3. August 2003
Die Einsamkeit
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Mit der Einsamkeit ist es ähnlich wie mit der Liebe. Die Einsamkeit ist eine vielgestaltige Wirklichkeit, und auch das Wort Einsamkeit ist keineswegs eindeutig. Man kann einsam sein mitten im Gewühle und Gedränge einer Großstadtstraße, und die Einsamkeit kann einem so weit zusetzen, daß sie zur Verlassenheit wird. Verlassenheit, das ist ein Ausstrecken der Arme, ohne daß eine Hilfe kommt, ein Rufen, ohne daß ein Echo ertönt. Die Einsamekit ist ein Abenteuer des Lebens, und nicht das geringste.
Einsamkeit ist zunächst etwas Innerliches, etwas, was der Seele anhaftet. Aber wie alles Innerliche will auch die Einsamkeit nach außen sich bemerkbar machen, ein äußeres Alleinsein herbeiführen. Im wesentlichen, müssen wir sagen, ist die Einsamkeit eine Abgeschlossenheit der Seele, ein abgeschlossener Seelenraum, und infolgedessen ein abgeschlossener Lebensraum. Ein abgeschlossener Seelenraum und ein abgeschlossener Lebensraum, das macht das Wesen der Einsamkeit aus. Der großen Masse ist der Zutritt zu den Menschen verschlossen, und diese Einsamkeit kann eine lebenslängliche sein. Sie kann auch vorübergehend und nur zeitweilig sein. Sie kann alle Lebensräume beanspruchen, sie kann sich aber auch nur auf bestimmte Lebensbereiche beziehen.
Das Gegenteil zu dem Menschen der Einsamkeit ist der ausgegossene Mensch, der Mensch, der wie auf einem Platze steht, in dem alle ein- und ausgehen, der Mensch, der sich in der Öffentlichkeit bewegt und der selbst der Öffentlichkeit angehört, der einen jeden aufnimmt und in einen jeden eingeht, der kein anderes Leben lebt als dieses Zusammensein mit vielen. Dem Zustand der Einsamkeit ist der Zustand der Öffentlichkeit gerade entgegengesetzt.
Nun zeigt sich, daß beide Zustände ihre Gefahren und ihre Mängel haben. Der einsame Mensch kann auch ein isolierter, ein von allem Leben abgeschlossener Mensch sein, ein liebesarmer und ein gemeinschaftswidriger Mensch. Der Mensch der Öffentlichkeit kann ein auseinandergerissener, ein preisgegebener, ein überallhin verteilter und verstreuter Mensch sein. Der Mensch kann zu viel Einsamkeit haben, er kann aber auch zu wenig Einsamkeit haben. Seine Einsamkeit kann eine selige und kann eine unselige sein, und das ist vielleicht der Hauptunterschied, die selige Einsamkeit und die unselige Einsamkeit.
Die unselige Einsamkeit ist ein Protest, eine Flucht. Dieser Einsame verweigert sich den Menschen, er verweigert sich der Gemeinschaft, er verweigert sich dem Zusammensein, dem Zusammenstehen und auch dem Zusammenhelfen. Er verschließt die Pforte seiner Seele. Wie kommt es zu solcher Einsamkeit, zu solcher Verschlossenheit, zu solcher Verweigerung? Der Ursprung dieser unseligen Einsamkeit ist häufig die Angst, die Angst vor den Menschen und vor dem Leben, die Angst, den Menschen und dem Leben nicht gewachsen zu sein, von ihnen bedroht zu werden. Solche Menschen haben häufig trübe Erfahrungen gemacht, und so haben sie die Meinung gebildet, sie seien unbrauchbar. Es ist niemand, dem sie etwas bedeuten; es ist keiner, der sie braucht. Man entbehrt sie nicht, man will sie nicht. Und so ziehen sie sich zurück, und so flüchten sie in ihre Einsamkeit.
In einem anderen Menschen kann diese Einsamkeit entstehen aus dem Bewußtsein des Unverstandenseins. Manche Menschen, die viele negative Erfahrungen und Beobachtungen gemacht haben, kommen allmählich zu der Überzeugung, daß sie niemandem etwas bedeuten, daß ihr Wollen, ihre Werke nicht verstanden werden, daß man sie mißachtet und verachtet, daß man sie befehdet und nicht ernst nimmt. So gelangen diese Menschen dazu, ihre Seele zuzuschließen, auch vor wohlmeinenden und gutmeinenden Menschen. Sie flüchten in ihre Einsamkeit und schließen sich ab, und dieses Zuschließen bewirkt, daß auch die anderen sie nicht mehr verstehen und sich von ihnen entfernen. Das ist ein Sonderling, heißt es, das ist ein Neurotiker, das ist ein gemeinschaftswidriger Mensch.
In anderen Menschen ist die Einsamkeit nicht von der Umwelt veranlaßt, sondern sie kommt aus der Seele des Einsamen selbst. Das sind jene Menschen, die von vornherein abweisend, verneinend und verachtend gegen die Umwelt eingestellt sind. Das sind jene Menschen, die nur sich kennen und nur sich selbst gelten lassen. Das sind jene Menschen, die keine Liebe haben und keiner Liebe fähig sind, Menschen, die nur dem eigenen Ich dienen, und das ist bekanntlich Götzendienst. Manche dieser Einsamen machen aus ihrer Einsamkeit sogar eine Theorie. Sie sagen: Ja, das ist eben so, die Einsamkeit ist eben mein Schicksal, die Einsamkeit ist meine Erwählung, ist auch vielleicht meine Verdammnis. Sie gehen manchmal so weit, daß sie sagen: Das ist bei allen Menschen so. Alle Menschen sind dazu verdammt, in einem lichtlosen und leeren Raum einsam dahinzuvegetieren, in ewiger Ferne und Isolierung, in unerreichbarer Fremde. Ihre Einsamkeit ist dann gleichzeitig ihre Verlassenheit.
Von dieser unseligen Einsamkeit waren viele Menschen erfüllt, vor allem die großen Genies der Menschheit, die Tyrannen, die Despoten, die großen Künstler, die hellsichtigen Forscher, aber auch die harten und strengen Propheten und Bußprediger. Sie waren einsame Menschen und haben schwer unter ihrer Einsamkeit gelitten. Denn diese Einsamkeit macht die Seele bitter und unerbittlich, hart und unzugänglich. Der Einsame vertrocknet gleichsam in dem eisigen Winde seiner Einsamkeit. Das eigentliche Leid aber, an dem diese Menschen sich verbluten, kommt von ihrer Schuld, denn diese unselige Einsamkeit ist schuldhaft. Es ist immer eine gewisse Schuld damit verbunden. Die leichteste Schuld ist sie für die Armen, Verzagten, die zu wenig Selbstvertrauen und zu wenig Mut aufbringen, denen der Mut von den Menschen zerbrochen worden ist, die dann eben vor den Menschen flüchten und die Türen zuschlagen, die aber häufig auch selbstgenießerisch und selbstsüchtig werden. Die schwerste Schuld haben jene, die absichtlich sich den Menschen verweigern, die sich selbst vergöttern und die die Liebe und die Nähe zum Nächsten verleugnen und verwerfen. Sie sinken in eine grauenvolle Einsamkeit, und das ist ein Schicksal, eine Belastung, die dem Genie, die der übermenschlichen Begabung häufig verbunden ist. Das ist die unselige Einsamkeit.
Die selige Einsamkeit ist anders geartet. Sie ist niemals eine absolute. Sie vermauert nicht den ganzen Seelenraum und auch nicht für alle Zeiten, sondern sie besteht darin, daß man sich immer wieder in die Seele, in das Innere der Seele wie in ein stilles Heiligtum zurückzieht. Diese Einsamkeit ist ein zeitweiliges Einkehren und Heimkehren in die Seelenmitte, da, wo der Mensch abgeschlossen ist von der großen Masse, wo er mit sich und mit den Wesen, die Zutritt haben zu ihm, allein ist, wo er Gott eingelassen hat. Diese Einsamkeit besteht also auch in einer Abschließung, aber diese Abschließung ist nicht eine totale, sie ist eine Abschließung, weil der Mensch in das innere Leben eintreten, in sich selbst und mit sich selbst allein sein will und allein sein muß. Sie besteht darin, daß der Mensch ein Innenleben hat, einen Fluß der Gedanken, große Ziele, Visionen. Sie besteht darin, daß er ein inneres Schauen besitzt, eine Kraft des Wissens und des Glaubens und hohe und schöne Ziele, die in seiner Seele ihre Heimat haben. Je reicher und gefüllter sein Leben ist, um so leichter und dauernder kann ein Mensch in seine Einsamkeit hineingehen und darin verharren. Diese Ferne von der Masse erzeugt freilich eine gewisse Kühle, eine bestimmte Unberührtheit und Unbewegtheit gegenüber dem Tun und Treiben, gegenüber dem Geschehen und Erleiden der breiten Öffentlichkeit. Aus dem Grundbestand dieser Einsamkeit, dieser Art von Einsamkeit, nämlich dem reichen Innenleben, ergibt sich, daß sie die eigentliche Heimat des Menschen ist, der sie besitzt, daß er dort allein ganz geborgen ist.
Freilich ist jedes starke Innenleben auch reich an geheimnisvollen Leiden, an Schmerzen und Verzichten, an Opfern und Bitterkeit. Alles tiefere Wissen, meine lieben Freunde, macht traurig. Alles höhere Wollen ist mit Opfern und Entsagung verbunden. Alle starken Begabungen stoßen sich wund an den Schranken, die sie finden. Und dennoch ist diese Einsamkeit, so schmerzlich sie sein mag, beglückend. Sie deutet ja das Eintauchen in das innere Leben von einzigartiger Tiefe, und deswegen wird sie beseligend. Sie ist eine selige Einsamkeit. Es ist das ein wirkliches Lebensgefühl, eine wirkliche Seligkeit, ein Gewinn und eine Tat, die heilkräftig wirkt. Wer diese Art von Einsamkeit besitzt, der kann kein neurotischer, der kann kein seelisch kranker Mensch werden. Er wird gesund und immer befriedeter und ausgeglichener und gereifter. Für einen solchen Menschen ist die Einsamkeit ein Bedürfnis; er muß in sie einkehren. Je kraftvoller und je hingegebener er in der Außenwelt arbeitet, je mehr Menschen er betreut und für sie besorgt ist, je zahlreicher die Menschen sind, die ihm anvertraut sind, um so dringlicher und unentbehrlicher ist ihm die Einkehr in die Einsamkeit. Er fühlt sich stärker zur Einsamkeit hingezogen als zu der öffentlichen Menschenwelt. Er hat eine Schwerkraft, ein Heimweh, einen Hunger und einen Durst nach der Einsamkeit. Eine solche Einsamkeit ist beseligend, und einer solchen Einsamkeit bedürfen alle Menschen, die sich ein Innenleben aufbauen wollen.
Im Jahre 1946, meine lieben Freunde, fragte mich ein alter Priester, als wir über den Priesterberuf sprachen: „Liebst du die Muttergottes? Betest du zum Heiligen Geist? Bist du ein Freund der Einsamkeit?“ So ist es, meine lieben Freunde. Ein Mensch, der nicht einsam sein kann, kann auch nicht Priester werden. Der Priester ist der Mann der Einsamkeit. Es ist aber die beseligende Einsamkeit, denn in seinem Kämmerlein, da ist Gott daheim, und in seinem Kämmerlein trägt er die Menschen, die ihm anvertraut sind. Es ist eine Einsamkeit, die ihn zum Himmel führt.
Amen.