30. Juli 2006
Das hohe Gut des Lebens
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Eines unserer höchsten Güter, dem Armen wie dem Reichen gleich wertvoll, ist das Leben. Solange wir leben, können wir arbeiten und wirken für die Erde und für den Himmel. Ist das Leben zu Ende, dann verlieren alle irdischen Güter ihren Wert, und die Entscheidung für die Ewigkeit ist gefallen.
Wem gehört unser Leben? Die Antwort, welche die Menschen darauf geben, ist sehr verschieden. Wenn man vor über 2000 Jahren von Sparta (in Griechenland) nach Norden wanderte, kam man in eine Ebene Taigetos und in eine Schlucht, die einen mit Entsetzen erfüllen musste. In dieser Schlucht waren Hunderte von Körpern kleiner Kinder dem Tode preisgegeben worden. In Sparta galt das Gesetz, dass ein schwächliches Kind dem Tode zu überliefern war. Man zog es nicht auf, sondern man warf es in die Schlucht, wo es elend zugrunde ging. In Rom war es nicht viel anders. Das berühmte Zwölf-Tafel-Gesetz gab dem Vater das Recht, ein Kind, das ihm geboren wurde, nach freiem Ermessen aufzuziehen oder auszusetzen.
Nicht nur mit Kindern ist man so verfahren, auch mit Erwachsenen. Vornehme Römer machten sich einen Spaß daraus, Sklaven, also Menschen, die in Sklaverei geraten waren, den Fischen zum Fraß vorzuwerfen. Und Römerinnen, die sich vornehm dünkten, haben mit Stiletten ihre Sklavinnen zu Tode gestochen. So sind die Heiden mit dem Menschenleben verfahren.
Und wie ist es mit den Heiden unserer Zeit? Viele sagen: Ich bin Herr meines Lebens. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung können Sie immer wieder solche Leserbriefe finden, wo die Leserbriefschreiber darauf hinweisen, sie können mit ihrem Leben tun, was sie wollen.
Ganz anders die christliche Lehre. Die christliche Lehre lautet: Gott ist der Herr des Lebens. Er bleibt der Herr des Lebens. Er ist es am Anfang, und er ist es auch am Ende. Es könnte Leben nicht entstehen ohne ihn, und es darf nicht beendet werden ohne ihn. Das Recht, über das Menschenleben zu verfügen, ist Gottes. Im Alten Bunde lesen wir, wie Gott den Mord des Kain an dem Abel gerächt hat. „Das Blut deines Bruders Abel schreit zu mir empor. Darum sollst du verflucht sein auf der Erde, die das Blut deines Bruders getrunken hat.“ Und unter Blitz und Donner auf dem Berge Sinai hat Gott das Gebot verkündet: „Du sollst nicht töten!“
Der Herr hat im Neuen Testament die Weisungen des Alten aufgenommen. Er hat nicht nur das Töten verboten, sondern sogar das Zürnen, den Zorn, der zum Schaden des Nächsten, unter Umständen zu seinem Tode führt. „Jeder, der seinem Brüder zürnt, soll dem Gericht verfallen.“ Der Herr über Leben und Tod ist Gott, und er allein. „Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder sterben, wir sind des Herrn“, schreibt der Apostel Paulus.
Und doch gibt es ein Verfügungsrecht des Menschen über das Leben eines Mitmenschen. Die Kirche hat niemals einen Zweifel daran gelassen, dass die Obrigkeit das Schwert besitzt, um unter Umständen, in schwersten Fällen, bei unabweislicher Notwendigkeit Verbrecher dem Tode zu überliefern. Die Todesstrafe ist eine schreckliche Strafe, aber vom Gesetz Gottes her ist sie möglich. Wie weit sie verwirklicht wird, das ist eine Frage des Ermessens, und sie ist in Verruf geraten, weil Menschen sie missbraucht haben. Im letzten Kriege, meine lieben Freunde, wurden 21.000 deutsche Soldaten von der eigenen Militärjustiz hingerichtet. 21.000 deutsche Soldaten von der eigenen Militärjustiz hingerichtet. In der Französischen Revolution gab es einen Mann namens Sanson. Er war der Henker. Und in der Hochzeit der Revolution hatte er 11 Gehilfen, weil er allein der Hinrichtungen nicht Herr wurde. Mit 11 Gehilfen hat er Hunderte und Tausende in den Tod befördert. Der Missbrauch der Todesstrafe ist es, was die Aversion gegen sie geweckt hat, wenn wegen geringfügiger Vergehen, ohne genügende Beweise oder aus politischen Gründen Hinrichtungen vorgenommen werden. Im letzten Kriege konnte man hingerichtet werden, wenn man Feldpostpäckchen unterschlug. Feldpostpäckchenraub war mit der Todesstrafe bedroht. Aber noch einmal: Grundsätzlich hat die Obrigkeit das Recht, in schlimmsten Fällen mit der Todesstrafe einzuschreiten.
Auch aus einem anderen Grunde hat der einzelne Mensch das Recht, das Leben seines Nächsten zu bedrohen und zu gefährden, nämlich in der Notwehr. Wenn ein Mensch einen anderen in seinem Leben gefährdet, in seiner körperlichen Unversehrtheit, in wichtigsten Gütern, dann ist er ein ungerechter Angreifer, und gegen den ungerechten Angreifer darf man sich wehren. Man soll die Abwehr benutzen, die gerade genügt, um den Angreifer zurückzuschlagen. Aber ausgeschlossen ist auch nicht die Tötung des Angreifers. In der gerechten Notwehr kann es gerechtfertigt sein, einen ungerechten Angreifer zu töten.
Und schließlich muss man noch einen letzten Fall erwähnen: Der Krieg ist offenbar unausrottbar auf dieser Welt. Es gibt gerechte und ungerechte Kriege, es gibt gerechte und ungerechte Heere. Die Verteidigung des Vaterlandes ist und bleibt ein Recht und eine Pflicht eines jeden Angehörigen dieses Landes. Und wenn er zu den Waffen gerufen wird, um das Vaterland zu verteidigen, muss er notgedrungen auch den Angreifer zurückschlagen, unter Umständen mit der Todeswaffe. Ganz merkwürdig: In der sowjetischen Armee gab es im letzten Kriege eine Menge von Scharfschützen. Das waren besonders ausgebildete Infanteristen, die mit besonderen Gewehren ausgerüstet waren und die Fähigkeit besaßen, durch Warten und Zielen Menschen unmittelbar zu töten. Von solchen Scharfschützen sind mehrere ausgezeichnet worden, weil sie 170 oder gar 230 deutsche Soldaten getötet hatten. Das ist der Krieg, ein schreckliches, ein grausames Unternehmen. Aber noch einmal: Es ist nicht verboten, sich an einem gerechten Kriege zu beteiligen, um das Vaterland zu schützen. Aber damit ist auch die Reihe der Möglichkeiten erschöpft, in das Leben, in das fremde Leben einzugreifen.
Es gibt eine ganze Serie von Taten, in denen es ungerecht ist und unerlaubt ist, das Leben zu gefährden. Die erste schlimme Tat ist der Mord, also die ungerechte Tötung eines anderen ohne richterliche Gewalt. Mord ist eine himmelschreiende Sünde, denn sie nimmt dem Menschen die Möglichkeit, zu wirken. Er ist plötzlich dem Tode überliefert und hat keine Möglichkeit mehr, sich auf den Tod vorzubereiten. Der Mord hat mannigfache Gestalten. An erster Stelle ist es der Mord am schaffenden Menschen. Er nimmt der Familie den Ernährer, dem Volke ein wertvolles Glied und der Kirche einen Angehörigen. Der Mord ist ein frecher Eingriff in das Hoheitsrecht Gottes. Der Mord am Kind ist womöglich noch schrecklicher, weil er einen trifft, der sich nicht wehren kann. Vor wenigen Wochen ging ein Prozeß in Frankfurt an der Oder zu Ende, in dem eine Frau verurteilt wurde, die neun Kinder nach der Geburt dem Tode überliefert hatte. Neun Kinder nach der Geburt hat sie dem Tode überliefert. Und was soll ich sagen von den ungeborenen Kindern? 130.000 werden jedes Jahr in Deutschland im Mutterleib umgebracht, und das ist die amtliche Zahl. Da ist die Dunkelziffer nicht enthalten. 130.000 Kinder, die wir notwendig brauchen würden, um die Kindergärten zu füllen, um die Schulen zu füllen, um Nachwuchs für unsere Renten zu erhalten. 130.000 Kinder werden jedes Jahr im Mutterleib umgebracht. Das Land Hessen zahlt dafür – für das Umbringen! – jedes Jahr drei Millionen, und das Land Rheinland-Pfalz zwei Millionen. Also die Tötungen werden auch noch bezahlt, von uns bezahlt, von den Steuerzahlern bezahlt!
Eine andere Weise, sich am Menschenleben zu vergreifen, ist die Hilfe zum Sterben, Euthanasie genannt, also die Tötung von Kranken, vielleicht aus Mitleid oder um das lebensunwerte Leben, wie man es nennt, zu vernichten. Vor Gott gibt es kein lebensunwertes Leben, meine Freunde. Der allweise Gott erschafft nichts, was keinen Wert hat, und er erhält nichts auf dieser Erde ohne Sinn. Freilich ist der Sinn nicht gleich zu erkennen. Die Kranken haben ihren Platz, um uns an die Vergänglichkeit zu erinnern. Die Geistesschwachen haben ihren Platz, um uns dankbar zu machen für die Gabe des Geistes. Die Krüppel haben ihren Platz, um heroische Opfer möglich zu machen. Die Unheilbaren haben die große Aufgabe, um anderen das heroische Beispiel des Aushaltens in schwerer Lage zu geben. Es gibt kein lebensunwertes Leben. Wir wissen, dass dieser Grundsatz heute mannigfach durchbrochen wird. Voran geht Holland. Holland ist das Land, in dem die Tötung Kranker, Schwerkranker heute schon gang und gäbe ist, und bald wird diese Welle auf uns überschwappen.
Eine andere Verfehlung gegen das Leben ist der Totschlag. Er geschieht meistens im Zorn, in Raserei. Da sitzen zwei am Tische, streiten sich, und die Worte gehen hin und her, und auf einmal wird einer über den anderen mächtig und streckt ihn zu Boden. Auch der Leichtsinn führt nicht selten zu Todesfällen. Denken Sie, meine lieben Freunde, an die vielen Verkehrsunfälle, die aus Leichtsinn geschehen, in denen Menschen zu Tode kommen. Auch leichtfertiger Umgang mit Schußwaffen ist nicht selten. Der früher übliche Zweikampf ist ja Gott sei Dank ausgerottet, und auf diese Weise ist ein sinnloses Unternehmen beendet worden. Wie viele Menschen sind im Zweikampf gefallen, z.B. der bekannte Führer der Arbeiterbewegung Ferdinand Lasalle.
Es gibt aber auch eine Lebensverkürzung anderer Art. Sie besteht darin, dass Menschen so viel Kummer und Leid tragen müssen, dass ihr Herz darüber zerbricht. Schlechte Behandlung von den eigenen Kindern, von Angehörigen, von trügerischen Freunden, von heimtückischen Feinden führt oft dazu, dass das Herz dieser Menschen bricht. Auch das ist eine Tötung, eine Tötung durch Kummer und durch Gram. Wie viele Menschen sind auf diese Weise innerlich verblutet. Kein Gericht auf Erden wird sich ihrer bemächtigen, aber der Allwissende wird beim Endgericht darüber zu richten wissen.
Und was soll ich sagen, meine lieben Freunde, über den Selbstmord oder den Freitod, wie man ihn auch euphemistisch nennt. Der Gedanke, sterben zu wollen, wird wohl über die meisten Menschen schon einmal gekommen sein. Er ist auch bei Paulus zu finden. Im Philipperbrief schreibt er: „Ich wünsche aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein.“ Das ist Todessehnsucht. Aber Paulus hat selbstverständlich nicht Hand an sich selbst gelegt. Das hat er nicht getan. Und doch tun es viele Menschen. Sie legen Hand an sich selbst, in Deutschland jedes Jahr 13.000. 13.000 Selbstmorde jedes Jahr und merkwürdigerweise mehr im Sommer als im Winter.
Selbstmord ist ein Unrecht gegen Gott, weil man das Leben und die Lebenslast abwirft, die der Herr uns auferlegt hat. Der Selbstmörder entzieht sich der Aufgabe, die Gott ihm gestellt hat, und er stürzt möglicherweise seine Seele ins Verderben. Wir können nicht richten, denn wir wissen nicht, was in einem Menschen vorging, der sich selbst umgebracht hat. Es wird sicher in vielen Fällen kein voller Verschulden vorliegen. Wenn sich so viele Menschen umbringen, dann liegt das eben daran, dass das Leben manchmal schwerer sein kann als der Tod.
Man darf sein eigenes Leben opfern aus einem schwerwiegenden Grunde. Um einen anderen zu retten, um der Wissenschaft einen Dienst zu leisten darf man sein Leben aufs Spiel setzen. Wer um des Glaubens willen sein Leben verliert, der ist ein Martyrer und wird in der Ewigkeit mit der Ehrenkrone geschmückt. Auch für wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt darf man das Leben wagen. Manche Forschungsreisende haben auf diese Weise ihr Leben verloren. Sie sind in die Antarktis gezogen oder durch Afrika und haben um der Forschung willen ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Sie taten kein Unrecht, denn sie hatten ein hohes Ziel: Sie wollten der Menschheit dienen.
Vor einigen Jahren habe ich hier in Budenheim einen Sprengmeister beerdigt. Dieser Sprengmeister war bei der Entschärfung einer Fliegerbombe zerrissen worden. Auch dieser Mann hat sein Leben nicht leichtsinnig aufs Spiel gesetzt, sondern um andere vor Schaden zu bewahren. Er ist ein wahrer Held.
Es liegt, meine lieben Freunde, im 5. Gebote ein großer Ernst. Das Leben ist uns zu Lehen gegeben, und wir müssen einmal Rechenschaft darüber ablegen. Alles Lebensrecht gehört Gott, und unser Lebensweg steht in seiner Hand. Wir müssen als Geschöpfe dem Schöpfer unser Leben als Talent zurückbringen. Wir müssen es hüten und bewahren, damit wir am Ende einmal das Wort hören können: „Wohlan, du guter und getreuer Knecht, weil du über Weniges getreu gewesen bist, will ich dich über Vieles setzen. Geh ein in die Freude deines Herrn!“
Amen.