25. Dezember 2017
Heute ist euch der Heiland geboren
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte, zur Feier der Geburt unseres Heilandes Versammelte!
„Seht, ich verkünde euch eine große Freude: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, der Messias und Herr.“ So lautet die Botschaft der Engel, die an die Hirten in Bethlehem und über sie an die ganze Menschheit ergangen ist. Erfüllt ist, was der Prophet Isaias verkündete: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt, auf seinen Schultern ruht Weltherrschaft. Wunderrat lautet sein Name, Gottheld, Friedensfürst, Vater der Zukunft.“ Das ist der Inhalt des heutigen Festes. Der einziggeborene Sohn des ewigen Vaters ist in einer wahren menschlichen Natur auf Erden erschienen. Gott ist zeithaft und geschichtshaft geworden. Das ist das Evangelium, die neue gute Botschaft.
Die Schriften des Neuen Testaments legen keine fortlaufende Geschichte des Lebens Jesu von der Geburt bis zum Tode, keine Biographie Christi vor. Sie enthalten Zeugnis über das Geheimnis Jesu, das im Vollzug dieses Lebens gegenwärtig wird, Bericht über die Ausrufung und Sicherung des messianischen Reiches und der mit ihm heraufgezogenen Gottesherrschaft. Vor allem sind sie sich einig, dass Gott eine bestimmte Stunde ergriffen und sich selbst in ihr gegenwärtiggesetzt hat. Man kann die Menschwerdung datieren. Sie ist die Aufgipfelung aller vorausgehenden Offenbarungen Gottes. Als das Vollmaß der Zeit erreicht war, da sandte Gott seinen Sohn. In ihm ist die Weltzeit zum Ziele gekommen.
Am auffallendsten ist die Kraft, mit der die Leiblichkeit und die darin begründete Geschichtlichkeit Christi vom Apostel Johannes bezeugt wird. Das vierte Evangelium berichtet so viel von dem sichtbaren Lebensverlauf Christi, dass sich daran der Glaube an seine göttliche Herrlichkeit aufzurichten vermag. Was Johannes von diesem Leben sagt, ist ein eindringliches Zeugnis gegen alle mythologischen Verflüchtigungen. Er kann sich nicht genugtun mit der Versicherung, dass er das Gottesleben, das auf Erden erschienen ist, selbst gesehen, gehört, ja berührt hat. Mit allen Sinnen hat er die Gestalt Christi aufgenommen, und noch nach zwei Menschenaltern hat er den Tonfall seiner Stimme im Gehör und spürt er den Händedruck des Herrn. Er war Augenzeuge der Gotteswerke, die in Jerusalem, Karpharnaum, Nazareth geschehen sind. Mit geradezu aufdringlicher Entschiedenheit sagt er in seinem Evangelium: „Das Wort ist Fleisch geworden“ – Fleisch, das ist Ausdruck für die menschliche Hinfälligkeit, Schwäche. Jede Deutung auf einen Scheinleib oder einen himmlischen Leib scheitert an der Härte dieses Ausdrucks. Man merkt, dass Johannes gegen einen Gegner spricht. Es ist der dualistische Gnostizismus, der dualistische und leibfeindliche Gnostizismus. Es klingt ein kämpferischer Ton mit. Es soll möglichst scharf und unüberhörbar erklärt werden, dass der LOGOS wirklich eine menschliche Natur in Schwäche und Hilflosigkeit angenommen hat. „Ihr werdet ein Kindlein finden, das in einer Krippe liegt.“ Ja, was ist denn hilfloser und schwächer als ein neugeborenes Kind? Wenn Menschen sich die Erlösung vorstellen, dann sieht sie anders aus. Markion, der Hauptvertreter der Gnosis im 2. Jahrhunderts n. Chr., lässt den Rettergott plötzlich in Scheingestalt in die ihm fremde Welt kommen, um dem bösen Schöpfergott seine Geschöpfe zu rauben und sie zu retten. Diese Ansicht bezeichnet Johannes als eine Irrlehre. Die Irrlehrer leugnen, dass Christus im Fleische erschienen ist; sie sind Verführer. Nein, Jesus Christus ist keine überzeitliche Idee. Der Gottessohn ist im Jetzt einer bestimmten Stunde gekommen als der von Gott gesandte Offenbarer. Jetzt entscheidet sich alles an ihm, jetzt ist das Licht gekommen, das Gericht und Rettung bringt. Die Offenbarung Gottes geschieht nicht im zeitlosen Immer, sondern zu der von Ewigkeit her festgesetzten Stunde, nicht vorher und nicht nachher. Wer sie versäumt, der verpasst die Heimsuchung Gottes. Über seinem Dasein steht das Zu-spät der Verzweiflung.
Das Leben Christi erschöpft sich freilich nicht in seinem geschichtlichen Verlauf. Es kommt aus einem Hintergrund, der angefüllt ist mit Gottes Herrlichkeit. Wenn man Christus richtig verstehen will, muss man beides zusammensehen: die Menschenschwäche und die göttliche Herrlichkeit.
Auch Paulus verkündet die Dichte des leibhaftigen geschichtlichen Daseins Christi. Er ist ihm nicht ein mythisches Himmelswesen. Der jetzt als der erhöhte Christus im Himmel thront, ist derselbe, den eine irdische Mutter geboren hat. Die geschichtliche Wirklichkeit dieses Lebens erfährt ihre Krönung im Leiden, Sterben und Auferstehen Christi. Auch in den Mythen ist vom Sterben und Auferstehen der mythischen Heilande die Rede. Aber das ist nichts anderes als die Symbolisierung von Naturvorgängen: das Sterben im Herbst und Winter und das Auferstehen im Frühling. Christi Tod und Auferstehung ist kein Gleichnis für Naturvorgänge, sondern ein einmaliges, unwiederholbares Ereignis der Geschichte. Da ist vom Grab die Rede, und das Grab und die Krippe sichern die Geschichtlichkeit Jesu. Es kann nicht eindringlich genug gesagt werden: Die Dichte des Geschichtlichen zieht die schärfste Trennungslinie zwischen dem Christentum und allen übrigen religiösen Erscheinungen. Diese müssen, gemessen am Christentum, allesamt als Naturreligionen bezeichnet werden, in ihnen wird die Natur vergöttlicht. Das Geschichtliche erhält in der christlichen Offenbarung eine derartige Kraft, dass es den immerwährenden Kreislauf von Werden und Vergehen zu durchstoßen vermag. In der Auferstehung Christi ist ein Weg eröffnet worden, der aus der Natur herausführt, der das Gesetz der Vergänglichkeit überwindet. Die drei Synoptiker, also Matthäus, Markus und Lukas, berichten am eingehendsten vom irdischen Leben Jesu: von der Geburt, von seinem Wandern, von seinem Wirken und von seinem Sterben. Er war ein Kind wie jedes, wurde in Windeln gehüllt und in die Krippe gelegt, weil in der Herberge kein Platz war. Die Welt hat für alles Platz: für Börsenmakler, für Berufsboxer und für Fußballer, aber für den Sohn Gottes, wenn er kommt, hat sie keinen Platz. Die Jahre seiner Jugend verliefen mit wenigen Ausnahmen ohne auffallende Erscheinung wie bei einem anderen Kind, ganz im Gegensatz zu den mythischen und legendären Heilandsgestalten der Antike. Christus war ein Mensch, der hungerte und dürstete, der ermüdete und schlief, der zürnte und staunte, der litt und trauerte, der kämpfte und lobte. Es vollzog sich dieses Leben in den Urweisen des menschlichen Daseins. Die Geschichtlichkeit Christi wird besonders betont durch die Anführung von Namen, die nicht in die Heilsgeschichte gehören wie die Nennung der römischen Kaiser Augustus und Tiberius, des Statthalters Quirinius von Syrien und des Prokurators Pontius Pilatus. In ihnen tritt die lange vor ihm angekündigte Königsherrschaft Gottes in die Geschichte. Mit ihm ist der Augenblick gekommen, auf den die Zeiten gewartet haben. „Seht, ich verkünde euch eine große Freude: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“
Der Verlauf dieses Lebens hat seinen genauen Stundenschlag; er ist ihm vom Vater vorgegeben. Jeder Tag und jede Stunde hat ihren Auftrag. Was von Christus erzählt wird, sind nicht Legenden, sondern gottgewirkte Geschehnisse, die sich in einer bestimmten Zeit zugetragen haben. Christus steht so klar und bedeutungsvoll in der Zeit, dass die Zeiten vor ihm auf ihn hin geprägt sind und die Zeiten nach ihm auf ihn zurückblicken. In ihm hat die Geschichte ihren Mittelpunkt. Aber dieses Leben geht nicht auf im allgemein Menschlichen. So normal es verlaufen sein mag, es ist vom Geheimnis des Unsagbaren umwittert. Das Krippenkind wächst heran, wird zum Mann. Der Zimmermann von Nazareth tritt heraus aus der Verborgenheit, geht in die Öffentlichkeit, erleuchtet die Halden Palästinas mit seinem noch nie dagewesenen Licht. Die Zeugen des Lebens Jesu haben das Unerhörte und nie Dagewesene dieses Mannes empfunden und ausgesprochen. „Wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater voll der Gnade und Wahrheit.“ Seine Taten haben sein Wesen geoffenbart. Im Gebiet der Zehn Städte heilte Jesus einen Taubstummen. Gleich taten sich seine Ohren auf und löste sich die Fessel seiner Zunge. Die Zeugen des Wunders gerieten über die Maßen in Staunen und sagten: „Den Tauben gibt er das Gehör und den Stummen gibt er die Sprache.“ Jesus heilte einen Gichtbrüchigen, dem er zuvor die Sünden nachgelassen hatte. Die dabei Stehenden ergriff eine große Verwunderung und sie sagten voller Furcht: „Unglaubliches haben wir heute gesehen.“ Die unreinen Geister stürzten auf ihn zu, sobald sie ihn erblickten, und riefen: Du bist der Sohn Gottes. Aber er ließ sie nicht reden. In Karpharnaum heilte er einen Besessenen. Er schrie Jesus an: „Bist du gekommen, uns zu verderben?“ Jesus herrschte ihn an: „Verstumme, fahre aus ihm aus!“ Und der Geist warf ihn mitten unter sie und fuhr aus. Die Zeugen des Geschehens überkam Staunen und sprachen: „Was ist das für ein Wort! Mit Macht und Kraft gebietet er den unreinen Geistern, und sie fahren aus.“ Ein andermal heilte Jesus einen besessenen Knaben. Wenn ihn der Geist ergriff, da schrie er plötzlich auf, zerrte ihn hin und her, er schäumte und rieb ihn auf. Jesus heilte den Knaben und gab ihn seinem Vater. Alle Umstehenden gerieten außer sich über die Größe Gottes, die sie in dieser Heilung Jesu erfahren hatten. Der Aussatz war die schrecklichste Krankheit der Antike, sie galt als unheilbar. Aber Jesus wurde ihrer Herr. Als er einmal einen Aussätzigen geheilt hatte, wurde der Zulauf zu ihm so stark, dass er nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte, sondern sich in der Einsamkeit aufhielt. Selbst der Tod wich vor ihm zurück. Er heilte, nein, er weckte die Tochter eines Synagogenvorstehers auf. Die Realität dieses Geschehens wird dadurch betont, dass der Evangelist das aramäische Wort berichtet, mit dem die Totenerweckung geschah: „Talitha kumi!“ – Mädchen, steh auf! Sogleich stand das Mädchen auf und ging umher. Die Zeugen dieses Geschehens entsetzten sich, entsetzten sich! vor gewaltigem Staunen. Die Eltern des erweckten Mädchens waren außer sich. Alle spürten: Was hier geschieht, ist nicht Menschenwerk, Gott wirkt unter ihnen. Die Umgebung Jesu erlebte, dass er göttliche Befugnisse für sich in Anspruch nahm. Der Sünderin, die Jesus während der Mahlzeit die Füße salbte, ließ er die Sünden nach. Die Tischgäste fingen an, bei sich zu sagen: „Wer ist denn der, dass er sogar Sünden nachlässt?“ Selbst die Natur ist ihm untertan. An einem Abend, nach getaner Arbeit, ließ Jesus übersetzen auf das jenseitige Ufer des Sees Genesareth. Da erhob sich ein gewaltiger Wirbelwind, die Wogen überschütteten das Boot, es begann, sich mit Wasser zu füllen. Jesus aber schlief am Hinterdeck auf einem Kissen. Die Jünger weckten ihn und sagten vorwurfsvoll: „Herr, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“ Da erhob er sich, beschwor den Wind und sprach zum Meer: „Schweige! Verstumme!“ Da legte sich der Wind und es ward eine große Stille. Die Anwesenden erfüllte große Furcht und sie sprachen: „Was ist denn das für einer, dass ihm sogar der Wind und die Wellen gehorchen?“ An einem anderen Tag war das Schiff mitten auf dem See; er selbst aber befand sich allein an Lande. Als er sah, wie sie sich beim Rudern abmühten, kam er über das Galiläische Meer – wie man den See Genesareth nannte – schreitend zu ihnen. Da schrien alle auf. Er stieg zu ihnen in das Schiff, und der Wind legte sich. Da gerieten sie über die Maßen außer sich. Meine lieben Freunde, alle diese Machttaten überschreiten das, was Menschen möglich ist. Sie zwingen die Zeugen zu dem Bekenntnis: Der lebendige Gott ist auf Erden erschienen. All diese Machttaten hat der vollbracht, der als ein Kindlein im Futtertrog der Tiere lag, den der Jubel der Engel umgab und dem die Hirten der Umgebung huldigten. Dass er uns geschenkt wurde, dass er unser Leben geteilt hat, dass er die dunkle Welt hell macht, das danken wir ihm freudigen Herzens. „Seht, ich verkünde euch eine große Freude: Heute ist euch in der Stadt Davids der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Auf ihm ruht Weltherrschaft.“
Amen.