27. August 2023
Unsere Eltern
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Was bedeutet uns das vierte Gebot Gottes, wenn wir an Vater und Mutter denken? Viele, vielleicht die meisten werden glückliche Erinnerungen an die Eltern haben, werden mit Heimweh und Dankbarkeit an sie denken. Es gibt aber auch solche, denen die Worte Vater und Mutter nichts sagen, für die sie niemals eine glückliche und große Bedeutung hatten, die niemals an Vaterliebe oder Mutterliebe zu glauben gelernt oder diesen Glauben wieder verloren haben. Für jeden hat das Thema Vater und Mutter eine große Bedeutung. Ob Vater oder Mutter noch leben oder ob sie auf dem Friedhof liegen, wo gestorbene Menschen oder wo gestorbene Liebe begraben liegt, immer geht uns das an: Vater und Mutter. Der Vater- und Muttername ist der Name von schenkenden Menschen. Es sind Menschen, von denen wir empfangen, und dieses Empfangen ist sogar das Allererste; bevor wir irgend etwas wiedergeben können, müssen wir von ihnen empfangen. Keinem anderen Menschen verdanken wir Ähnliches, ja in gewissem Sinne alles: leibliches Leben, seelisches Leben, Geistesleben. Von den Menschen erhalten wir das leibliche Leben und die leibliche Erhaltung. Denn das junge Menschenwesen ist das zarteste und zerbrechlichste aller Lebewesen. Der lebende Menschenkörper ist in unserer Welt das vollkommenste körperliche Gebilde. Deshalb bedarf er der meisten Hilfsmittel und der längsten und sorgsamsten Pflege, der ausdauernden und vielseitigen Hilfe. Es gibt schließlich nur einen Menschen, der am sichersten weiß, was ein bestimmtes Kind braucht und wie es behandelt werden muss, und dieser einzige Mensch ist die eigene Mutter des Kindes, wenn sie eine rechte Mutter ist.
Vater und Mutter geben dem jungen Menschen nicht nur das Dasein und die äußere Körperpflege, sondern auch die besonderen Bedingungen und Bestimmungen seines Körpers, seine Anlagen, die Grundlagen seiner körperlichen Gesundheit, ja sogar die Grundlagen seines menschlichen Charakters, soweit sie körperlicher Natur sind. Wir alle leben jahrelang von dem Geld, das unsere Eltern erspart und erdarbt haben, wir leben aber auch ein Leben lang von dem Kapital der Pflichttreue, der Willenszucht, der Charakterfestigkeit, der Selbstlosigkeit und der Dienstwilligkeit unserer Eltern. Vater und Mutter schaffen nicht nur den Körper ihres Kindes, sie beeinflussen auch das Herzens- und Gemütsleben, das Phantasie- und Gefühlsleben, das Seelenleben. Die unsterbliche Geistseele wird von Gott im Augenblick der Zeugung ins Dasein gerufen und in den Körper eingesenkt als lebendigmachende Kraft. Aber wie nun diese beiden Kräfte, Leib und Seele, miteinander wohnen und wachsen, das hängt auch von den Eltern ab, lange Jahre hindurch. Unseren Eltern verdanken wir die ganz eigene und unvergleichliche Umwelt des guten Elternhauses. Es gehören unwägbare Kräfte zur seelischen Entwicklung, jenes wunderbares Etwas, das selbst in den Wohnungen der Ärmsten vorhanden sein kann, dieses unfassbare Wunder von Wohlwollen, Aufmerksamkeit, Zuverlässigkeit, Schönheit und Zärtlichkeit, um dessentwillen man ein lebenslanges Heimweh nach dem Vaterhause trägt. Wenn ein Mensch im körperlichen Sinne keine gute Kinderstube hatte, wird er sich im Leben schwer tun. Wenn aber seine Seele keine Kinderstube hatte, wenn er nie das Glück, die Geborgenheit, den Ernst, die Innigkeit der Vater- und Mutterliebe erfuhr, dann ist das Leben für diesen Menschen erschwert; er bleibt in vielen Fällen seelisch unterernährt und verwachsen. O, gesegnet sei uns das Andenken von Vater und Mutter, wenn sie unsere Seele nicht in dieser Weise darben ließen!
Über diesem leiblich-seelischen Unterbau erhebt sich dann ein geistiger Aufbau. Vater und Mutter sind auch die ersten und besten Gestalter unseres geistigen Lebens. Was Vater und Mutter selbst an geistigem Leben, an Innerlichkeit und Idealismus, an sittlicher Treue und charakterlicher Prägung, an religiöser Tiefe und Lebendigkeit besitzen, das kann bis zu einem gewissen Grad weitergegeben werden und wird für gewöhnlich von niemand, von keinem Lehrer, von keinem Meister, von keinem Freund so wirksam weitergegeben wie von den Eltern, die diesen Namen im geistigen Sinn verdienen. Der Aufbau des geistigen Lebens ist freilich die eigenste Sache eines jeden. Aber die Stoffe und die Formen dieser Bewegung müssen doch von außen kommen. Wieviel gaben uns die Eltern durch ihr stilles Wort, durch ihr ergreifendes Wesen! Die tiefsten Fundamente unseres Lebens haben sie in unseren Geist gelegt durch Anregung, Befruchtung und Bewahrung, durch Unterweisung und Hinweise.
Die Menschwerdung des jungen Menschen vollzieht sich eigentlich in dem Erwachen und Formen seines Willens. Vater und Mutter können ihrem willensbildenden Wort den gutgemischten Klang von Güte und Unwiderstehlichkeit zugleich geben. Sie sind die ersten und wichtigsten Träger der Autorität. Kein Mensch wird je etwas werden oder leisten, der nicht gelernt hat, sein eigenes Gelüste zu beugen vor dem, was sein muss. Wer aber sollte dem jungen Menschenkind das sagen, was sein muss, wenn nicht Vater und Mutter? So wird ihre Stimme zur Stimme der Wirklichkeit selbst, zur Stimme der realen Welt, zur Stimme Gottes, zur Autorität. Wehe dem jungen Menschen, der nicht schon im Anfang seines Lebens gelernt hat zu gehorchen, nicht erst auf eigene Untersuchung hin, nicht erst aus eigenem Gutdünken, sondern um des Befehles willen zu gehorchen. Darum heißt es in vierten Satz des Dekalogs: Du sollst Vater und Mutter ehren. Das heißt: Du sollst dich vor ihnen neigen in Ehrfurcht und Gehorsam, du sollst sie als etwas über dir Stehendes anerkennen, als Vertreter der Wirklichkeit, die du lernen musst anzuerkennen. Die Eltern sind die Menschen, an denen das Kind zum ersten und vielleicht zum entscheidenden Male lernen kann, was es heißt, nicht den eigenen Einfällen folgen, sondern dem, was sein muss, was den Namen der Pflicht führt. Von der gänzlichen Fehlerlosigkeit oder der hohen Begabung oder vom liebenswürdigen Wesen der Eltern darf der Gehorsam nicht abhängig gemacht werden.
Die elterliche Autorität ist in einem Wandel begriffen, weil die Kinder von selbst über sie hinauswachsen. Durch ihre innere Wandlung soll sie aus der beinahe physischen Gewalt über das Kleinkind im Laufe der Jahre mehr und mehr eine seelische Führung, eine helfende, schließlich eine freundschaftliche, ja kameradschaftliche Führung werden. Und das ist nicht bloß Sache der Eltern, sondern auch Sache der Kinder. Wir müssen es unseren Eltern leicht machen, aus Autoritätspersonen unsere Freunde und Kameraden zu werden. Wir müssen ihnen entgegenkommen und lernen, ihnen die Hände zu reichen. Wenn die Eltern einmal alt oder gebrechlich, leiblich oder seelisch hinfällig geworden sind, dann werden sie nach Gottes Gebot und den Gesetzen der christlichen Liebe zum Gegenstand der Fürsorge, der Betreuung für die Kinder. Und auch das ist dann Erfüllung des vierten Gebotes, ist Äußerung jener heiligen Ehrfurcht und Verehrung, mit der die Kinder von Anfang bis zum Ende aufschauen sollen zu jenen, die ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben als Stellvertreter Gottes begegnet sind.
Nun gibt es Menschen, die in seelischem Sinne keinen Vater und keine Mutter haben, denen keine wirkliche Elternliebe zuteil wurde oder die durch den Unverstand oder die Selbstsucht ihrer Eltern eine schwere Einbuße an Lebensglück erlitten haben. Sie haben viel verloren, das ist wahr, aber nicht alles. Kein Mensch ist unersetzlich, nicht einmal Vater und Mutter. Was ein Mensch von diesen Allernächsten seiner Jugend nicht empfing, das kann ihm von anderen Menschen auch noch im spätesten Leben zuteil werden, von einem Geschwister oder einem Freund, von einer Gattin oder einem Gatten, überhaupt von einem Menschen, der sein Mensch geworden ist. Und wenn ihm auch das versagt bleibt, dann kann das Leben und seine Schule, die Erfahrung, die besondere natürliche oder übernatürliche Begabung und Begnadung in Verbindung mit rastlos treuer Arbeit an sich selbst das Elternhaus ersetzen. Auch von Verbrechern können Heilige stammen. Die Entbehrung von Vater- und Mutterliebe allein braucht noch keinen Menschen verzweifeln zu lassen. Sie braucht ihn also auch nicht zu verbittern und mit Hass an die Menschen denken zu lassen, die ihn ins Leben gestoßen haben. Ja gerade dann, wenn er trotz dieser harten Entbehrung des Kindheitsglückes doch noch ein reifer und starker Mensch geworden ist, dann wird er auch an seine Erzeuger und seine ersten unglücklichen Erzieher denken mit einer reifgewordenen Güte, mit dem Verstehen und Erbarmen, mit dem wir alle unfähigen und unzulänglichen Menschen ansehen sollten. Wenn es ihnen aber gelingt, auch an diese beiden Menschen mit verzeihender, verstehender und erbarmender Seele zu denken, dann sind sie auf die Höhe des vierten Gebotes gestiegen. Dann sind sie nicht bloß Martyrer des vierten Gebotes, sondern die großen und heiligen Erfüller dieses Gebotes.
Amen.