16. Dezember 1990
Die ewige Anschauung Gottes im Himmel
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Am vergangenen Sonntag sahen wir, daß der Himmel die Gemeinschaft der Vollendeten mit Christus ist. Christus aber führt den Seligen zum Vater. Erst dann ist der Mensch bei seinem endgültigen, letzten Ziel angekommen, wenn er in das Antlitz des Vaters schaut. Das Antlitz des Vaters ist das Antlitz der existenziellen Liebe und der existenziellen Wahrheit. Die Heilige Schrift schildert das Zusammensein mit Gott unter dem Bilde eines Freuden- und Festmahles. Der Herr spricht oft davon, daß das Himmelreich zu vergleichen sei mit einem Abendmahl, das ein reicher Mann veranstaltet, oder mit einem Mahl, das der heimkehrende Hausvater seinem Gesinde bietet, oder mit einem Hochzeitsmahl des einfachen Mannes oder auch mit dem Hochzeitsfest eines Königssohnes, ja auch mit dem Festmahl, das die von allen Seiten zusammenströmenden Völker genießen werden.
Das Mahl ist selbstverständlich ein Bild, aber ein Bild, das Elemente in sich enthält, die wir deuten können. Wenn der Herr vom Mahle spricht als einem Gleichnis des Himmels, dann will er damit ausdrücken, daß eine innige und vertraute Gemeinschaft besteht zwischen Gott und den Seinen. Denn die um einen Tisch sitzen, das sind Tischgenossen. Sie sitzen Auge in Auge gegenüber und sind miteinander verbunden. Ähnlich ist es mit der Gemeinschaft, die die Seligen mit Gott im Himmel haben sollen.
Das Mahl ist auch ein Anlaß der Freude, zumal ein Hochzeitsmahl. Das ist ja das große Ereignis im Leben des einfachen Mannes. Und wenn wir an die Schilderung denken, die die Evangelien von den Festmahlen geben, welche der Herr selbst mitgefeiert hat, gewinnen wir eine Ahnung von der Schönheit, der Fülle und dem Reichtum des himmlischen Mahles. Zumal die Hochzeit in Kana ist ein Bild davon. Da wird sieben Tage lang gefeiert. Man kann sich vor Jubel und Jauchzen gar nicht bescheiden. Da ist Speise und Wein in Fülle da, da ist Licht, da sind Geschenke, und da sind hochzeitliche Gewänder gefragt. Da kommen die Menschen von allen Seiten, um zu gratulieren und sich zu freuen und mit dem Brautpaar in den Jubel einzustimmen. Ähnlich ist es mit der himmlischen Freude.
Das Entscheidende beim himmlischen Geschehen ist die Gottesschau. Die Seligen werden unmittelbar und unverhüllt Gott schauen. Das ist ein Glaubenssatz der Kirche. Es geht dann in Erfüllung, wonach sich die Menschen immer gesehnt haben, nämlich Gott zu schauen. Die Frommen und die Weisen aller Zeiten wollten Gott sehen. Das war die Sehnsucht des Moses: „Laß mich dein Antlitz schauen.“ Das war die einzige, die größte Bitte, die er hatte. Aber er erbat zu viel, es war nicht möglich. Job wollte Gottes Antlitz schauen. Und im Neuen Testamente sagt Philippus zum Heiland: „Zeige uns den Vater, und es genügt uns!“ Aber diese Sehnsucht nach Gott, diese Sehnsucht, Gott zu schauen, kann auf Erden nicht erfüllt werden. Hier auf Erden leben wir im Glauben, drüben in der Schau, und der Glaube ist von dem Gesetz der Verborgenheit durchwirkt. Nur in Bildern und Gleichnissen, in Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten ist es auf Erden möglich, eine Ahnung von Gott zu gewinnen. Wenn wir in die Geschichte schauen, in die Natur, in die Menschen und in die Tiere, dann bekommen wir eine Ahnung von der Schönheit, der Kraft, der Weisheit und der Unermeßlichkeit Gottes. Aber noch einmal: Das Sehen, das im Glauben möglich ist, ist von dem Gesetz der Verborgenheit durchwirkt.
Warum können wir auf Erden Gott nicht schauen? Aus drei Gründen: Gott ist anders als wir. Wir haben kein Organ, kein passendes Organ in unserer leib-seelischen Verfaßtheit, mit dem wir Gott schauen könnten. Gott ist unabhängig von uns, d.h. wir haben kein Vermögen, mit dem wir uns seiner gleichsam bemächtigen könnten, wenn es auch nur in der Form der Erkenntnis wäre. Er ist so unabhängig von uns, daß er uns dieses Vermögen im Jenseits schenken muß, auf Erden ist es uns nicht zur Hand. Und schließlich: Gott ist unendlich. Wir sind begrenzt. Infolge unserer Begrenztheit kann Gott von uns nicht aufgenommen werden; er findet keinen Platz in uns. Wir würden zerbrechen, wenn die Unendlichkeit Gottes in uns eindringen könnte.
So ist also auf Erden der Glaube unser Anteil und nicht das Schauen. „Gott wohnt in einem unzugänglichen Licht“, sagt der Apostel Paulus, „ihn hat kein Mensch je gesehen noch kann er ihn sehen.“ Und zu Moses sagt der Herr: „Du kannst mich nicht schauen, dann würdest du zugrunde gehen. Ich will dir meine Herrlichkeit wie in einem Vorübergang zeigen, und das muß dir genügen.“ Aber unser Herr und Heiland hat uns für die jenseitige Welt die Schau verheißen: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Die Aufrichtigen, die Lauteren, die Geraden, sie sind dazu gerufen, Gott zu sehen. Wenn die irdischen Formen des Lebens zerbrechen, dann ist die Stunde gekommen, in der Gott seine Verheißung erfüllt. Wie geschieht das? Das geschieht, indem Gott dem Menschen eine neue Sehkraft und eine neue Liebesfähigkeit gleichsam einsetzt. Gott verwandelt den Abgeschiedenen und gibt ihm Anteil an seiner Sehkraft und an seiner Liebesfähigkeit. Das nennen die Theologen das lumen gloriae, das Licht der Herrlichkeit. Gott bewirkt an dem Menschen eine solche Veränderung, daß der Mensch jetzt fähig wird, Gott zu schauen. Indem er ihm an seiner eigenen Sehkraft und Liebesfähigkeit Anteil gibt, werden die irdische Schwäche und das irdische Unvermögen ersetzt und wird dem Menschen eine neue Kapazität verschafft.
Zwischen den Theologen gibt es Meinungsverschiedenheiten, ob die Gottesschau zuerst ein Erkennen oder zuerst ein Lieben sei. Daß sie beides ist, ist klar, denn man kann die Wahrheit und Liebe nicht anschauen, ohne sowohl zu erkennen als auch zu lieben. Gott ist ja die personhafte Wahrheit und die personhafte Liebe, und wenn man sie anschaut, dann ist das kein starres Bewundern, kein starres Hinsehen, sondern ein Austausch, ein Gespräch, eine Verbindung mit der personhaften Wahrheit und personhaften Liebe. Aber was ist das erste? Zuerst das Erkennen oder zuerst das Lieben? Die Thomisten, also die Theologen, die sich auf Thomas von Aquin berufen, sagen: Primär ist das Erkennen. Auf das Erkennen folgt dann die Liebe. Die Scotisten, das sind jene Theologen, die sich auf den schottischen Theologen Duns Scotus berufen, sagen: Zuerst ist das Lieben und dann das Erkennen. Ich glaube, daß man beide Ansichten vereinen kann. Denn der Austausch mit Gott geschieht in einer Tiefenschicht des Menschen, wo Erkennen und Lieben noch nicht zu zwei Vermögen und zwei Tätigkeiten auseinandergelegt ist. Die Begegnung mit Gott vollzieht sich im Herzen, und das Herz ist die Einheit von Erkennen und Lieben. Es ist also die Gottesschau ein vor der Liebe durchglühtes Erkennen und ein vom Erkennen erhelltes Lieben.
Was schauen die Seligen? Sie schauen Gott, Gottes Wesen, Gottes Wesensvollkommenheit, die Hervorgänge in Gott, die drei göttlichen Personen und auch das Außergöttliche, also die Schöpfung. Das ist der Gegenstand des Erkennens der Seligen. Sie nehmen teil an dem großen Gespräch, das in Gott ja unendlich und unermüdlich stattfindet zwischen dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Sie werden hineingezogen in dieses große Gespräch. Der Vater sendet immer noch seinen Sohn in die Vollendeten hinein, und sie geben Antwort im Heiligen Geiste. Gleichzeitig werden den Seligen die Rätsel der Welt und der Geschichte offenbar. Hier auf Erden haben sie oft trostlos gefragt: Ja, wo ist denn unser Gott? Warum greift er nicht ein? Warum erhört er unsere Gebete nicht? Warum läßt er zu, daß seine Kirche sich selbst zerstört? Im Jenseits werden alle diese Fragen beantwortet, werden alle Rätsel gelöst werden, die Rätsel unseres Lebens, die Rätsel der Geschichte. Alles Unerklärliche wird uns von Gott aufgeklärt werden. Das ist ein Teil der Seligkeit des Himmels, daß wir dann einmal verstehen werden, warum das Geschick über uns kommen mußte, das wir so beklagt und beweint haben.
Obwohl die Seligen des Himmels Gott schauen, bleiben Gott und Mensch doch geschieden. Geschöpf und Schöpfer fallen auch in der seligen Ewigkeit nicht zusammen. Es bleibt zwischen ihnen die Distanz, die unaufhebbare Distanz, die nun einmal zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht und bestehen muß. Ich nehme nichts zurück: Die Seligen schauen Gott. Aber sie durchschauen ihn nicht. Sie blicken auf Gott hin, aber sie ergründen ihn nicht. Gott bleibt auch für sie ein Geheimnis; denn wenn er es nicht mehr bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, dann müßte er aufhören, Gott zu sein. Also auch in der Seligkeit des Himmels, auch in der Schau Gottes bleibt Gott ein undurchdringliches Geheimnis. Die Seligen, so sagen die Theologen, schauen Gott „totum, sed non totaliter“, ganz, aber nicht in ihn völlig durchdringender Weise. Das ist es. So ist die Gottesschau geartet. Die Seligen sehen mit ihrer klaren Erkenntnis, daß sie mehr von Gott gar nicht verkraften könnten, daß sie ein tieferes Eindringen in Gott gar nicht ertragen könnten. Deswegen bleibt bei ihnen kein Stachel zurück, kein Ungenügen, kein Unbefriedigtsein. Sie sind nicht etwa von der Tragik des „Noch nicht“ ergriffen, sondern sie erkennen mit vollster Klarheit, daß Gott ihnen das zeigt, das sie fähig sind aufzunehmen. Und so bleibt also auch in der Nähe, die zwischen Gott und den Seligen besteht, die Ferne. Es bleibt zwischen ihnen die Ehrfurcht, ja, es bleibt zwischen ihnen die Anbetung. Die Seligen des Himmels beten Gott mit liebedurchglühtem Herzen an. Man kann sogar sagen, der Himmel ist die liebeerfüllte Anbetung Gottes. Der Himmel ist die anbetende Liebe der personhaften Liebe. Ja, genau das ist der Himmel. Darin besteht die Seligkeit der Seligen, daß sie Gott anbeten dürfen, daß sie das Lied singen dürfen, das Gott auf ihre Lippen gelegt hat, daß sie den schönen, den herrlichen, den wunderbaren Gott preisen und ihm zujubeln dürfen. Darin besteht die Seligkeit des Himmels.
Das ist, meine lieben Freunde, das Ziel, dem wir zustreben. Das ist das endgültige Ziel, ein Ziel über allen anderen Zielen, das einzige Ziel, das wir um jeden Preis – aber wirklich um jeden Preis – erreichen müssen. Der schlesische Dichter Angelus Silesius hat einmal den schönen Vers geschrieben: „Wenn du nur ernstlich willst, so ist der Himmel dein. Wie unermeßlich reich kann auch der Ärmste sein!“ Wenn du nur ernstlich willst – man muß also ernstlich wollen –, dann ist der Himmel dein. Wie unermeßlich reich kann auch der Ärmste sein!
Das muß also unser Ziel sein, den Himmel zu gewinnen. „Das hab' ich mir vorgenommen, in den Himmel will ich kommen. Mag es kosten, was es will, für den Himmel ist nichts zu viel!“
Amen.