Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
31. Dezember 2023

Gesetzt zum Falle und zur Auferstehung vieler

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Jeden Morgen stand er an der goldenen Treppe und schaute, die Augenbuschen mit der Hand deckend, ins blaue Land. Ich weiß nicht, wie weit das Auge von Sion aus nach Westen und nach Norden spähen konnte oder auf Bethlehem zu, wie viele Stadien man ohne Fernglas, mit bloßem Auge, beherrschte. Ich weiß nur, dass die letzten Jahre Simeons das eine ausfüllte: jeden Morgen an der goldenen Treppe stehen und traumverloren über die Hügel Palästinas ausschauen. Nach wem? Er war einer von den „Stillen im Lande“ (Ps 35,20). Sie verwirklichen das streng gesetzliche jüdische Frömmigkeitsideal und warteten gottergeben auf den Trost Israels (Is 40,1f.; 49,13), den Anbruch der messianischen Zeit. Danach schaute Simeon aus.

Heute hielt er inne. Eine Unruhe durchrieselte den alten Mann; es dünkte ihm, als sei dieser Tag endlich die Erfüllung langer Sehnsüchte. Wieder und wieder schaute das geschärfte Auge in die Weite und dann die vierzig breiten Stufen der Estrade hinab, über denen der weißleuchtende Tempel stand. Diese Treppe schritten zwei Menschen hinauf, von denen der eine ein Kind trug, der andere die üblichen Turteltauben zum Opfer der Auslösung der Erstgeburt. Zur Reinigungszeremonie der Wöchnerin gehört das Opfer. Zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben mussten nach Lev 12,8 von den Ärmeren geopfert werden, die den Preis eines Lammes nicht bezahlen konnten. Maria und Joseph trugen sie mit sich. Es waren nicht viele im Lande, die sich mit solcher Inbrunst und mit so tiefer Kenntnis um den Kern der großen geschichtlichen Bücher mühten, nicht viele, deren Innenleben die politische Leidenschaft der Gasse nicht aufzehrte, deren Seele vielmehr ganz in den mystischen Bezirken der prophetischen Literatur gefangen blieb. Die Tageswächter der öffentlichen Meinung gingen an diesen Menschen als an Sonderlingen der alten Zeit vorüber. Zu ihnen gehörte der greise Simeon, dessen einsame Wohnung im Schatten des Tempels stand und den man Tag für Tag auf der breiten Treppe zum Tempel hinauf- und hinabsteigen sah. Da kommt in den Greis flutende Bewegung; mit zwei Schritten steht er ein paar Stufen tiefer in der Mitte der Treppe vor dem Paar. Jubelnd hebt er die schmalen Armen, nach jüdischer Sitte, wie die Orante der Katakomben, zum gewölbten Himmel und jauchzt dem großen Jahwe entgegen. „Nun mag ich sterben, o Herr, nach deinem Wort! Friede weht nun um die Zypressen meines Grabes. Harmonie überdeckt die Scholle, unter der ich schlummere. Denn meine Augen sind nicht blind geworden, ehe sie den Messias schauten, das Heil, das du allen Völkern bereitet hast.“ Simeon spricht das Abendgebet seines Lebens.

Auf ihm ruht der heilige Geist, d.h. der Geist der Prophetie (Num 24,2; 2 Chron 15,1). So hat sein Wort die Autorität göttlicher Offenbarung. Derselbe heilige Geist, der ihm bereits geoffenbart hat, dass er den Tod nicht schauen werde, ehe er den Messias gesehen, treibt ihn nun an (4,1), gerade in dieser Stunde, da das Jesuskind in den Tempel gebracht wird, diesen zu betreten. Kraft seiner prophetischen Begabung erkennt er in dem Kind sogleich den Messias und nimmt es voll Begeisterung und Seligkeit in seine Arme. Die Verheißung, die er empfangen hatte, hat sich erfüllt. Der Grund, weshalb er so wunschlos glücklich ist, liegt in seinem gegenwärtigen Erlebnis: er hat noch das Heil Gottes, den von Gott zum Heil seines Volkes gesandten Messias, mit leiblichen Augen sehen dürfen (10,23f.). Das messianische Heil ist ein von Gott den Heidenvölkern gesandtes Licht. Es offenbart ihnen nicht bloß Gottes Größe, sondern erleuchtet auch ihren Sinn, so dass sie es gläubig annehmen (Is 2,3). „Vor dem Angesicht (= vor den Augen) aller Völker“ (Is 52,15) besagt nicht bloß, dass auch die Heiden Zeugen des Israel gesandten messianischen Heils sein werden, sondern dass sie an diesem Heil teilhaben werden vom Feuerland bis Spitzbergen (Is 2,1ff.; 42,6; 49,6). Der prophetische Blick des Sehers greift also über Israel hinaus und umfasst neben der unmittelbaren Gegenwart der Ankunft des Messias auch die fernere Zukunft. Weil dieses Heil aber aus Israel kommt und dadurch Israel als Gottes auserwähltes Volk offenbar macht, dient es zugleich zu dessen Verherrlichung. Das wird durch alle Zeiten und in alle Zukunft die Auszeichnung und die Ehre des jüdischen Volkes bleiben, dass aus ihm der Heiland der Welt geboren wurde. Der arische Christus, von dem Adolf Hitler sprach, ist ein Phantom; er hat nie existiert. Wie Simeon dann stille stand und noch eine Weile in die Wolken sah, die über Treppe und Säulengang und Tempelkuppel hinzogen, da stockte den beiden das Blut in den Adern und ihre Seele stand gebannt vor dem Inhalt dieser Offenbarung. Es wird uns nicht berichtet, wie die Eltern auf die Worte Simeons reagierten. Vermutlich waren sie fassungslos und überließen es Gott, die Weissagung zu erfüllen.

Nach einem Segensspruch über beide sagt Simeon der Mutter noch ein weiteres prophetisches Wort über die Bestimmung ihres Sohnes. Obgleich in ihm das Heil erschienen ist, wird auch eine unheilvolle Wirkung von ihm ausgehen. Denn er ist durch Gottes Ratschluss dazu bestimmt, dass an ihm die Menschen sich scheiden, entweder an ihm Ärgernis nehmen, ihn ungläubig ablehnen und dadurch schuldig werden oder ihn gläubig annehmen und dadurch zur geistigen Auferstehung, zum Heil gelangen. Neutralität ihm gegenüber ist nicht möglich. Denn er ist ein von Gott aufgestelltes Zeichen, das bei vielen Widerspruch hervorrufen wird, damit auf diese Weise ihr dem Willen Gottes widerstrebender Sinn offenbar werde. Die Mutter des Messias wird durch das Geschick ihres Sohnes mitgetroffen werden. Diese Weissagung bezieht sich auf den Seelenschmerz, den sie als Zeugin der Ablehnung ihres Sohnes erleiden wird. Das Bild der Schmerzensmutter empfängt durch die Weissagung Simeons seinen Platz in der Kindheitsgeschichte des Lukas. Die Worte Simeons sprechen einen Gedanken aus, der zu den Grundgedanken des Evangeliums zählt: Das Ärgernis gehört wesentlich zur Person Jesu. Das Auftreten Jesu wird anders sein, als die herrschende Anschauung der Juden vom Messias erwartet. Eben weil die meisten von ihnen eine fertige irdisch-politische Vorstellung vom Messias haben, darum muss für sie der wirkliche Messias zum Ärgernis werden. Diese Ärgernis erregende Erscheinung Jesu aber entspricht gerade Gottes Willen. Sie soll durch ihre ganze Art den natürlichen Menschen enttäuschen und zu heftiger Ablehnung reizen. Nur den glaubenswilligen Menschen lässt Gott über dieses Ärgernis hinwegkommen und dadurch das Heil erlangen. Maria vor allem rang mit diesem Inhalt, dessen Auftakt vor Wochen die Hirten der bethlehemitischen Flur ihr aus dem Gesange der Engel berichtet hatten. „Friede allen Menschen auf Erden!“ Das war mehr als des Gabriels Gruß im heimischen Nazareth. Die Hürde war in ihrer Seele zersprungen, aber der neue Gedanke war noch nicht in ihr Fleisch und Blut geworden. So standen die beiden verwundert vor dem Zeugnis des alten Mannes. Simeon gewahrte die Bewegung der Mutter und wandte sich ihr nun eigens zu, den Hymnus, den er ausgerufen hatte, aus der Nähe und von ihr selbst bestätigend. „Jawohl! Von alledem ist nichts zurückzunehmen; es steht wirklich so um deinen Sohn. Er ist gesetzt zur Katastrophe und zum Frühling vieler in Israel. Das Haupt dieses Kindes werden die Jubelstürme und die Flüche der Zeitgenossen umjagen. An diesem Monument wird man nicht steinern und verhüllt vorübergehen können. Sein leuchtender Blick wird die Wanderer, die an ihm vorüberziehen, zur Selbstoffenbarung zwingen. Die Gedanken der Herzen werden vor ihm offenkundig, die anbetenden und die schmähenden. Christus wird bis ans Ende der Zeiten aktuell sein und umstritten. Diesen Kampf, o Mutter, wirst du Zug um Zug miterleben, die Sympathie, die Antipathie, die Liebe, den Hass! Kein Schwert, das gegen ihn gezückt wird, das nicht auch deine Seele blutig trifft!“ Dann schwieg der Greis. Es war alles gesagt.

Es war auch eine Prophetin da, Anna, vierundachtzig Jahre alt. Sie war Witwe, aber noch rüstig und eine gläubige Frau mit heiliger Selbstdisziplin. Auch sie wohnte nahe dem Tempel und diente Jahwe mit Fasten und Gebet. Der Morgenweg zum Tempel führte sie an der Szene der drei Personen vorbei, die sich mitten auf der Treppe abspielte. Sie begriff, was diese Stunde bedeutete, und sie trug die frohe Botschaft, selbst nun auch in ihrer langen Erwartung belohnt, zu allen Mitgliedern der heimlichen Messiasgemeinde, die in Jerusalem und rings auf den Hügeln mit den beiden Greisen auf die Erlösung des Landes hofften und um sie beteten. Sie offenbart ihre prophetische Begnadung dadurch, dass sie den Messias als solchen erkennt, Gott für sein Erscheinen preist und darüber zu allen im Tempel Anwesenden spricht, die gleich ihr auf die Erlösung Jerusalems warteten. Ihr Prophetentum gibt ihren Worten, wie denen des Simeon, Bedeutung und Autorität. Ein bestimmtes Wort aus ihrem Munde wird nicht überliefert.

Die beiden Eltern aber stiegen zum Opferdienst in die Höhe des Tempels, kauften das Kind mit der Gabe der Turteltauben von dem Gebot der Erstgeburt los und zogen mit ihm in ihre Stadt, trotz allen Lobes Bethlehems, in ihre Stadt Nazareth. Dort warteten sie geduldig auf das, was der himmlische Vater mit dem Sohn Mariens vorhatte. Als seine Stunde gekommen war, trat er vor die Menschen und rief: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Ändert euren Sinn und glaubt an die frohe Botschaft.“

Amen.

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