14. Oktober 2012
Ich habe keinen Menschen
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Bei einem Fest der Juden weilte Jesus in Jerusalem. Er kam zu dem Teich am Schaftor. In den Säulengängen lag eine Menge Kranker, Blinder, Lahmer, Ausgezehrter, das heißt, Tuberkulöser. Sie warteten auf das Aufwallen des Wassers. Wer dann als erster in den Teich stieg, wurde geheilt, er konnte eine Krankheit haben, wie er wollte. Dort war ein Mann, der seit 38 Jahren krank war. Jesus trat zu ihm und fragte: „Willst du gesund werden?“ Der Kranke antwortete: „O Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser aufwallt. Bevor ich selbst komme, ist ein anderer hinabgestiegen!“ Der Mann hat einen Satz ausgesprochen, der von ungezählten Menschen aller Zeiten nachgesprochen worden ist: „Ich habe keinen Menschen!“ Das ist der Seufzer der Einsamen und Verlassenen, der Ausgesetzten und Verwaisten, der Heimatlosen und Entwurzelten. „Ich habe keinen Menschen, der mich versteht, der zu mir steht, der mir hilft! Ich habe keinen Menschen, der meine Fragen beantwortet und meine Zweifel löst. Ich habe keinen Menschen, der mich über die Klippen und Untiefen meines Lebens hinwegführt. Ich habe keinen Menschen, zu dem ich reden kann vom Ringen und Suchen meiner Seele, vom Heimweh meiner Seele, von meiner Schuld und von meinem Versagen, von meinem Ungenügen und von meinen Selbstzweifeln.“
Der Mensch sucht einen Menschen, einen treuen, selbstlosen, nahen Menschen. Von Menschen in allen Verhältnissen ist diese Klage zu hören. Viele Alleinstehende sagen es bedauernd, betrübt oder bitter: „Ich habe keinen Menschen, der zu mir hält, der mich versteht, der mir beisteht, dem ich vertrauen kann.“ Gott hat die Ehe gestiftet mit der Begründung: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ Ehen werden geschlossen, damit der Angehörige des einen Geschlechtes einen Menschen findet in einem Angehörigen des anderen Geschlechtes. Man sollte erwarten, dass bei Verheirateten die Klage verstummt: „Ich habe keinen Menschen!“ Die Wirklichkeit sieht anders aus. In vielen Ehen ist die Gemeinsamkeit erloschen. Die Gatten haben sich nichts mehr zu sagen. Eine Dame, die seit Jahrzehnten verheiratet ist, klagte mir: „Ich kann mit meinem Mann nicht über das reden, was mich bewegt. Er ist beschäftigt mit der Politik und mit seinen Wertpapieren.“ Im Munde ungezählter Kinder wandelt sich die Klage „ich habe keinen Menschen“ in den Seufzer: „Ich habe keine Eltern. Ich habe einen Vater, ich habe eine Mutter, aber ich habe keine Eltern, denn die Eltern sind mit sich und mit ihrer Selbstverwirklichung beschäftigt. Sie sind zerstritten oder sie sind getrennt.“ Die Einsamkeit der Pubertät presst vielen Jugendlichen die Klage aus der Seele: „Ich habe keinen Menschen, der mir in meinem körperlichen und seelischen Umbruch zur Seite steht, der mich lenkt, der mich aufrichtet in den Niederlagen meines jungen Lebens!“ „Ich habe keinen Menschen, der mir ein lockendes Beispiel, ein hinreißendes Vorbild ist, nach dem ich mich richten kann.“ Bei Schülern erhält die Klage „ich habe keinen Menschen“ eine andere Färbung, nämlich darin ist zu hören, das Vermissen des einfühlenden Eingehens, des pädagogischen Taktes, der aufrichtenden Ermunterung. Allzu viele Lehrer vermitteln lediglich Wissen, unterlassen aber die Erziehung, wecken kein Vertrauen, lassen ihre Zöglinge mit ihren Nöten allein. Gelegentlich nimmt die Klage „ich habe keinen Menschen“ dramatische Ausmaße an. Verzagte und Verzweifelte, Enttäuschte und Verbitterte scheiden aus dem Leben, weil sie sich aufgegeben, allein gelassen vorkommen, weil kein Mensch sich ihrer Not annahm. Im vergangenen Jahre haben sich in Rheinland-Pfalz 543 Menschen selbst den Tod gegeben. Wie viele von ihnen mögen keinen Menschen gehabt haben, der sie gehalten, der sie getragen, der sie gerettet hat.
Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Menschen desselben Glaubens und desselben Strebens. Sie sind eins in Christus, eins in der Gnade. Umso befremdlicher ist, dass sich auch in der Kirche die Klage der Vereinsamten erhebt. „Ich habe keinen Menschen!“ Sie hat in den letzten Jahrzehnten die Umformulierung angenommen: „Ich finde keinen Beichtvater“, weil entweder die Priester die Verwaltung des Bußsakramentes unterlassen oder weil sie die Kunst des Beichthörens nicht beherrschen! Andere klagen: „Ich finde keinen Liturgen, zu dem ich mit Vertrauen gehen kann! Ich finde keinen Priester, der das Opfer der Kirche normgemäß, fromm und erbaulich vollzieht! Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.“ Gelegentlich nimmt die Klage „ich habe keinen Menschen“ eine kollektive Gestalt an. Vor geraumer Zeit suchte mich ein Kanoniker eines süddeutschen Domkapitels auf. Er schilderte mir die Mißstände in seiner Diözese. Ich fragte ihn: Was tut Ihr Bischof? Er antwortete „Wir haben keinen Bischof!“ Er wollte nicht sagen, der Bischofsstuhl ist unbesetzt, sondern der Bischof tut nichts, der Bischof versäumt seine Pflicht. „Wir haben keinen Bischof“, sagte er zu mir.
Meine lieben Freunde. Wer klagt, „ich habe keinen Menschen“, vergisst leicht, dass die Menschen seiner Umgebung in einer ähnlichen Lage sind, dass auch sie nach einem Menschen Ausschau halten, dem sie vertrauen, dem sie sich öffnen, dem sie sich bis zu einem gewissen Grade schenken können. Alle suchen einen Menschen, der ihnen beisteht, der sie entlastet, der ihnen hilft, die Last des Lebens und des Schicksals zu tragen. Wir alle brauchen Menschen, sind auf Menschen angewiesen, die uns führen und raten, die uns mahnen und warnen. Es muss Herzen geben, meine lieben Freunde, welche die Tiefe unseres Wesens kennen und auf uns schwören, selbst wenn die ganze Welt uns verlässt. Wer nach einem Menschen, nach seinem Menschen Ausschau hält, muss sich aber fragen: Bin ich geeignet und fähig, einen Menschen zu empfangen, der mir Helfer, Freund, Kamerad sein soll? Wer einen Menschen sucht, der muss sich auch tauglich machen, ihn aufzunehmen. Er muss sich gemeinschaftsfähig machen, denn jede Gemeinschaft stellt Forderungen. Wir dürfen beten um einen Menschen, der uns anhört und versteht, der uns Freund und Mahner werden kann. Aber er kann nur von Gott kommen. Die Klage „ich habe keinen Menschen“ bleibt auch nicht immer unerhört. Gott erweckt solche Menschen, er hilft uns nicht so sehr durch sich selbst, sondern durch Menschen, die er zu uns sendet. Er schickt uns Kinder, Erwachsene, Priester als Boten, die uns etwas zu sagen haben, die uns etwas zu bedenken geben. Es gibt Menschen, die begreifen, dass Gott ihnen einen Menschen zugewiesen hat, den sie stützen, aufrichten, korrigieren sollen. Es gibt Menschen, die sich anderen zugesellen als verstehende, helfende Gefährten, Begleiter und Stützen. Ein jeder muss sich fragen, ob ihm nicht von Gott ein Mensch zugewiesen ist, den er beraten, betreuen, hüten und umsorgen soll. Keiner lebt für sich allein. „Wenn jeder dem anderen helfen wollte, wäre bald allen geholfen“, schreibt einmal Marie von Ebner-Eschenbach. Vielleicht sind wir dazu berufen, die Klage eines Menschen oder gar vieler Menschen „ich habe keinen Menschen“ zum Schweigen zu bringen, weil wir diesen oder jenen Menschen das sein können, was sie brauchen und was sie suchen. Angehörige, Verwandte, Kollegen, Nachbarn können dazu berufen sein, die Sehnsucht eines anderen zu erfüllen, der Ausschau hält nach einer mitfühlenden Seele. Jeder muss sich fragen: Kann ich oder muss ich einem anderen der Mensch sein, auf den er wartet, den er braucht, den Gott mir zugewiesen hat? Wenn wir es erkennen, dass wir dazu bestimmt sind, den anderen zu begleiten, zu stützen und zu tragen, dann machen wir uns darauf gefasst, diese Aufgabe zu übernehmen. Dann erwerben wir die Tugenden und üben wir die Tugenden, die notwendig sind, um einem anderen Menschen Halt und Stütze zu sein: Feinfühligkeit, Rücksichtnahme, Aufmerksamkeit, Selbstlosigkeit, Wahrhaftigkeit.
Der Dienst an Menschen ist anstrengend. Er verlangt ständige Aufmerksamkeit, ständigen Einsatz. Ohne Aufopferung lässt sich keine Freundschaft halten. Wenn ein Mensch sich einem anderen zugeordnet weiß, muss er ständig an sich arbeiten, um den Erfordernissen dieser Zuordnung gerecht zu werden. Er muss die Gesinnungen und die Haltungen in sich entfalten, die den Bedürfnissen des anderen angemessen sind. Das beste, meine lieben Freunde, was ein Mensch für den anderen tun kann, ist doch immer das, was er für ihn sein kann. Er versteht seine Beziehung zu dem anderen als Dienst, und dieser Dienst muss in Selbstlosigkeit geleistet werden. Er sucht nicht das Seine, sondern das Wohl des anderen. Wenn die Liebe zu rechnen anfängt, ist sie keine Liebe mehr. Stets muss in uns das Bewusstsein der Verantwortung sein, die wir für die anderen tragen. Wenn es einmal heißt: „Gib Rechenschaft von deiner Verwaltung“, dann werden wir auch gefragt werden, was wir mit den Menschen getan haben, die Gott uns zugeordnet hat.
Es ist ein unbeschreibliches Glück, einen Menschen zu haben, der uns versteht und beisteht, der zu uns hält und uns nicht verlässt, wenn es schwierig wird. Dieses Glück will erhalten und gepflegt werden. Wer beglückt sagen kann, „ich habe einen Menschen“, der muss diesen als ein unverdientes Geschenk ansehen. Wer einen Mensch gefunden hat, der ihn von seiner Einsamkeit erlöst, der muss ihm die Haltung bezeigen, die allein geeignet ist, die Zweisamkeit zu erhalten und fruchtbar zu machen. Jede Gemeinschaft, jede Seelenfreundschaft, jede Kameradschaft muss gehütet werden. Dem Menschen, den wir gefunden oder den Gott uns gegeben hat, müssen wir mit Ehrfurcht begegnen. Ehrfurcht ist scheue Liebe und liebende Scheu. Ehrfurcht ist Staunen und Achtung vor dem anderen. Ehrfurcht schafft die feine Distanz, die das „Sich-gehen-lassen“ und Absinken ins Triviale verhindert. Die Ehrfurcht meidet jede plumpe Vertraulichkeit. Ich lernte einmal im Orden der Mallersdorfer Schwestern zwei leibliche Schwestern kennen, die im selben Hause tätig waren und in derselben Zelle schliefen. Diese beiden Schwestern sprachen sich mit „Sie“ an. Sie mieden das „Du“ aus Ehrfurcht voreinander.
Wir dürfen Menschen, die uns Gott gegeben hat, nicht überfordern, nicht ausnutzen. Immer, wenn wir um etwas bitten, müssen wir uns fragen: „Darf ich darum bitten? Ist es notwendig oder dient es nur meiner Bequemlichkeit?“ Vor allem sollen wir einander Weggefährten zum Himmel sein. Derjenige, der einen Menschen sucht, und der andere, der sich finden lässt. Weggefährten zum Himmel. Wenn eine Gemeinschaft, eine Kameradschaft nicht zum Himmel führt, dann hat sie ihren Sinn verfehlt.
Unser Heiland konnte am Abend seines Lebens sagen: „Keinen von denen, die Du mir gegeben hast, habe ich verloren.“ O dass wir das doch von den Menschen sagen könnten, die Gott uns gegeben hat. O dass wir uns doch in der ewigen Seligkeit bestätigen lassen könnten: „Du hast mich an der Hand genommen und du hast mich über die Klippen des Lebens geführt.“
In der ewigen Seligkeit, meine Freunde, verstummt die Klage „ich habe keinen Menschen!“ Im Zustand der Erfüllung werden wir nicht nur einen Menschen haben, sondern alle heimgekommenen Menschen werden uns nahe sein, weil sie alle in Gott eins sind.
Amen.