Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
12. Februar 2023

Meine Schuld ist groß

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Viele Menschen stehen, ohne es selbst zu wissen, in einem eigentümlichen Verhältnis zu Gott. Sie nehmen eine Abwehrstellung gegen ihn ein. Sie leben in der Vorstellung, Gott ist der Richter, wir Menschen sind die Angeklagten. Darum suchen sie nach Verteidigungsgründen, die sie vor Gott schützen können. Und wenn sie etwas Gutes an sich entdecken, dann verschanzen sie sich dahinter, als ob ihnen Gott jetzt nichts sagen könnte, als ob sie jetzt sicher wären vor ihm. Ist das recht? Ist dies das richtige Verhältnis zu Gott dem Allgütigen und Allbarmherzigen? Eine alte Frau hatte Schweres mit ihrem ältesten Sohn durchgemacht. Eines Tages stürmt wieder so viel auf sie ein. Da richtet sie sich auf und ruft: „Mein Gott, warum tust du das? Warum hilfst du mir nicht? Ich habe rein gelebt als Jungfrau, treu als Gattin, fromm als Witwe! Warum hilfst du mir nicht?“ Wie eine Prophetin des Alten Testa-mentes, so stand die weißhaarige Frau da. Und wie ein Vorwurf gegen Gott klangen ihre Worte zum Himmel. Es ging einem durch Mark und Bein. Es war einer von den Augenblicken, die man nie vergisst. Und es war, als ob mit ihr tausend andere Stimmen rufen: Gott in der Höhe, wir haben dir treu gedient, warum erhörst du uns nicht?

Dann tritt ein anderes Bild vor unsere Seele. Aus grauer Vorzeit kommt eine Gestalt gegangen – gebeugt, gebrochen. Sie tritt vor Gott hin: „Um deines Namens willen, o Gott, Gnade, Verzeihung.“ So ruft sie und fügt hinzu: „denn meine Schuld ist groß“ (Ps 24,11). Es ist der Psalmist, der so betet. Er spricht nicht von seinen Kämpfen, seinen Gebeten, seinen guten Taten; er spricht nur von seiner Sünde: „denn meine Schuld ist groß“. Das ist die einzige Empfehlung, die er zu bringen weiß.

Da kommt einem die Frage: Wer von beiden hat recht, die Greisin oder der Psalmist? Beide stehen vor Gott, beide flehen um Gnade. Die eine bringt als Empfehlung die Reinheit eines ganzen Lebens, der andere nichts als das Bekenntnis seiner Sünde. Welches ist die bessere Empfehlung? Die Frage brauchen wir nicht zu entscheiden; sie ist längst entschieden, seitdem Paulus im zweiten Brief an die Korinther die Worte schrieb: „Gern will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit in mir wohne die Kraft Christi“ (2 Kor 12,9). Und Paulus kannte Gott besser als wir, wusste besser, was vor Gott die größere Empfehlung ist. Die Frage ist längst entschieden, seitdem Christus den Zöllner im Tempel, der seine Sünde bekannt hat, gerechtfertigt von dannen gehen lässt. Seitdem wissen wir, dass das aufrichtige Bekenntnis unseres Sündenelends die beste Empfehlung ist, die wir vor Gott vorweisen können. Gewiss ist es etwas Unerhörtes, dass der Beter im Psalm sein Sündenelend als Empfehlung benutzt. Das scheint fast wie ein Faustschlag gegen Gott. Aber hat der Beter nicht recht? Vor der Barmherzigkeit ist das Elend die beste Empfehlung. Das ist eben die Eigenart der Barmherzigkeit, sich zum Elend zu neigen. Die Menschen, die sich sonst ihrer körperlichen Gebrechen schämen, strecken uns an den Straßenrändern ihre verkrüppelten Glieder entgegen. Sie wissen, das empfiehlt sie vor den barmherzigen Seelen. So tut es der Sünder seinem Gott gegenüber. Was soll alle falsche Scham vor dem Allwissenden? Ja, ich bin schuld. Meine Schuld ist groß, sogar sehr groß. Und wir? Wir suchen alle möglichen Rechtfertigungsgründe für uns, suchen Entschuldigungen für unsere Fehler, und wissen nicht, dass wir damit unsere besten Empfehlungen vor Gott zunichte machen. „Denn meine Schuld ist groß!“ Wenn wir Gott den Vater kennen würden, müssten wir anders handeln. Wir haben uns ein eigenartiges Bild von Gott zurechtgemacht. Ein Bild von Gott, der nur für die Guten da ist und für die Gesunden, der nicht viel besser ist als wir selbst. Denn seht, was tun wir? Wenn jemand krank ist im Haus, dann lassen wir alle Gesunden und kümmern uns um die Kranken. Und der Gott, den wir uns zurechtgemacht haben, lässt alle Kranken und kümmert sich nur um die seelisch Gesunden. Christus hat anders vom Vater im Himmel gesprochen. Der reuige Sünder sucht keine Rechtfertigungsgründe für seine Sünde, sucht keine Entschuldigungsgründe für seine Fehler. „Denn meine Schuld ist groß.“ Warum verstecken wir uns vor dem barmherzigen Gott? Wenn der Mensch sein Sündenelend vor ihm bekennt, reuig und wahrhaftig, dann kennt die Freude Gottes keine Grenzen.

In unübertrefflicher Weise hat Christus dies in dem Gleichnis von dem verlorenen Sohn dargestellt. Wir lieben diese Erzählung, aber wir kennen sie nur zur Hälfte. Nur bis dahin, wo der verlorene Sohn heimkommt und vom Vater aufgenommen wird. Aber die letzten Verse, die noch folgen, sind eigentlich die schönsten. Der ältere Sohn hört das Singen und Musizieren im Haus und will nicht hineinkommen. Da geht ihm der Vater entgegen und bittet ihn einzutreten, Aber der antwortet bitter: „Ich habe dir immer treu gedient, und du hast mir nie ein Mahl bereitet; jetzt kommt dieser Nichtsnutz zurück, und du lässt ihm das Mastkalb schlachten.“ Und nun die wunderbare Antwort des Vaters. Er gibt alles zu. Was der ältere Sohn sagt, ist wahr. Und  doch: Es musste sein, dass ein Fest gefeiert wird. Warum musste es sein? Nun, weil er Vater ist! Daran erkennen wir den Vater. Er überlegt nicht lange, warum er das Freudenmahl hält. Er sucht nicht nach Rechtfertigungsgründen. Es musste sein! Das ist die Liebe Gottes, die einfach überströmt dem reuigen Sünder gegenüber. Wer in eine solche Seele hineingeschaut hat, dem fällt es nicht schwer, die Freude Gottes zu begreifen. Es ist schön, wenn im Frühling das Leben durchbricht und es überall sprosst und grünt. Aber am allerschönsten ist es, wenn man erleben darf, wie das Edle in einer Menschenseele aufbricht und aufleuchtet. Es ist wohl das größte Glück eines Priesters, zu erleben, wie Menschen sich bekehren. Sich reuig abwenden von Sünde und Laster. Ehrlich ihre Schuld bekennen. Sehnsüchtig nach Vergebung verlangen. Ketten, die fallen, machen eine schöne Musik.

Eine Lehrerin, eine edle mütterliche Persönlichkeit, hatte Kinder zur ersten hl. Beicht vorzubereiten. Zwischen ihr und den Kindern hatte sich ein inniges Vertrauensverhältnis angebahnt. Aber sie hatte einen Jungen, der ein wahrer Taugenichts war. Veranlagung und äußere Verhältnisse hatten ihn auf die schiefe Bahn gebracht. Täglich gab es Klagen über ihn. Ungewaschen, in schmutzigen Kleidern kam er in die Schule. Täglich fehlte etwas von den Hausaufgaben. Immer wieder zeigte das Strafbuch seinen Namen. Schließlich wurde er ein so verbittertes Kind, das als Erziehungsmittel bei Eltern und Lehrern nur noch den Stock kannte. Die einzige, die ihn fein zu behandeln wusste, war die Lehrerin. Und er gewann Vertrauen. Es gab ein langes, stilles, inneres Ringen und Kämpfen. Eines Tages steht der Junge vor ihr. In seiner ungeschickten und ungefügen Art spricht er: „Lehrerin, ich muss eine Sammelbeichte, eine Gesamtbeichte ablegen, aber ich kann es nicht. Du musst mir helfen.“ O, Kinder haben auch schon ihre Seelenkämpfe, ihre Seelennöte. Alle Angst einer gehetzten Kinderseele sprach aus den großen Augen: Du musst mir helfen. Da setzte sich die Lehrerin mit ihm zusammen, und sie hielten Gewissenserforschung. Die Lehrerin berichtet: „Wie ich da Einblick gewinnen konnte in das Herz dieses armen Kleinen, der so viel von Sünde kennengelernt hatte, und doch gut werden wollte, da überkam mich eine solch wehmütig-freudige Seligkeit, dass der kleine zerlumpte Knabe mir der liebste von allen wurde.“ Ja, der Sonnenaufgang in einer Seele ist herrlich schön. Aber was wir in den Seelen sehen können, sind nur unklare Schattenbilder. Wie aber ist es, wenn Gott vor einer solchen Seele steht, er, der Allsehende, der jeden guten Gedanken sieht, der das Ringen der Seele bis in die feinsten Regungen verfolgt? Wenn Gott vor dem Sonnenaufgang in einer Sünderseele steht, wer kann da die Freude seines Herzens fassen? Gott, der Allbarmherzige! Wenn er sieht, wie das bisschen Elend, das wir Mensch nennen, sich zu ihm schleppen will, dann kann er dem Sünder nicht böse sein. Dann verstehen wir das Wort: „Im Himmel ist mehr Freude über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte, die der Buße nicht bedürfen“ (Lk 15,7). Ist die Sünde ein Grund zur Mutlosigkeit? Nein, und abermals nein! Tritt nur hin vor deinen Vater: Siehe, meine Schuld ist groß, du musst mir helfen.

Amen. 

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