und Schwäche vor Gott, zu einer stummen Demut, zu einer unstillbaren Bangigkeit. Das ist dann auch leidendes Beten, wenn wir sagen: Dass du mich doch nicht verwerfen wollest, obgleich ich selber mich verwerfen muss!

Endlich gibt es noch ein leidendes Beten, das Beten des Gottverlassenen, der an einem Kreuze hängt, der von allen Geschöpfen verstoßen ist und in letzter Not auch noch vergeblich die Augen zu Gott erhebt. Das war der höchste Ausbruch des leidenden Betens, der je stattgefunden hat: Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen! Aber das war auch der Höhepunkt alles Betens, das je von der Erde aufstieg. Da wurde der Name Gottes in die Gottferne selbst hineingerufen, so dass selbst in der äußersten Ferne und Finsternis der Vatername Gottes erklang: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist! Da ist die letzte und endgültige Liebe gegründet worden auf das abgründigste Leid, auf das äußerste Verlassensein, auf das Leid und die Verlassenheit, die Gott selbst einem Menschenherzen bereiten kann. Da ist der furchtbare Gott besiegt worden von einem zärtlichen Kind. Da sind alle Schranken des Todes beseitigt worden von dem liebenden Lächeln eines Gekreuzigten. Seitdem weiß man, dass die Liebe nicht nur stärker ist als der Tod und die Hölle, sondern stärker ist als der allmächtige Gott. Dieses leidende Beten ist das größte aller Wunder, das es außer Gott gibt. Oder vielmehr, es ist in Gott selbst. Diese letzten Worte eines Gekreuzigten sind es, die das Himmelstor aufstoßen und zum Herzen Gottes vordringen; da wird die Welt erlöst, im leidenden Beten. Darum hat Jesus diese letzten Worte laut gerufen, während er sein Leben lang in stillen Mitternächten einsam und allein auf Bergen gebetet hatte. Irgendeinmal muss das Beten des Menschen auch äußerlich sichtbar werden, obgleich es seine Ursprünge in der tiefsten Kammer der Einsamkeit hat. Wenn es so nach außen tritt in Wort und Gebärde, dann ist es das Schönste, was man an einem Menschen sehen kann. Aber was ist alle sichtbare Schönheit gegen die unsichtbare Kraft und Gewalt, die in seinem Rufen liegt. Er flüstert den Namen Gottes, aber siehe, sein Flüstern fliegt in die Unendlichkeit Gottes hinein, bis zu Gott, und Gott hört den betenden Menschen und antwortet ihm. Es gibt in der Tat ein Zwiegespräch zwischen Gott und dem Menschen. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, spricht Gott. Und der Mensch antwortet mit dem Namen Gottes, den er ausspricht, verlangend und empfangend oder in Liebe bebend. Wo solch ein Zwiegespräch sich begibt, das ist das zweite Gebot vom Sinai aufgehoben, weil es erfüllt ist. Da wird Gottes Name so genannt, wie Gott selbst ihn gerne hört, da wird Gottes Geist selbst betend in einem Menschenherzen und ruft mit unaussprechlichen Seufzern den Namen Gottes: Abba, Vater.

Amen.    

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