24. August 2003
Das Leid im Leben
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das Glück hat eine Schwester, eine Stiefschwester, und das ist das Leid. Auch das Leid gehört zu den Abenteuern des Lebens. Es ist ein nie erwünschter und doch sich immer wieder einstellender Gast. Es ist ein Gast, der nichts Verlockendes und schon gar nichts Pikantes an sich hat, der aber doch eine gebieterische Rolle spielt in unserem Leben, denn er herrscht in jedem Leben. Das Leid ist sogar ein Richter. Es richtet über uns, wie wir uns verhalten haben, wenn es uns heimgesucht hat.
Das Leid, das über uns kommt, besitzt eine gewaltige Macht. Man könnte es deswegen als einen Erzengel Gottes bezeichnen, und jeder Mensch muß mit diesem Engel Gottes ringen, so wie seinerzeit der Stammvater Israel mit dem geheimnisvollen Engel der Nacht gerungen hat. Er trug von diesem Ringen eine Lähmung zeitlebens an sich. Und so kann es auch mit dem Leid beschehen, daß einer durch das Leid gebrochen, ja zerbrochen wird. Es kann auch geschehen, daß einer von dem Leid eine bittere Wurzel in sich trägt, daß er durch das Leid verbittert wird. In manchen Fällen aber wird das Leid zum Heiland des Menschen; dann heiligt es und weiht es den Menschen. Das ist also die dreifache Wirkung, die das Leid auf die Menschen ausübt. Es gibt Menschen, die vom Leid vergiftet werden. Es gibt Menschen, die vom Leid zerbrochen werden. Und es gibt Menschen, die vom Leid geheiligt und geweiht werden.
Es liegt nicht am Leid, wie der Mensch darauf reagiert; es liegt am Menschen, wie er auf das Leid zugeht und sich im Leid verhält. Ein Leid von winziger Kleinigkeit kann einen Menschen verbittern, und ein großes Leid wird von einem starken Menschen getragen. Es liegt nicht am Leid, sondern es liegt am Menschen, was er aus dem Leid macht, wie er diesen Gast aufnimmt oder wie er ihn abweist und unter ihm seufzt. Es gibt Menschen, die vom Leid verbittert werden. Das heißt, diese Menschen werden bitter und böse aus Anlaß oder unter dem Einfluß des Leides. Es sind Menschen, die wegen des Leides in ihrem Wesen verwandelt und verändert werden, und zwar so verändert werden, daß sie bitter werden, daß sie in Haß und Trotz und bösem Ingrimm sich aufbäumen gegen das Leid, daß sie sich verkrampfen in zorniger Empörung und Verzweiflung. Es sind Menschen, die mit geballten Fäusten umhergehen und mit knirschenden Zähnen, Menschen, die nicht Versöhnendes und Versöhnliches mehr an sich haben, sondern in denen das Mißtrauen schon zur Feindseligkeit geworden ist. Es sind das Menschen, die an keine Güte, an keine Unschuld, an keine Treue mehr glauben. Und wenn ihnen tatsächlich einmal Güte, Unschuld und Treue begegnen, etwa in einem Kinde, so nehmen sie es nur knurrend und widerwillig hin und warten nur darauf, daß sie diese Treue und diese Unschuld und diese Güte entlarven können. Die verbitterten Menschen sind jene, die das Leid so aufgenommen haben, wie man es nicht aufnehmen darf; denn kein Mensch wird ja so giftig geboren, kein Mensch ist von Anfang an so geschaffen, sondern er ist unter dem Einfluß des Leides so geworden. Meistens ist es freilich ein Leid von einer ausdauernden Hartnäckigkeit, von einer unerhörten Ungerechtigkeit, das Menschen so gemacht hat. Es gibt tatsächlich Menschen, denen alles mißlingt; es gibt Menschen, die keine Ruhe und keine Rast finden, Menschen, die durch Dinge, Ereignisse und andere Menschen wie verfolgt scheinen. Und solche Menschen werden dann eben zu verbitterten Menschen. Es kann aber auch manchmal ein Leid von relativer Kleinheit sein, das Menschen so macht. Es kommt eben auf den Menschen an, wie er auf das Leid reagiert. Kleine Enttäuschungen können einen Menschen zeitlebens verbittern. Ich traf einmal einen Professor, der nicht die Berufung an die Universität erhielt, die er sich eingebildet hatte, und der es nicht verwinden konnte, daß er diese Berufung nicht erhalten hatte, und sein ganzes Leben verbittert wurde. Es kommt auf den Menschen an. Es gibt kein Leid, das notwendig verbittert, sondern was der Mensch aus dem Leid macht, das ist entscheidend. Auch ein vom Leid Verfolgter kann in diesem Leid eine heilige Geduld, eine Demut und eine Ergebenheit aufbringen, sogar eine Liebesbereitschaft, die ihn veranlaßt, den, der noch ärmer dran ist als er selbst, zu streicheln und um ihn besorgt zu sein.
Es gibt Menschen, die vom Leid verbittert werden. Es gibt auch Menschen, die vom Leid zerbrochen werden. Das will sagen, sie haben keinen Mut und keine Kraft mehr. Es sind Menschen, die keine Hoffnung mehr haben, kein Wollen und kein Können. Es sind Menschen, bei denen alles gelähmt, entmutigt und abgestumpft ist; sie sind unsagbar müde, und vor lauter Müdigkeit sind sie gleichgültig geworden. Solchen Menschen ist alles einerlei und gleichgültig. Sie sind auf weitere Schläge gefaßt und sie fürchten sie nicht, so wie ein Lasttier, ein Esel, den man von früh bis abends prügelt. Sie warten nur noch auf den Tod, um endlich Ruhe zu haben. Sie tun auch nichts, um das Leid abzuwehren, sie rühren keinen Finger, denn es muß ja doch kommen, und sie lassen es kommen, wie es kommen will. In ihren Herzen ist kein Haß und keine Bitterkeit, denn das wäre ja ein Aufbäumen gegen das Leid, aber das bringen sie schon nicht mehr zustande. Sie haben keinen Widerspruch, keine Verwunderung, wenn das Leid sie trifft; sie haben sogar keine Angst mehr. Sie verzehren keine Kraft mehr, um sich gegen das Leid zu wehren. Ihre Abgestumpftheit wirkt schützend und schonend.
Die Menschen, die am Leide zerbrochen sind, leben häufig unglaublich lange. Es ist, als ob sie nicht sterben könnten. Das Leid begleitet sie in ein langes, langes, überlanges Leben. Selbstverständlich ist in diesen Menschen auch keine Verarbeitung des Leids. Sie werden durch das Leid weder besser noch schlechter. Sie gehen nicht innerlich auf das Leid ein, sie tun nicht mit, und so ist das Leid nur ein Über-sich-ergehen-Lassen. Sie gehen gewinnlos aus jeder Mühsal hervor.
Nun braucht diese äußerste Stufe der Zerbrochenheit nicht über jeden Menschen zu kommen. Es ist vielleicht eine kleine Schar, die in dieser Weise am Leid zerbrochen ist. Aber die meisten Menschen erfahren durch das Leid eine zerbrechende Wirkung. Sie antworten nicht auf das Leid; sie sinken dahin, sie welken dahin, sie werden müde unter dem Leid, aber sie nehmen das Leid nicht zum Anlaß, sich zu regen und zu arbeiten, sich zu wehren und zu kämpfen. Sie sind nur erschöpft und müde geworden unter dem Leid. Die meisten Menschen, die Leidträger sind, gehören zu diesen Zerbrechenden. Wo immer das Leid sie anrührt, da knicken sie ein. Sie sind weder hart noch elastisch, sondern einfach brüchig.
Es gibt aber schließlich auch Menschen, die unter dem Leid geheiligt werden. Das sind die begnadeten und erwählten Menschen, in denen das Leid eine Antwort weckt, Menschen, die mit Kraft und mit Zustimmung auf das Leid zugehen. Sie unterscheiden sich also von den Zerbrechenden, indem sie etwas tun, indem sie aus dem Leid etwas machen. Sie unterscheiden sich auch von den Vergifteten, denn es bleibt in ihrer Seele nichts Bitteres und nichts Böses, nichts Haßerfülltes zurück. Das Leid, das über diese Menschen kommt, weckt die besten und feinsten Kräfte in ihnen auf. Es ruft Kräfte und Leistungen wach, die nur unter dem Einfluß des Leides aufgerufen werden können, Gesinnungen von wunderbarer Kraft und Schönheit, eine unbeschreibliche Stärke, Bereitschaft und Leidenswilligkeit, Einfügung, Demut und Hellsichtigkeit, ja eine ganz neue Art von Freude, Leidensfreude, Leidensglück. Diese inneren Bewegungen kann man als heilig bezeichnen, weil sie auf Gott zurückgehen. Solche Menschen sind aufgeschlossen für Gott, und sie nehmen das Leid aus der Hand Gottes entgegen. In ihnen ist nicht nur Ergebenheit und starker Glaube, sondern sie haben ein Wissen von Gott, denn das Leid vermittelt ihnen ein solches Wissen.
Die Heiligung, die solche Menschen erfahren, ist eine Art Weihe. Sie werden durch das Leid geweiht, d.h. auf eine höhere Stufe des Seins emporgehoben. Menschen, die unter dem Einfluß des Leides geheiligt werden, sind hochbegnadete Menschen, und es ist kein Zufall, daß alle begnadeten Menschen auch Menschen des Leids sind, und man kann fast die Gleichung aufstellen: Je höher ein Mensch begnadet ist, um so mehr Leid kommt über ihn, um so mehr Leid trägt er. Gnade ist Leid, und Leid wird Gnade. Das Leid wird für solche Menschen zu einer Art Weihebrunnnen, zu einer Schwelle,über die sie in ein höheres Leben hineinschreiten. Und darum strahlt von diesen Menschen auch ein wunderbarer Glanz aus; eine seltsame Schönheit geht von ihnen aus, eine Anziehung, ein Alles-Verstehen, weil sie eben viel gelitten haben.
Es ist kein Zufall, meine lieben Freunde, daß derjenige, der am meisten begnadet war, auch am meisten gelitten hat, unser Herr und Heiland Jesus Christus. Nicht so sehr die Größe des Leides als vielmehr die Art und die Weise, wie er es getragen hat, war von erlöserischer Kraft. Und so hat sein Leiden eine ganze Welt erlöst.
Die Menschen, die vom Leid geheiligt werden, wissen, daß die Rätsel der Welt gelöst sind. Wahrhaftig, für diesen Menschen, der solche Wirkungen des Leides an sich erfahren durfte, für den ist das schrecklichste Welträtsel gelöst. Diese Menschen fragen nicht mehr unruhig und gramvoll warum, sondern sie bejahen das Leid, sie begrüßen das Leid, ja sie umarmen das Leid. Sei gegrüßt, o Kreuz, du einzige Hoffnung! Die Menschen, die dieses Leid in sich verarbeitet haben, werden von Gott wie von einer dunklen Wolke geführt. Ja, dieses Leid ist gleichsam die Feuersäule, die sie hineinführt in die Seligkeit.
Woher kommen diese Unterschiede, meine lieben Freunde, daß der eine vom Leid verbittert wird, der andere zerbrochen, ein dritter geheiligt? Woher kommen diese Unterschiede? Jedes Leid kann so verschiedenartig wirken. Es liegt nicht am Leid, sondern es liegt an den Menschen. Das Leid hat eine geheimnisvolle Kraft, die Hüllen und Masken vom Menschen wegzuziehen und die Kräfte in seiner Seele aufzuwecken. Das Leid ruft das innerste Wesen des Menschen auf. Es weckt die letzten Möglichkeiten eines Menschen auf, ob er gut ist oder böse, ob er stark ist oder schwach. Aber warum ist der eine so, und der andere ist anders? Wir wissen es nicht. Es liegt freilich auch am guten Willen. Es liegt auch daran, ob der Mensch seine Freiheit benutzt, das Leid aufzunehmen und zu verarbeiten. Aber freilich kann man wieder fragen: Woher kommt der gute Wille? Das ist ein Geheimnis, ein Geheimnis zwischen Gott und der Seele des Menschen. Der eine hat diesen guten Willen, dem anderen fehlt er. Vor diesem guten Willen gibt es nichts mehr, er ist das Letzte.
Das Leid übt ein Richteramt aus. Es richtet über den Menschen, es ist ein Erzengel des Gerichtes. Von ihm geht die letzte Frage an den Menschen aus, und die Antwort, die der Mensch gibt, die wird sein Gericht sein. Mit ihm spricht er tatsächlich sein Urteil. Was der Mensch am Ölberg und am Kalvarienberg antwortet, das drückt sein innerstes Wesen aus. Die Worte am Kreuz sind immer die letzten Worte. Sie gelten ewig.
Amen.