2. Januar 2022
Es ist später, als ihr denkt
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das Stundenglas eines Jahres ist ausgelaufen. Tage, Wochen und Monate gingen, nein, eilten dahin. Wenn ich samstags in den Beichtstuhl ging, habe ich mich oft gefragt: Ist schon wieder Samstag? Es war doch gerade erst Samstag. Heute halten wir inne und besinnen uns: Ein Jahr, ein ganzes Jahr ist zu Ende gegangen, ist unwiderruflich vergangen, kehrt niemals wieder. Es ist Menschen wie Gott unmöglich, die Vergangenheit zurückzurufen. Rückschauend denken wir an Tage voll Mühe und Arbeit, Tage mit Unpässlichkeit und Krankheit, Tage des Leids und der Not, vielleicht auch ein paar Tage der Ruhe und der Freude. Man erinnert sich an die Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten seines Lebens. An das Unrecht, das man begangen hat. An das Ungenügen, das einen begleitet hat. Wir haben in diesem Jahr Menschen verloren, die wir gekannt haben, die uns lieb und teuer waren. Gott hat sie abberufen. Alle diese Tage sind vergangen, aber in unserer Erinnerung aufbewahrt. Spannungen, Angst und Kummer vergisst man nicht leicht. Sie graben Furchen in unserer Seele, prägen auch unsere Gedanken für die Zukunft: Wie wird es weitergehen? Welche Mühsale und Belastungen hält das Schicksal oder, besser gesagt, hält Gott für uns bereit?
Die Zeit steht nicht still. Unaufhaltsam dreht sich ihr Rad. Für die Zeit gibt es kein Anhalten und Verweilen. Man braucht nur den Lauf des Sekundenzeigers an der Uhr zu betrachten. Er läuft und läuft und hält nicht an. Wie Nussschalen treiben wir auf dem Rücken der Zeit dahin, unbekannten Fährnissen entgegen, bis wir eines Tages an das Ufer der Ewigkeit gespült werden und damit der Zeit entgleiten. Zeit besagt Vergänglichkeit. Titanische Geister haben versucht, ihr zu trotzen. Ob sie sich Monumente erbauten, die für die Ewigkeit dauern sollten (wie die Pyramiden der Pharaonen), oder ob sie den Leib nach dem Tod einbalsamieren ließen – immer war es ein Kampf gegen die Zeit. Allerdings ein aussichtsloser Kampf. Prachtbauten zerfallen und Leichen verwesen. „Gedenke, o Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst.“ So mancher geistige Mensch meinte, seine Bücher würden die Zeit überdauern, an sie würden sich künftige Generationen halten. Die Theologen Karl Rahner und Hans Küng wähnten, sie würden die Zukunft der Theologie prägen. Sie haben sich getäuscht. Auch über ihre Bücher breitet sich das Vergessen, es deckt sie der Staub.
Das Kind in der Wiege weiß noch nichts vom Ernst und von der Macht der Zeit; es lebt gewissermaßen zeitlos dahin. Das Kind in der Schule freut sich über die Zeit, die ihm Wachstum und Fortschritt ermöglicht. Der Erwachsene spürt schon den leisen Fraß des unerbittlichen Vergehens; er merkt, wie ihm die Zeit wegläuft, wie Pläne zerrinnen, Projekte vergehen. Der alte Mensch denkt mit bitterer Wehmut an die wenigen guten Tage seines Lebens und mit untilgbarem Schmerz an die schlimmen Zeiten. Vielleicht klagt er die Zeit an, die ihm gnadenlos sein Leben Stück für Stück aus der Hand genommen hat. Der Mensch ist ein Lernender sein Leben lang. Um ein guter Handwerker, ein beindruckender Lehrer, eine rechte Mutter zu werden, muss man unermüdlich arbeiten, studieren, sich unterrichten und bilden. Wer kann von sich sagen, er habe alles Wissen und alle Fähigkeiten erworben, die zu einem gelungenen Leben erforderlich sind? Der Wagner in Goethes „Faust“ spricht: „Wie schwer sind nicht die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt. Und eh’ man nur den halben Weg erreicht, muss wohl ein armer Teufel sterben“ (Wagner). Wehmütig schaut der Mensch auf sein Leben zurück. Wie vieles ist nicht gelungen, nicht zur Reife gediehen. „O dass dem Menschen nichts Vollkommenes wird, empfind’ ich nun“, heißt es wiederum in Goethes „Faust“. Mancher von uns wird rückschauend sagen: Was wollte ich noch alles vollbringen! Welche Pläne hatte ich noch! Was für Projekte standen mir noch vor Augen! Welche Unternehmungen habe ich noch angefangen! Jetzt liegen sie unvollendet da, ein Torso! So ist es vielen ergangen. Mozart konnte die Komposition seines Requiems nicht abschließen. Schubert vermochte seine siebente Sinfonie nicht zu vollenden. Friedrich Schillers „Demetrius“ blieb unvollendet. „Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben“, heißt es in Goethes „Faust“.
Die rein natürliche Betrachtung und Wertung der Zeit versetzt den Menschen in Trauer. Es gibt so viele Stunden, die man für immer halten und niemals verlieren möchte! „Verweile doch, o Augenblick, du bist so schön!“ Die Zeit ließ sich nicht festhalten, keine Stunde, kein Augenblick. Wie viel haben wir verpasst, versäumt, unterlassen! Was wollte ich noch alles tun! Was wollte ich meine Eltern, meine Großeltern, meine Kameraden, meine Freunde noch fragen! All das blieb unvollendet, ungetan, kann niemals mehr vollbracht werden. Allein schon der Gedanke daran offenbart unsere Ohnmacht. So brauchen wir uns nicht zu wundern, dass für viele das alte Wort „Carpe diem“, nütze die Zeit, eine verführerische Lockung zu hemmungslosem Lebensgenuss bedeutet. Manche haben es versucht. Aber nicht wenige mussten ehrlich gestehen: „So tauml’ ich von Begierde zu Genuss und im Genuss verschmacht’ ich nach Begierde“ (Faust). Die Lust bringt keinen Frieden. Für andere besagt das Wort Carpe diem, nütze die Zeit, die vermeintliche Notwendigkeit, möglichst pausenlos zu schaffen und zu wirken, damit keine Zeit vergeudet werde. „Gebraucht der Zeit, sie geht so schnell von hinnen“ (Mephisto). Goethe gestand: „Ich kann wohl sagen, dass ich in meinen fünfundsiebzig Jahren keine vier Wochen eigentliches Behagen gehabt. Es war das ewige Wälzen eines Steines, der immer von neuem gehoben sein wollte“ (Goethe). Ein rechtes Leben muss unter dem Gesetz der Arbeit stehen. „Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen“ hat Gott angeordnet. Das Muss ist hart, aber beim Muss allein kann der Mensch zeigen, wie es inwendig mit ihm steht. Willkürlich leben kann jeder. Die Tätigkeit ist das, was den Menschen glücklich macht. Meist tut uns im Leid keine Trostarznei not, sondern Arbeit, Bewegung, Tätigkeit. Arbeit heilt Leid am sichersten (Keppler). Kein Segen kommt dem der Arbeit gleich, und nur der Mensch, der sein Leben lang mit Leib und Seele gearbeitet hat, kann sagen: Ich habe gelebt. Alles wird gut für den Menschen, wenn er sein Leben von der Arbeit und seine Größe von der Religion herleitet. Arbeit sei dir weder dein Gott noch deine Hölle; sie sei dir der Weg zu Gott (P. Pesch). Der Glaube an Tod und Ewigkeit macht nicht arbeitsscheu, sondern arbeitsflink und arbeitsfroh. Für uns Christen ist die Zeit nicht der reißende Strom, der aus dunkler Unendlichkeit kommt und in dunkle Unendlichkeit hinabstürzt. Zeit kommt von Gott, Zeit geht hin zu Gott. Das ist unser Bild von der Zeit. Die Zeit, Gott zu suchen, ist dieses Leben. Die Zeit, ihn zu finden, ist der Tod. Die Zeit, ihn zu besitzen, ist die Ewigkeit (Franz v. Sales). Die Zeit ist ein Geschenk Gottes. Ist die Zeit das kostbarste Geschenk unter allen, so ist Zeitverschwendung die allergrößte Verschwendung (Franklin). Wir sind aufgerufen, die Zeit zu nutzen. Was von der Minute ausgeschlagen wird, gibt keine Ewigkeit zurück (Schiller). „O nimm der Stunde wahr, eh’ sie entschlüpft. So selten kommt der Augenblick im Leben, der wahrhaft wichtig ist und groß“ (Schiller). Niemand hat vom Leben etwas Ordentliches gelernt, solange er nicht weiß, dass jeder Tag Gerichtstag ist. In der abendlichen Gewissenserforschung urteilen wir mit Gottes Maßstab über unser Tagwerk. Immer die gegenwärtige Stunde ist die Stunde Gottes (G. Keller).
In der Ankunft seines Sohnes, in der Menschwerdung, hat die Zeit eine Mitte erhalten, um die sie sich sammelt. Durch die Geburt Gottes im Fleische ist die Zeit erfüllt. In Christus wird jede Zeit sich erfüllen, wenn wir ihn nur hereinlassen in unsere Zeit. Wenn wir unser Tun und Lassen im Namen Jesu beginnen und vollenden. Die Gemeinschaft mit Christus hebt uns aus der rein irdischen Zeit heraus. Sie lässt uns in neuen Kategorien fühlen und denken. Unsere Zeit wird sich erfüllen, wenn wir in Christus hineinwachsen. Der Herr sagt von sich selbst: „Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. Es kommt die Nacht, da niemand wirken kann“ (Joh 9,4). Der Apostel Paulus mahnt: „Lasst uns jedem Gutes erweisen, solange wir noch Zeit haben“ (Gal 6,10). Auf einer alten Uhr findet sich die Inschrift: Transeunt et imputantur. Die Stunden gehen dahin und werden angerechnet. Das beste Gebet am Anfang eines Tages ist, dass wir seine Augenblicke nicht verlieren möchten. Das Leben ist kurz, aber doch von unendlichem Wert; denn es birgt den Keim der Ewigkeit in sich.
Amen.