Predigtreihe: Tod, Fegefeuer, Hölle und Himmel (Teil 12)
23. Dezember 1990
Die Erkenntnis der Wirklichkeit durch die Seligen
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
An einer Reihe von Sonntagen haben wir das Geheimnis des Himmels bedacht. Das Wesen jenes Zustandes, den wir den Himmel nennen, besteht in der Schau Gottes und in der Liebe zu Gott und in der daraus resultierenden Vollendung und Freude des Menschen. Zu dieser primären Quelle der Seligkeit des Menschen kommt aber eine sekundäre. Der Mensch schaut in der Ewigkeit auch das Außergöttliche. Mit dem neuen Sehvermögen, mit der neuen Sehkraft, die Gott ihm gibt – dem lumen gloriae, wie es die Theologen nennen – vermag der Mensch auch die außergöttliche Wirklichkeit erkennend und liebend zu umfassen.
Die primäre Quelle der Seligkeit bleibt selbstverständlich die Gottesschau, und die sekundäre Quelle – eben die Schau des Außergöttlichen – trägt zum Wesen des himmlischen Zustandes nichts bei, aber es ist gewissermaßen eine Komplettierung, eine Art Ergänzung zu dem wesentlichen Inhalt der himmlischen Vollendung. Es wird dem Menschen die Sicht auf den Wert und den Sinn des Irdischen gegeben. Er erschaut die verborgenen Zusammenhänge, er gewinnt Einblick in die Wirklichkeit der Schöpfung, und das bedeutet für ihn eine ähnliche Freude, wie sie der Forscher und der Gelehrte auf Erden hat, wenn er in die Geheimnisse der Welt und der Geschichte eindringt. Die himmlische Schau übertrifft aber an Kraft und an Seligkeit die Erkenntnis, die auf Erden Gelehrten zu eigen sein kann. Die Frage, wie weit der Mensch die irdische Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt, können wir mit dem heiligen Thomas von Aquin dahin beantworten: Es wird dem Menschen alles gezeigt, was für ihn von Bedeutung ist. Er wird vor allem inne werden, welches sein eigener Anteil an der Gestaltung der Schöpfung im irdischen Leben gewesen ist.
Die Frage, wie der Vollendete die außergöttliche Wirklichkeit erkennt, wird von den Theologen in zweifacher Weise beantwortet. Die einen sagen, es werden dem Vollendeten Erkenntnisbilder von Gott eingeschaffen, so daß also die Hindernisse von Raum und Zeit für ihn keine Rolle mehr spielen. Andere meinen, und das ist wohl die bessere Ansicht, daß der Vollendete das Außergöttliche in Gott selbst schaut. Indem er Gott erkennt, wird ihm auch das an Erkenntnis der außergöttlichen Wirklichkeit geschenkt, was für ihn von Bedeutung ist.
Diese Schau des Außergöttlichen leidet nicht darunter, daß sie etwa dem Menschen zu viele Gegenstände darbietet, daß er es gewissermaßen nicht fassen könnte oder daß er nicht mit gehöriger Kraft und Aufmerksamkeit sich dem Außergöttlichen zuwenden könnte, denn die Begrenztheit der Erkenntnis, die ihm auf Erden eigen ist, ist von ihm abgefallen. Durch das Licht der Herrlichkeit ist er fähig, eine ungeahnte Fülle des Außergöttlichen zu erkennen und liebend zu umfassen.
Eine besondere Gestalt nimmt die Vollendung des Himmels in bezug auf Außergöttliches darin an, daß der Selige auch die Gemeinschaft pflegt. Wir sahen, der Himmel wird von Christus als ein Gemeinschaftserlebnis dargestellt. Wenn vom Mahle die Rede ist, dann ist nie nur ein einzelner gemeint, sondern dann sind die Mahlgenossen, die Tischgenossen, mitgemeint. Und immer wieder wird darauf hingewiesen, daß es ein Gemeinschaftsleben ist, was uns im Himmel erwartet. Da werden die Menschen endlich mit der Liebe verbunden sein, die ihnen auf Erden nicht möglich war. Alle Begrenztheit und alle Einseitigkeit der Liebe, wie sie auf Erden notwendig gegeben ist, wird dann von ihnen abgefallen sein. Der Mensch wird jeden Menschen mit umfassender Liebe ergreifen können. Die Kraftlosigkeit und die Müdigkeit, die der Liebe auf Erden anhaftet, die Enttäuschung, die sie oft erfährt, wird im Jenseits beseitigt sein.
Da ist dann verwirklicht, was auf Erden immer ersehnt wird, nämlich die vorbehaltlose Hingabe an das Du ohne Preisgabe des Ich; daß sich der eine dem anderen schenkt, ohne sich zu verlieren, und daß er sich gleichzeitig bewahrt, ohne sich zu verschließen. Das ist die Vollendung in der Liebe, die wir ersehnen, aber hier auf Erden nie erreichen können. Eine besondere Note nimmt die Gemeinschaft mit den Menschen an, wenn wir jene wiedertreffen, die uns auf Erden nahegestanden sind. Es wird eine beseligende Gemeinschaft derer sein, die schon auf Erden miteinander verbunden waren. Der Herr setzt das als ganz selbstverständlich voraus. Einmal fragten ihn die Sadduzäer, um ihm eine Falle zu stellen, wie das denn im Himmel sein wird. Eine Frau hatte auf Erden sieben Männer; wie wird sich ihr gegenseitiges Verhältnis nach der Auferstehung gestalten? Der Herr gibt zur Antwort, nicht, daß etwa kein Wiedersehen zwischen der Frau und den sieben Männern, die sie auf Erden gehabt hatte, sich ereignen könne, das setzt er als selbstverständlich voraus. Nur wird sich die Weise des Umganges im Himmel wesentlich von der auf Erden unterscheiden. Dann werden die Menschen sein wie die Engel, d.h. sie werden nicht mehr in der irdischen, ehelichen, geschlechtlichen Weise miteinander verbunden sein, sondern es wird eine Verbundenheit ganz anderer, neuer und über alles Irdische und Sinnlicher erhabener Art sein.
Auch eine andere Stelle scheint diese Aussage zu enthalten, daß der Himmel die Gemeinschaft mit den Menschen ist, wenn der Herr nämlich sagt: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit sie euch, wenn es mit euch zu Ende geht, in die ewigen Wohnungen aufnehmen! Wir werden also mit denen, die uns nahegestanden sind, mit denen, die uns hilfreich zur Seite gestanden sind, im Himmel vereinigt werden. Und es wird auch keine Verlegenheit bedeuten, wenn sich die im Himmel treffen, die auf Erden entzweit waren. Denn einmal sind diese Unzulänglichkeiten des irdischen Lebens aufgehoben, und zum anderen schauen die Vollendeten voll Dankbarkeit zurück auf die Befreiung von den Unzuträglichkeiten und Entzweiungen, die auf Erden leider unser Anteil waren. Es wird für die Vollendeten nicht einmal eine Minderung ihrer Seligkeit sein, wenn sie den einen oder anderen von den ihnen einst Vertrauten vermissen, weil er nämlich nicht die Vollendung erreicht hat, weil er durch eigenen Willen sich zum Zustand der Unseligkeit verdammt hat, weil die Vollendeten die volle Gerechtigkeit des Urteilsspruches Gottes erkennen und weil sie die Notwendigkeit einsehen, daß Gott so handeln mußte und daß er dem Menschen das Los bereitet hat, das er für sich selbst bestimmte.
Die Seligkeit des Himmels kennt auch eine Hierarchie, sie kennt auch eine Über- und Unterordnung. In der Seligkeit des Himmels gibt es Unterschiede, je nach der Mächtigkeit, mit der die Seligen an der Vollendung und am Glück Gottes teilnehmen. Man kann es vergleichen mit den Beschauern eines Kunstwerkes auf Erden. Alle, die vor diesem Kunstwerk stehen, etwa vor dem Dom in Mailand, sehen dieses Kunstwerk. Aber die einen erhalten von dieser Ansicht mehr Gewinn, weil sie mit größerer Kraft, mit größerem Verständnis, mit größerer Fähigkeit auf dieses Kunstwerk schauen. Ähnlich wird es auch mit der Seligkeit des Himmels sein. Je nach der eigenen Fähigkeit wird die Beseligung des einzelnen größer sein als die eines anderen. Das weckt bei den Seligen keinen Neid oder keine Unzufriedenheit, denn jeder besitzt die Beseligung, die er ertragen kann, für die er geeignet ist. Er durchschaut, daß es gar nicht möglich ist, ihm eine größere Seligkeit zuzuteilen, weil das ihn verbrennen würde.
Da wird also die Wahrheit herauskommen, die wir auf Erden so schmerzlich vermißt haben. Im Himmel wird sich offenbaren, was der einzelne Mensch wirklich wert war, nämlich was er an dienender Liebe auf Erden vollbracht hat. Dann zeigt sich der wahre Wert des Menschen. Was auf Erden eigentlich schon vorhanden, nur nicht allbekannt ist, nämlich die Rangordnung, die sich nach der dienenden Liebe richtet, das wird in der Ewigkeit offenbar. Da werden viele Erste Letzte sein, und Letzte werden Erste sein. Da kommt gewissermaßen die klassenlose Gesellschaft der Zukunft zum Vorschein, und es wird eine Umwertung stattfinden. Es ist keineswegs gesagt, daß die, die auf Erden an erster Stelle standen, im Himmel dieselbe Stellung einnehmen. Es ist nicht einmal gesagt, daß diejenigen, die in der Kirche eine führende Stellung einnehmen, in der Seligkeit des Himmels anderen voranstehen. Es entscheidet nur die Kraft und die Glut der Liebe, nicht die irdische Ehrenstellung. Die Apostel, die auf Erden als Angeklagte vor dem weltlichen Gericht standen, werden dann Richter sein und auf Thronen sitzen. Die Unterdrückten und die Armen werden in Freude und in Seligkeit mit Gott beisammen sein, während die, die lange Zeit in Selbstsucht und in Eigensucht auf Erden gelebt haben, möglicherweise einen geringeren Grad an Seligkeit erhalten als die Erstgenannten.
An erster Stelle werden in der Heiligen Schrift unter den Seligen die Apostel genannt, weil sie die Grundsteine der Kirche sind und somit auch des himmlischen Reiches; dann die Jungfrauen, die jungfräulich gelebt haben, die Lehrer des Wortes, die das Evangelium recht verkündigt haben, und die Martyrer, die durch ihr Blutopfer Zeugnis für Gott abgelegt haben.
Es wird im Jenseits, meine lieben Freunde, ein jedes Glücksverlangen erfüllt sein. Gewiß nicht in irdischer Art, aber es wird ein jedes echte Erkenntnis-, Liebes- und Glücksverlangen gestillt werden, so daß keine Sehnsucht unerfüllt bleibt. In den Vollendeten ist keine unerfüllte Sehnsucht. Sie werden sich nicht nach einer anderen Weise des Glückes oder nach anderen Glücksgegenständen ausstrecken, sondern sie ruhen in der Vollendung, die Gott ihnen gewährt hat, und das macht ihr Glück voll.
Es gibt immer wieder Menschen, die uns entmutigen wollen, indem sie den Himmel leugnen. Meine lieben Freunde, lassen wir uns davon nicht beirren! Wir haben uns keine Illusion geschaffen, nicht ein erdachtes Paradies, um damit die Tränen der Erde zu trocknen, wie es der Marxismus behauptet, sondern wir haben die Kunde vernommen, die uns der gebracht hat, der aus dem Himmel herniedergestiegen ist. Wir wissen es gewissermaßen aus erster Hand, daß es eine Vollendung, daß es eine Seligkeit, daß es ein ewiges Glück gibt. Er, der an der Brust des Vaters geruht hat, ist gekommen, erschienen auf dieser Erde und hat uns die Botschaft gebracht, daß wir nicht wie Verbannte zu einem Verbannungsort unterwegs sind, sondern wie Kinder, die zur Wohnung des Vaters pilgern. „Im Hause meines Vaters“, sagt unser Herr und Heiland, „gibt es viele Wohnungen. Wäre es anders, dann hätte ich es euch gesagt. Ich gehe hin, euch eine Wohnung zu bereiten.“
Amen.