Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
1. November 2023

Das Fest Allerheiligen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das Fest, mit dem wir alle Heiligen Gottes ehren, nahm seinen Ursprung in der gewaltigen Rotunde des römischen Pantheon. Dieser größte Tempelbau des heidnischen Rom war zu einer christlichen Kirche umgestaltet und zur Begräbnisstätte von zahllosen Überresten heiliger Bekenner und Martyrer geworden, die man aus den Katakomben dorthin übertragen hatte. Er erinnert an die Heiligen, wie sie auf Erden wandelten. Die Heiligen auf Erden. Wir meinen damit nicht nur die von der Kirche feierlich heiliggesprochenen Menschen; sondern überhaupt alle gottverbundenen und gottliebenden Menschen, die es je gab. Die Menschen der großen religiösen Kraft und der heldenmäßigen sittlichen Vollendung. Die Menschen Gottes und die Menschen der Güte. Es waren ihrer viele, eine große Schar, die niemand zählen kann, aus allen Völkern, Stämmen, Sprachen und Zeiten. Die einen lebten in versunkenen Jahrhunderten, die anderen sind noch durch unsere Städte und Dörfer gegangen. Es überfällt uns immer wieder ein frohes und zugleich wehmütiges Staunen und eine Art Heimweh, wenn wir an diese Menschen denken. Was ist denn an ihnen so merkwürdig, so außerordentlich gewesen, so ganz anders als bei der großen, dunklen Masse der Menschheit, wie wir sie nur allzu gut kennen? Diese heiligen Menschen sind die einzigen Menschen, die wahrhaft unvergesslich sind. Unvergesslich nicht durch den Bericht unserer Geschichtsbücher; denn die meisten stehen nicht in unseren Büchern, weder in den Schulbüchern noch in gelehrten Abhandlungen. Unvergesslich sind sie für unser Herz. Sie sind die Menschen, an die man nur mit Liebe denkt und mit Freude und Sehnsucht zugleich. Es sind die einzigen Menschen, denen kein Fluch in die Ewigkeit nachgerufen wurde. Acht Jahrhunderte sind es schon, seit Franz von Assisi nicht mehr auf Erden wandelt. Aber die Herzen der Menschheit schlagen in unverminderter Liebe und Dankbarkeit für ihn. Sechszehnhundert Jahre sind es, seit Augustinus starb. Die Wandalen haben in seiner Sterbestunde seine Bischofsstadt mit Brand und Mord überzogen. Die Wandalen und das Wandalische in der Menschheit sind seitdem immer wieder siegreich gewesen. Trotzdem ist der Name Augustinus und die Geistesgröße und Herzenswärme dieses Heiligen uns unvergesslich geblieben. Und zweitausend Jahre sind vergangen, seit Paulus an der Straße nach Ostia enthauptet wurde. Und heute noch kniet eine pilgernde Welt nieder an seinem Grabe und betet dort so ergriffen und dankbar, wie man nur im Namen des Geistes und der Freiheit beten und danken kann.

Warum sind die Heiligen unserem Herzen so nahe geblieben? Weil sie die einzigen wirklichen und großen Wohltäter der Menschheit waren. Von ihnen ist keine neue Mordwaffe erfunden worden, von ihnen ist kein Krieg entfesselt worden, von ihnen ist kein Hass, kein Streit ausgegangen. Im Gegenteil! Sie haben die Zwietracht zu heilen gesucht. Sie haben die harten Herzen weich gemacht. Sie haben die mutlosen Herzen höher schlagen lassen. Sie haben die Herzen der Reichen weit und die Herzen der Armen froh gemacht. Sie haben zu den Herren der Erde stolz und frei, zu den Unterdrückten aber sanft und mütterlich geredet. Sie haben die Wölfe gezähmt und die Lämmer beschirmt. Sie haben (wie es im Buche Hiob heißt) dem Blinden als Auge gedient und dem Lahmen als Fuß und waren wie ein Vater der Armen. Sie waren die Menschen, die wirklich die Erde wohnlicher und das Leben heller gemacht haben. Nicht durch Erfindung einer besseren Beleuchtung oder einer gesunderen Wohnweise, sondern indem sie bessere Beziehungen, gute und friedvolle und einträchtige Beziehungen unter den Menschen geschaffen haben. Sie haben dazu geholfen, dass sich die Menschen besser verstehen und miteinander vertragen. Davon hängt doch schließlich zumeist alles wirkliche Glück ab, das wir hienieden besitzen können. Darum ist nicht bloß ihre Person, sondern auch ihr Werk unvergesslich und dauerhaft geworden auf Erden. Was die Heiligen geschaffen haben, das möchte niemand wieder zerstören, der es gut meint mit den Menschen. Die Reichsgründungen der großen Eroberer haben von Anfang an Feinde gehabt, die auf ihre Zerstörung ausgingen. Aber die Barmherzigen Schwestern, die Vinzenz von Paul gegründet hat, möchte niemand aus unserem Leben wegwünschen. Die Werke des Erziehers Johannes Bosco kann niemand zerstören wollen, der die Jugend liebt. Was der heilige Franz gesungen hat, was der heilige Augustinus geschrieben hat, was Fra Angelico gemalt hat, das kann niemand hassen, das kann man nur lieben und verehren.

So sind die Heiligen auch unsere Tröster. Sie geben uns immer wieder den Glauben an die Menschen und an die Menschheit, den Glauben an uns selbst, weil sie den Glauben an unsere Ideale, an das Gute und an das Licht immer wieder aufrichten. Denn sie sind Menschen gewesen, in denen der Geist und die Güte siegreich und mächtig waren. Sonst sehen wir immer die Übermacht der Finsternis auf Erden, der Gewalt und der Sünde oder wenigstens die Übermacht des Zufalls und des Schicksals. Die Menschen, sie sonst zu den Großen gerechnet werden, die großen Könige, die großen Feldherren, die großen Staatsmänner haben ihr Werk zum größten Teil der Gunst der Zeit und der Verhältnisse oder der Waffengewalt und dem Blut ihrer Völker oder der Rücksichtslosigkeit ihres Denkens und der Skrupellosigkeit ihres Wollens zu verdanken gehabt. Aber kein Heiliger hat durch solche Mittel gewirkt. In ihnen ist endlich auch einmal die Gewissenhaftigkeit, die Güte, die Sanftmut, das Erbarmen und das Mitleid, die Treue und die Liebe zu einem Erfolg, ja zu einem Siege gelangt. Nicht eine Gewohnheit, nicht eine Leidenschaft oder ein Trieb, nicht eine Naturgewalt hat gesiegt, sondern die Persönlichkeit und die Freiheit. Endlich einmal sehen wir da Bahnbrecher, die nicht mit Gewalt eine Mauer einrennen, sondern still wie ein lebendiger Keim, lautlos wie das Licht ihren Weg nehmen. Da sind endlich auch einmal Führer, die nicht durch ihre Kommandostimme, sondern durch ihr Schweigen und Leiden uns zu Führern wurden.

Ja, sind die Heiligen denn unsere Führer? Können wir ihnen folgen? Können wie sie nachahmen? Die Heiligen auf Erden waren Menschen wie wir, in einer bestimmten Zeitlage, in einer bestimmten Geistesverfassung, mit einer bestimmten größeren oder geringeren Höhe der Bildung, des Talents, der Begabung. Sie gehören somit auch ihrer Zeit an mit allem, was sie dachten und taten, sind also relativ wie alles Zeitliche. Vieles an ihnen war nur einmal möglich, nur einmal praktisch, nur einmal zulässig und klug. Es wäre sinnlos, sie in allen Einzelheiten ihres Lebens oder gar in allen Äußerlichkeiten ihres Wandels nachahmen zu wollen. Aber etwas an ihnen war doch absolut, ewig und unvergänglich, nämlich Gott. Gott in ihnen. Dass Gott in ihrer Mitte stand, in der Mitte ihres religiösen und sittlichen Lebens, in der Mitte ihres Schaffens und Liebens, das ist etwas Absolutes, was an keine Zeit gebunden ist. Denn Gott gehört jeder Zeit an; er ist der Ewige. Dass man Gott dienen kann auch in dieser Welt, dass man dieser Welt dienen kann auch im Gottsuchen, das ist das Wundervolle, das Allgemeingültige und Unvergängliche an dem Beispiel der Heiligen. Das ist ihre Tat. Es ist also nicht wahr, dass in unserer Welt, in unseren Großstädten, auf unseren Straßen, in unserem Berufsleben, in unserer Arbeit, in unseren Freuden und Leiden Gott nicht zu finden ist. Dass man ihn zurückstellen und vergessen muss in einem Leben, wie wir es führen. Es ist nicht wahr, dass der Gedanke an Gott und die Liebe zu Gott lebensfremd und unpraktisch, eine Illusion und eine Utopie ist. Dass die lebensstarken und aufgeweckten Menschen nur an die Erde denken könnten und dass alles Denken an den Himmel ein Traum und eine Betäubung sei. Denn die Heiligen haben die Erde gesehen und doch den Himmel nicht aus den Augen verloren. Sie haben die Welt geliebt und doch Gott gedient. Sie haben in ihrer Zeit gelebt und doch die Ewigkeit gewonnen. Sie haben Menschen umarmt, ohne Gott zu beleidigen. Sie haben sich zu Gott geflüchtet und doch ihre Menschen nicht vernachlässigt. Dafür sind die Heiligen das Beispiel, das uns tröstet und zugleich aufruft: Konnten es jene, warum nicht auch wir! Warum nicht wir alle! Warum sind wir nicht ebenso mutig und tapfer, nicht ebenso beständig und folgerichtig? Warum lassen wir unser Leben als Halbheit, als einen unfertigen Bau, als eine Ruine liegen? Doch ich weiß schon, dass Beispiele nicht viel helfen unter uns Menschen. Wir folgen ja doch nicht den Größten und Besten unter uns nach, und die großen heroischen Beispiele, die je in der Geschichte vorkommen, wirken immer nur auf Menschen, die ohnehin schon groß und heldenhaft angelegt sind. Die übrigen aber müssen nicht nur eingeladen, sondern geführt, nicht bloß gelockt, sondern hingerissen werden von Menschen, die sie an der Hand nehmen, von ganz nahen und verbundenen Menschen, die stark und lebendig genug sind, auch das Leben anderer noch zu gestalten. Das sind die Menschen, die uns einfach mitnehmen zu Gott. Es gibt solche unter den Lebendigen. Und wohl dem, der je in seinem Leben einen so starken und zugleich guten und heiligen Führer fand. In jedem Falle finden wir ihn unter den Vollendeten des Himmels. Zu ihm sprechen wir: Nimm mich mit, mein heiliger Namenspatron, nimm mich mit zum Heiland der Welt! Nimm mich an der Hand und führe mich über sumpfiges Moor, über Ströme und lauernde Klippen. Du hast sie sicher durchschritten. Geleite mich über sie, damit ich dich und deinen und meinen Gott finden kann und damit ich mit dir eine Ewigkeit glücklich sei.

Amen. 

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