5. Oktober 2003
Die Bedeutung der Dogmen
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Viele Menschen erfaßt ein Graus, wenn sie das Wort Dogma hören. Dogma, das ist ihnen etwas Verknöchertes, etwas Starres, etwas Überholtes, etwas Überflüssiges. Dogma nach katholischem Begriff ist Glaubenswahrheit in Form eines Satzes und Gesetzes. Der katholische Begriff des Dogmas schließt zwei Elemente in sich: Es ist etwas von Gott geoffenbart, und es wird den Gläubigen von der Kirche zur Annahme vorgelegt. Geoffenbartsein von Gott und Vorlage durch die Kirche machen das Wesen des Dogmas aus.
Die Kirche hat in früheren Zeiten hart mit Irrlehrern um die Dogmen gerungen. In heißen Auseinandersetzungen, die oft Jahrzehnte, ja Jahrhunderte anhielten, hat sie die Dogmen formuliert und läßt kein Strichlein von ihnen fallen. Ob der Vater im Himmel den Sohn zeugt und den Geist haucht, dieses Dogma ist im 4. Jahrhundert heftig umstritten gewesen. Ob es bei der Rechtfertigung des Sünders allein Gott ist, der wirkt, oder ob der Mensch auch mitwirkt, das ist in harten Auseinandersetzungen mit dem Protestantismus von der Kirche klargelegt worden. Ob der Sohn, der Sohn Gottes, dem Vater nur ähnlich ist, oder ob er ihm gleich ist, ob er homousios oder homoiusios ist, wie die griechischen Ausdrücke sagen, das ist in erbitterten Kämpfen von der Kirche für alle Zeit niedergelegt worden.
Viele Menschen haben zu diesen Dogmen keinen Zugang mehr. Für sie ist die Religion etwas Subjektives, etwas Persönliches, das sich nicht, wie sie sagen, durch Dogmenzwang einengen läßt. Sie wollen religiös sein auf ihre Art, aber nicht, wie es die Dogmen vorschreiben. Nun ist zweifellos die Religion etwas Innerliches, etwas in der Seele des Menschen Verankertes. Aber zugleich ist die Religion eine Bewegung auf eine Wirklichkeit hin. Sie ist eine Stellungnahme der sittlichen Persönlichkeit zum letzten Grund und Zweck der Welt und des Lebens. Religion ist kein süßer Traum, Religion ist eine Bewegung zur Wirklichkeit. Und wenn sie das nicht ist, ist sie überflüssig. Dogmen sind ebenfalls ein Ausdruck der Wirklichkeit. Sie sind nicht „geronnene Formulierungen seelischer Erlebnisse“, wie die liberale protestantische Theologie behauptet, sondern Dogmen sind Ausdruck der Wirklichkeit. Sie haben einen Wahrheitswert; sie geben Auskunft über Tatsachen. Beim Dogma hängt alles daran, ob sie richtig oder falsch sind, ob sie der Wirklichkeit entsprechen oder nicht. Dogmen hängen daran, daß sie wahr und tatsächlich sind.
Wozu sind die Dogmen uns geoffenbart? Wozu hat Gott sie uns gegeben? Erstens, damit wir daran glauben. Die Dogmen erschließen uns den Zugang zu der Welt Gottes. Ohne Dogmen finden wir Gott nicht, finden wir den Gott der Offenbarung nicht, finden wir den Gott der Wirklichkeit nicht. Die Dogmen eröffnen uns den Zugang zu Gott. Sie erschließen uns die Wirklichkeit Gottes. Glaube ist religiöses Wissen, aber Wissen um Wirklichkeit. Glaube ist eine intellektuelle Form der Religiosität, und sie ist unentbehrlich, denn was wir nicht durch eigenes Erforschen erkennen können – und das ist eben die Wirklichkeit Gottes –, das müssen wir uns von Gott sagen lassen in der Offenbarung, und der Weg zur Offenbarung führt durch den Glauben. Er ist die Anerkennung einer höheren Intelligenz; er ist die Bejahung der göttlichen Mitteilung. Glaube erschließt uns die Wirklichkeit Gottes, er schafft den Anschluß an die Wirklichkeit Gottes.
Nun gibt es Dogmen, die uns wenig zu sagen scheinen. Ist es denn für unser religiöses Leben sehr wichtig, ob der Heilige Geist gezeugt wird oder ob er gehaucht wird, wie die Theologie sagt? Ist denn vieles von den Erzählungen des Alten Testamentes für unseren Glauben bedeutsam? Und doch sind alle Bücher des Alten und des Neuen Testamentes inspiriert, von Gott als erstem Verfasser uns geschenkt. Gewiß, man muß zugeben, es gibt Dogmen, die für unser Leben wenig bedeuten. Aber alle bilden einen Zusammenhang, alle bilden ein Ganzes, und man darf nicht einen Stein aus dem Gebäude herausreißen, damit nicht das ganze Gebäude erschüttert wird. Man darf nicht ein Dogma verwerfen und meinen, man könne die übrigen behalten. Wer auch nur ein Dogma leugnet, der rüttelt am ganzen Bau der Dogmen, und der Sturz, der dann folgt, ist groß und tief. Nein, meine lieben Freunde, die Dogmen besitzen eine regulative Bedeutung, das heißt, sie formen unsere Religiosität, sie sind Dämme, die die Religion schützen. Sie sind Stützmauern, welche die Religion tragen. Die Dogmen sind Glieder eines Ganzen, aus dem man nichts herausnehmen kann, und jede Verschiebung hat Verheerungen unermeßlicher Art zur Folge.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Der Protestantismus bekennt mit uns die Unauflöslichkeit der Ehe. Ja, sagen die Ökumeniker, da habt ihr's ja, wir haben denselben Glauben. O, weit gefehlt, meine Freunde, weit gefehlt! Für den Protestantismus ist die Unauflöslichkeit ein Ideal; man soll sich nicht scheiden lassen; aber man kann es. Es gibt im Protestantismus keine einzige Ehe, die nicht aufgelöst werden könnte. Das katholische Dogma sagt anders: Die Unauflöslichkeit ist ein Gesetz, ein unverbrüchliches Gesetz. Die einmal gültig geschlossene und vollzogene christliche Ehe ist absolut unauflöslich, absolut. Kein Papst und kein Konzil kann sie auflösen. Das ist das Dogma. Man sieht, wie das Wort Unauflöslichkeit gar nichts besagt. Man muß fragen, was es bedeutet.
Ähnlich ist es bei vielen anderen Wahrheiten. Die geringste Abweichung von ihnen führt zu einer Verheerung unermeßlichen Ausmaßes. Alle Dogmen sind Dämme, welche die Offenbarung und das religiöse Leben schützen, sind eine Bürgschaft für die Menschen gegen die Übergriffe der menschlichen Leidenschaften, sind auch ein Schutz gegen die Männer und Frauen in der Kirche selbst. Dogmen sind etwas Absolutes, und das Absolute ist notwendig, damit nicht alles zerfällt. Es muß etwas geben, an dem man nicht rütteln kann. Es muß etwas geben, das nicht umgestürzt werden kann. Es muß etwas geben, das immer bestehen bleibt. Und das ist das Wort Gottes in der Gestalt des Dogmas. Der jüdische Dichter Heinrich Heine stand eines Tages vor dem Dom in Antwerpen und bewunderte dieses Bauwerk. Dann sagte er zu seinem Begleiter: „Die Menschen, die das gebaut haben, hatten Dogmen. Wir haben nur Meinungen. Mit Meinungen baut man keine Dome!“
Wozu sind uns die Dogmen geoffenbart? Damit wir zweitens aus den göttlichen Vorratskammern schöpfen. Die Dogmen eröffnen uns die göttlichen Vorratskammern; sie wirken befruchtend, belebend, bereichernd auf uns. Alle Dogmen befruchten unser religiöses Leben, wenn wir sie nur recht aufnehmen und recht verstehen. Meinetwegen das Dogma vom Gott, der Vergelter ist, der das Gute belohnt und das Böse straft. Dieses Dogma begründet den sittlichen Heroismus. Dieses Dogma begründet auch die heilsame Furcht, die heilsame Furcht, diesen Gott zu beleidigen und zu kränken und zu erzürnen. Oder das Dogma vom Vatergott. Es lehrt uns, daß ein liebendes Auge über der Welt waltet. Wenn auch alle irdischen Augen erloschen sind, dieses Auge erlischt nicht, sondern wacht über uns. Oder wie entscheidend ist das Dogma vom ewigen Leben! Wer dieses Dogma nicht teilt, der lebt nach dem Grundsatz: „Mach dir's auf derErde schön. Kein Jenseits gibt's, kein Wiedersehen.“ So hat es einst der Sozialismus gelehrt. Und in diesen Tagen, meine lieben Freunde, hat ein evangelischer Christ, Mitglied der SPD, der Politologe Wilhelm Hennis, in Heilbronn einen Vortrag gehalten, wo er mit erschütternder Eindringlichkeit darauf hinweist, welche Folgen es hat, wenn man nicht mehr an das ewige Leben, an die Unsterblichkeit glaubt. Er sagt: „Alles Verlangen konzentriert sich dann auf Diesseitiges. Alles, was der Mensch erwarten und erhoffen kann, hat nur einen Bezug auf dieses Leben, und nur sich selbst bzw. der gesellschaftlichen Ordnung, den gesellschaftlichen Umständen, der Fähigkeit und Unfähigkeit der Politiker, den Managern in den Nadelstreifen, dem starken Arm seiner Interessenvertreter kann er die Gewinn- und Verlustrechnung seiner Existenz zurechnen.“ Denken wir an das Dogma von der Gegenwart Christi im heiligsten Altarsakrament! Wie ist es beglückend und wie ist es tröstlich für uns, daß wir wissen, unser Herr ist bei uns. Er hat uns nicht verlassen, sondern er hat uns seine bleibende Gegenwart zugesichert und gewährt.
Die Dogmen wirken befruchtend und belebend auf unser religiöses Leben. Jeder Mensch hat vielleicht ein Lieblingsdogma, und daran ist nichts zu tadeln. Man kann auch im Bereich der Dogmen eine gewisse Individualität entfalten. Dem einen ist das Lieblingsdogma das Herrentum Gottes, seine absolute Majestät, dem anderen ist sein Lieblingsdogma die Menschwerdung des Logos, das Weihnachtsgeschehen, die Mutter und der Pflegevater mit dem Kind im Stall. Einem anderen wieder ist sein Lieblingsdogma der gekreuzigte Herr, der sein Blut für uns vergossen hat. „Deine Gnad' und Jesu Blut macht ja allen Schaden gut.“ Daran ist nichts zu kritisieren, wenn nur die übrigen Dogmen nicht ausgeschlossen werden, wenn nur die übrigen Dogmen nicht verworfen werden. Dann ist an einer solchen Individualität nichts zu rügen. Aber eines ist sicher, meine lieben Freunde: Wer die Dogmen aus dem Christentum auslöschen will, der löscht das Christentum aus. Wer die Dogmen in ihrem Wahrheitsgehalt antastet, der tastet das Wesen des Christentums an. Wer an den Dogmen nicht festhält, der hat aufgehört, ein Christ zu sein.
Amen.