27. Dezember 1992
Die Geschichtlichkeit Jesu
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das Christentum ist eine geschichtliche Religion. Geschichte kommt von „geschehen“. In einer geschichtlichen Religion geht es um Geschehnisse. Die christlichen Geschehnisse tragen einen machtvollen Gehalt in sich. Sie sind voll von geistlichen Wirklichkeiten. Aber die Geschehnisse sind die Grundlagen dieser Lehren, Gedanken und Appelle, der Gebote und Mahnungen und Warnungen. Wer dem Christentum die geschichtliche Grundlage entzieht, der verwandelt es in einer Weisheitslehre, wie sie viele, die auf dieser Erde erschienen sind, verkündet haben.
Es ist deswegen außerordentlich bedauerlich, daß der Religionsreferent der Mainzer Allgemeinen Zeitung am Weihnachtsfest seinen Lesern die Tiraden des Herrn Drewermann unterbreitet, wonach Jesus nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth geboren sei. So fängt es an – und wir wissen, wie es weitergeht.
Das Christentum ist eine geschichtliche Religion, und in einer geschichtlichen Religion hängt alles an den Geschehnissen. Es ist unzulässig, Ereignisse in Ideen zu verwandeln. Der Heilige des heutigen Tages, der milde Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, der Herold der Liebe, war außerordentlich bewegt, ja erregt, wenn es darum ging, die Geschichtlichkeit dessen zu bezeugen, was sein Leben erfüllte. In seinem ersten Brief setzt er sich geradezu leidenschaftlich für den Geschehnischarakter dessen ein, was er seinen Lesern vermittelt hat, „was von Anfang an war, was wir gehört und mit eigenen Augen gesehen haben, was wir geschaut und unsere Hände berührt haben.“ Es betrifft das Wort des Lebens. „Ja, das Leben ist sichtbar erschienen und wir sahen es; wir bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist. Was wir gesehen und gehört haben, das tun wir euch kund, damit auch ihr Gemeinschaft habet mit dem Vater und mit Jesus Christus, seinem Sohn.“
Fünfmal spricht Johannes vom Sehen, zweimal vom Hören, einmal vom Betasten. Die Fülle dieser an die Sinne geknüpften Ausdrücke verwendet er, um den Geschehnischarakter des Christusereignisses hervorzuheben. Von Ideen hätte man dabei ohne weiteres reden können, denn es gab unzählige Weisheitslehrer, die von allen Zentren der Bildung ausgingen, von Alexandrien, von Antiochien und von Athen, die umherzogen und ihre Lehren an den Mann zu bringen versuchten. Aber die Apostel sprachen nicht von Ideen, sondern sie legten Zeugnis ab von einem Geschehnis, von dem Christusereignis, und sie haben sich davon nicht abbringen lassen, für dieses Ereignis einzutreten.
Als sie vor den Hohen Rat geführt wurden, drohte man ihnen und verbot es ihnen, weiter „in diesem Namen“ – das ist der Name Jesu – zu irgendeinem Menschen zu sprechen. Da sagten Petrus und Johannes: „Ob es recht ist vor Gott, auf euch mehr zu hören als auf Gott, das beurteilt selbst! Wir können nicht verschweigen, was wir gesehen und gehört haben.“
Unsere gläubige Überzeugung von den Geschehnissen in Palästina vor 2000 Jahren wird genährt von den Berichten der Evangelien. Wir brauchen keine anderen Stützen, um sicher zu sein in unserem Glauben, daß Jesus der menschgewordene Sohn Gottes ist, daß er Wohltaten spendend durch die Lande ging, daß er gestorben ist und am dritten Tage auferweckt wurde. Aber es kann niemandem verwehrt sein, dieses übernatürliche Leben in die natürlichen Geschehnisse jener Zeit hineinzusetzen. Es ist nicht verboten, zu fragen: Wer waren die Zeitgenossen Jesu? Unter welchen Umständen und unter welchen Verhältnissen hat er sein Wirken vollbracht?
Da kommen uns Zeugnisse der ungläubigen Heiden und Juden entgegen. Es gibt einige sichere Hinweise auf Jesus, auf seine Qualität als Messias, ja auf seine Göttlichkeit in Berichten von Heiden und Juden. Es sind ihrer vier.
An erster Stelle steht der bedeutende Kaiserbiograph Suetonius. Er lebte etwa 75 bis 150 nach Christus. Er hat die Viten, die Lebensbeschreibungen der Kaiser geliefert, und in der Lebensbeschreibung des Kaisers Claudius, der von 51 bis 54 regierte, steht der Satz: „Er vertrieb die Juden, die auf Antrieb des Chrestus ständig in Aufruhr waren, aus Rom.“ Hier ist also von Unruhen in der römischen Judenschaft die Rede, und diese Unruhen werden zurückgeführt auf einen Chrestus. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß dieser Chrestus niemand anderes ist als Christus und daß die Unruhen sich aus der Messianität Jesu herleiten. Die einen waren dafür, die anderen dagegen; so gab es Streit und Unruhe, und die Unruhe benutzte der Kaiser, um die Juden aus Rom auszuweisen.
Ein noch bedeutenderer Mann, den viele in der Schule gelesen haben, ist Tacitus, der große Geschichtsschreiber mit seinen Annalen. Er lebte von 55 bis 120, und er berichtet aus der Lebenszeit des Kaisers Nero. Dieser regierte bekanntlich von 54 bis 68. Tacitus befaßt sich mit dem Brand Roms und berichtet, daß man den Leuten die Schuld gab, die man Christen nannte. Und da steht der Satz:“ Urheber dieser Namens ist Christus, der unter der Herrschaft des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden war.“ Das ist ein außerordentlich genaues Zeugnis. Wir kennen Tiberius – er regierte von 14 bis 37 –, wir kennen den Prokurator – Landpfleger, wie es in der Übersetzung heißt – Pontius Pilatus. Wir wissen um sein Schicksal und kennen seine Grausamkeit. Dieses Zeugnis des Tacitus zeigt also, daß Christus eine geschichtliche Persönlichkeit war, daß sein Leben und Sterben geschichtlich genau datiert werden kann und daß Christus auch in der heidnischen Welt bekannt war.
Aber noch viel bedeutsamer ist ein Briefwechsel, der uns erhalten ist, zwischen einem römischen Statthalter und dem Kaiser in Rom. Der Statthalter war Plinius. Er lebte etwa von 62 bis 140. Das ihm übertragene Gebiet war Bithynien, ein Land, das heute ein Bestandteil der Türkei ist. Und der Kaiser, der damals herrschte, war Trajan. Er regierte von 98 bis 117. Und dieser Plinius hatte sich nun mit den Christen zu befassen. Er hatte Christen verhaften lassen, und sie hatten sich – angesichts der Drohungen der staatlichen Gewalt – zum Abfall vom Christentum verleiten lassen, hatten Aussagen gemacht über ihre Versammlungen, auch über ihren Kultgegenstand, nämlich über Christus, und aus seinem Schreiben ergibt sich, daß sie Christus als ihren Gott verehrten. Also es ist nicht so, wie man uns weismachen will, daß erst ein langsamer Prozeß dazu geführt hat, den Nazaräer Jesus zu vergotten, sondern hier ist eindeutig bezeugt, daß in dieser Zeit die bithynischen Christen Christus als ihren Gott verehrten. In dem Brief, den nun der Statthalter an den Kaiser schrieb, heißt es: „Ich bin mir nicht wenig im Unklaren, ob der Name (des Christus) allein schon oder nur die Verbrechen, die mit diesem Namen zusammenhängen, strafbar sind. Ich habe die als Christen Angezeigten zunächst befragt, ob sie Christen seien. Sagten sie ja und blieben sie dabei, so habe ich sie zur Bestrafung abführen lassen. (Die Bestrafung war die Todesstrafe.) Denn ich war mir klar, daß schon der Trotz allein und ihre unbeugsame Hartnäckigkeit Strafe verdient hatten. Eine anonyme Anklageschrift wurde mir vorgelegt. Wer daraufhin Weihrauch und Wein opferte und außerdem Christus lästerte, wurde freigelassen. Denn es heißt, daß die wirklichen Christen auf keine Weise gezwungen werden könnten, das Obengenannte zu tun. (Wirkliche Christen brachten dem Kaiser keine Opfer.) Andere sagten, sie seien einmal Christen gewesen, hätten es dann aber wieder aufgegeben. Sie behaupteten, ihre ganze Schuld habe darin bestanden: Sie seien an einem bestimmten Tage vor Sonnenaufgang zusammengekommen und hätten abwechselnd ein Lied zum Preise Christi als ihres Gottes gesungen und sich dann durch einen Eid verpflichtet, keinen Diebstahl, Raub oder Ehebruch zu begehen, auch niemanden zu betrügen und anvertrautes Geld nicht abzunehmen. Hierauf seien sie dann gewöhnlich auseinandergegangen und hätten sich wieder zusammengefunden, um etwas zu sich zu nehmen, aber durchaus gewöhnliche und anständige Speisen.“
Aus diesem wertvollen Brief erfahren wir etwas über den Kult der frühen Christen. Wir erkennen, daß es der Sonntag ist, an dem sie zusammenkommen, und daß sie an diesem Tag beten und singen und Christus als ihren Gott verehren. Was hat nun der Kaiser auf diesen Brief geantwortet? Knapp, wie es sich für einen Kaiser geziemt, schreibt er an Plinius: „Aufzuspüren sind die Christen nicht. Sollten sie angezeigt und überführt werden, so sind sie zu bestrafen. Wer leugnet, Christ zu sein und dies durch die Tat beweist, kann Verzeihung erhalten. Anonyme Anzeigen sind nicht zugelassen.“
Wir erkennen sofort die Widersprüchlichkeit dieser Entscheidung. Wenn die Christen Verbrecher sind, dann muß man sie aufsuchen, denn Verbrecher kann man nicht unbehelligt lassen. Doch das soll nicht geschehen. Wenn sie dagegen angezeigt werden, soll man sie bestrafen. Weshalb denn? Sie sind doch offensichtlich keine Verbrecher, weil man nicht nach ihnen forscht. Das ist eine deutliche Inkonsequenz der kaiserlichen Entscheidung. Aber in jedem Falle wird uns klar, daß die Christen sich auf Christus berufen, eine geschichtliche Gestalt, und daß sie in dieser geschichtlichen Gestalt ihren Kultgegenstand sehen.
Das letzte Zeugnis stammt von einem Juden, von dem bekannten Schriftsteller Flavius Josephus. Er lebte etwa 37 bis 108. Sein literarischer Nachlaß ist sehr bedeutend. Er stammte aus Jerusalem und hat also gute Kenntnisse der palästinensischen Verhältnisse gehabt. Er gab nun eine Mitteilung über Jesus im Zusammenhang mit dem Jakobus. Der sehr hartherzige sadduzäische Hohepriester Ananus ließ nämlich die Christen verfolgen. Er versammelte den Hohen Rat zum Gericht und stellte vor ihn den „Bruder des Jesus, der Christus genannt wird, Jakobus mit Namen“ und einige andere, klagte sie wegen Übertretung des Gesetzes an und ließ sie zur Steinigung verurteilen. Hier wird also von einem Bruder, d.h. einem Verwandten Jesu geredet, Jakobus, und „Christus“ wird als der Titel dieses Jesus angegeben. Christus ist ja die Übersetzung von „Messias“. Wenn ein Jude Jesus den Titel „Messias“ gab, dann ist das verdächtig, denn selbstverständlich leugnen die Juden die Messianität Jesu, sie warten ja noch auf den Messias, er ist für sie noch gar nicht gekommen. Und deswegen hat man die Echtheit dieses Textes bezweifelt. Aber durchschlagend ist der Zweifel nicht, weil nämlich in der ganzen antiken Welt, wie wir aus den vorhergehenden Zeugnissen gesehen haben, Christus als ein Eigenname des Nazaräers begriffen wurde, und so konnte auch der Jude Josephus Jesus als Christus bezeichnen, ohne damit ein Bekenntnis zu seiner Messianität abzulegen.
Ein anderes Zeugnis des Flavius Josephus über Christus findet sich in den Schriften des Eusebius. Aber dieses Zeugnis ist mit Sicherheit ein christlicher Einschub. Es ist nämlich so christlich gefärbt, daß es von dem Juden Jesophus nicht stammen kann: „Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er vollführte wunderbare Werke und war ein Lehrer jener Menschen, die gern die Wahrheit aufnehmen. Er war der Christus, der Messias. Auf Anklage der vornehmen Männer bei uns verurteilte Pilatus ihn zwar zum Kreuze, aber gleichwohl ließen die, die ihn vorher geliebt hatten, nicht von ihm ab, denn er erschien ihnen nach drei Tagen wieder lebendig, wie dies und tausend andere wunderbare Dinge die von Gott gesandten Propheten über ihn gesagt hatten. Noch bis heute hat das Geschlecht derer nicht aufgehört, die nach ihm Christen genannt werden.“
Dieses gläubige Zeugnis über Christus ist im Munde eines Juden undenkbar. Zwar stammt es schon aus dem Anfang des 4. Jahrhunderts, das wissen wir aus der Kirchengeschichte des Eusebius, und alle Handschriften haben diesen Text, aber die Handschriften sind eben selber nicht so alt, daß sie bis ins 1. oder 2. Jahrhundert zurückreichen, und so müssen wir annehmen, daß dieser Text von Christen in den Bericht des Eusebius eingetragen worden ist.
Die vorgelegten Stellen, meine lieben Freunde, zeigen uns, daß die Historizität Jesu für die Menschen des 1. Jahrhunderts über jeden Zweifel erhaben war. Es hängt tatsächlich an der Geschichtlichkeit von Jesu Wirken und Reden unser Glaube, unsere Zuversicht und unsere Hoffnung. Wir wollen uns von niemandem in diesem Glauben, in dieser Zuversicht und in dieser Hoffnung erschüttern lassen. Wir wollen das, was uns glaubwürdige Zeugen überkommen haben, mit gläubigem Herzen annehmen. Wir wollen es weitertragen und wollen, soweit es an uns ist, dafür sorgen, daß alle Menschen dazu kommen und bekennen: Jesus ist der in Bethelehem geborene Gottessohn. Laßt uns hingehen und ihn anbeten.
Amen.