30. Dezember 1990
Die Vollendung des Menschen in Gott
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Mensch ist das Geschöpf Gottes. Die Herkunft von Gott prägt sein ganzes Wesen. Gott ist die personhafte Liebe. Davon ider der Mensch geprägt. Weil er von der Liebe herkommt, ist er auf Liebe hin angelegt, also auf das Du, auf das menschliche, aber vor allem auf das göttliche Du. Er kann deswegen seine Ruhe und seine Vollendung nur finden in Gott. Darum ist der Zustand des Himmels auch die Vollendung des menschlichen Wesens, weil der Mensch in diesem Zustand in Gott ruht. Der Mensch ist auf Erden um Selbstverwirklichung bemüht. Er kann sie nur finden in Gott, hier auf Erden in der Gnade, im Jenseits in der Gottesschau. Deswegen ist der Himmel die Selbstverwirklichung des Menschen, die Vollendung des menschlichen Wesens. Hier kommt der Mensch tatsächlich zu dem, was die Existenzphilosophie immer erreichen möchte, zu seinem eigenen und eigentlichen Selbst.
Der Himmel ist die Vollendung des Menschen. Diese Vollendung birgt in sich eine unmeßbare Seligkeit. Denn wenn der Mensch das ist, was er sein soll, wenn er zu dem gelangt, worauf er angelegt ist, dann stellt sich das Gefühl und das Wissen und das Glück der Vollendung ein. Deswegen kann der Apostel sagen: Was kein Auge geschaut, was kein Ohr gehört, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, das hat Gott denen bereitet, die ihn lieben. In der Vollendung des Himmels wird der Mensch über seine rein natürlichen Fähigkeiten hinaufgehoben. Er empfängt ja das lumen gloriae, das Licht der Herrlichkeit, die neue Sehkraft, die neue Liebesfähigkeit. Deswegen vergleicht die Heilige Schrift die Vollendeten mit den Engeln. Sie werden sein wie die Engel. Natürlich nicht, indem der Mensch sein Wesen verändert und zu einem leibfreien Geist wird, wie die Engel es sind, sondern indem er an der Gottesnähe der Engel teilnimmt, indem er in dieselbe Gottesnähe eingewiesen wird, welche die Engel seit ihrer Erhöhung genießen.
Die Vollendung bringt eine unmeßbare Seligkeit mit sich. Die Heilige Schrift bezeugt diese Wahrheit. Im Alten Testament freilich sehen wir eine stufenweise Entwicklung dieser Lehre. In den älteren Büchern ist nur von dem schlafähnlichen Zustand in der „Scheol“ die Rede, aber in den jüngeren Büchern – im Buche Daniel, bei den Propheten, im Weisheitsbuch – ist der Vollendungszustand beschrieben als Friede und Erquickung. Da ist die Rede davon, daß die Seligen wie Sterne glänzen, daß sie Könige geworden sind. Erst recht ist im Neuen Testament die Vollendung der Seligen in einer glühenden Farbe beschrieben. In der Ewigkeit ruhen die Menschen aus von ihren Qualen und von ihren Mühen. In der Ewigkeit sind sie in der festlichen Freude, wie man sie bei einem Festmahl nun einmal kennt. Oft wird ja die himmlische Seligkeit unter dem Bilde des Festmahles, des Hochzeitsmahles, geschildert. Da ist keine Versuchung mehr und keine Sünde, da ist kein Leid mehr und kein Tod, da ist nicht mehr Hunger und Armut und Elend, sondern die hier weinen, die werden dort lachen; die hier hungern, die werden dort gesättigt werden. Ja, das ist die Ewigkeit: Sättigung des Menschen, Ernte des Lebens, Vollendung seines ganzen Wesens.
Diese Bilder vom Himmel haben die neutestamentlichen Schriftsteller immer dann hervorgeholt, wenn es darum ging, die Christen in ihren Drangsalen und Heimsuchungen zu ermutigen. Das gilt vor allem für das letzte Buch der Heiligen Schrift, für die Apokalypse. In der Zeit der Christenverfolgung durch den römischen Kaiser erhält der Seher Johannes einen Einblick in die Seligkeit des Himmels. Da sieht er eine große Schar in weißen Gewändern, die Palmen in den Händen tragen. „Da fragte mich einer von den Ältesten: Wer sind denn diese da in den weißen Kleidern, und woher kommen sie? Ich sagte zu ihm: Mein Herr, du weißt es. Und er sprach zu mir: Die sind es, die aus der großen Trübsal kommen. Sie haben ihre Kleider weiß gewaschen im Blute des Lammes. Darum sind sie vor dem Throne Gottes und dienen ihm in seinem Tempel Tag und Nacht. Und der, der auf dem Throne sitzt, wird bei ihnen wohnen. Sie werden nicht mehr Hunger und Durst haben. Weder die Sonne noch irgend eine Hitze wird sie drücken, denn das Lamm mitten vor dem Throne wird sie weiden und an Quellen lebendigen Wassers führen. Und Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen.“ Johannes schaut den Zustand der Vollendung. Die Widersacher, die den Gläubigen zugesetzt haben, sind jetzt abgetan. Die Herrschaft des Satans ist überwunden. Sie sind in der völligen Freiheit der Gottesherrschaft, in der Gemeinschaft mit Christus, in der Fülle des Heiligen Geistes, und das macht ihr unermeßliches Glück aus.
Auch der Apostel Paulus zeugt an mehreren Stellen von der seligen Vollendung, die den Menschen im Himmel erwartet. „Der Geist selbst“, so sagt er im Römerbrief, „gibt Zeugnis zusammen mit unserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind. Wenn aber Kinder, dann auch Erben, Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir nämlich mit ihm leiden, um mit ihm auch verherrlicht zu werden.“ Und jetzt: „Ich halte dafür, daß die Leiden dieser Zeit nicht zu vergleichen sind mit der künftigen Herrlichkeit, die an uns offenbar werden wird.“ Ähnlich im 2. Brief an die Korinther: „Daher verlieren wir den Mut nicht, sondern wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. Denn die leichte Not des Augenblicks erwirkt uns eine überschwengliche, ewige, alles überwiegende Herrlichkeit, wenn wir nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare unseren Blick richten, denn das Sichtbare ist bloß zeitlich, das Unsichtbare aber ist ewig.“
Die Vollendung des Himmels wird in allen neutestamentlichen Schriften, vor allem aber in jenen des heiligen Johannes, als Lebenserfüllung beschrieben, als ewiges Leben. Dieser Ausdruck „ewiges Leben“ bedeutet ein Doppeltes. Er bedeutet einmal, daß die Vollendeten am Leben Gottes teilnehmen, denn er ist der einzige Ewige. Sie nehmen am Leben Gottes teil. Und das besagt, sie nehmen an der Intensität und an der Kraft, an der unendlichen Intensität und an der unendlichen Kraft des göttlichen Lebens teil, am dreipersönlichen Leben Gottes. Das Leben Gottes ist nämlich vom irdischen und vom geschöpflichen Leben wesentlich verschieden. Gott besitzt sich nicht in einem Nacheinander, er durchläuft in seinem Leben nicht Stufen und Entwicklungen, sondern er besitzt sich stets mit ganzer Kraft und mit voller Intensität. Er ist, wie die Philosophen und dann auch die Theologen sagen, ein stehendes Jetzt. Er ist sich selbst in unendlicher Weise immer gegenwärtig. Er muß also nicht dazulernen oder bestimmte Grade des Werdens durchschreiten, um zu seinem Selbst zu kommen, er ist immer er selbst. Und an diesem Leben nehmen die Vollendeten teil. Das heißt Eingehen in das ewige Leben. In einem zweiten Sinne bedeutet ewiges Leben auch, daß es endlos ist, daß es kein Ende findet, daß also jede Bedrohung von außen, die das Leben beenden könnte, beseitigt ist.
Die Vollendeten leben in höchster Tätigkeit. Wenn wir beten: „Gib ihnen die ewige Ruhe“, dann meinen wir damit nicht die tödliche Ruhe der Untätigkeit, sondern wir meinen, daß sich ihr Leben mit höchster Wachheit, ohne Erschlaffung, ohne Ermüdung, ohne Anstrengung vollzieht. Das bedeutet „Gib ihnen die ewige Ruhe“. Das ewige Leben ist eine Tätigkeit in höchster Ruhe und eine Ruhe in höchster Tätigkeit. Mit höchster Wachheit des Geistes und mit höchster Kraft des Herzens vollziehen die Vollendeten das ewige Leben. Alle Dumpfheit des Geistes und alle Schwäche des Herzens sind aus ihrem Leben gebannt. Sie besitzen sich in einer Weise, wie sie sich auf Erden nie besessen haben. Sie sind lebendiger als auf Erden.
Die Theologen haben sich die Frage gestellt, ob die Vollendung und damit die Seligkeit des ewigen Lebens eines Wachstums fähig sind. Können die Vollendung und die Seligkeit zunehmen? Es gibt da zwei Meinungen. Die überwiegende Meinung sagt: Nein, das ist nicht möglich. Warum ist es nicht möglich? Aus zwei Gründen nicht. Einmal, weil Gott einfach ist. Und wenn der Mensch Gott überhaupt schaut, dann schaut er ihn in seiner Ganzheit. Und der zweite Grund: Es gibt im Himmel keine Möglichkeit des Verdienstes mehr, und deswegen ist das Wachstum in der Gnade ausgeschlossen. Die gegenteilige Meinung sucht zu erklären, daß es trotzdem eine Zunahme der Seligkeit und ein Wachsen in der Vollendung gibt. Sie hat freilich die Schwierigkeit zu erklären, wie die beiden ebengenannten Einwände überwunden werden können. Man müßte zu erklären versuchen, daß auch ohne Verdienste, allein aus der freien Güte Gottes, die Seligen immer tiefer in die Wirklichkeit Gottes hneinblicken dürfen und ihn immer mehr lieben dürfen, ohne je an ein Ende zu kommen, und daß die Einfachheit Gottes kein Hindernis dafür ist, daß Gott ihnen immer neue Seiten seines Wesens offenbart. Wie immer es sein mag, eines ist sicher: Die Vollendeten gewinnen einen immer tieferen Einblick in die Entwicklung der Geschichte, und sie erwarten in jedem Falle eine weitere Stufe der Vollendung, wenn sie ihren Leib in der Auferstehung des Fleisches wiedererhalten. Insofern ist also ein Wachstum der Vollendung und eine Zunahme in der Seligkeit sicher.
Die Seligkeit des Himmels ist für die Vollendeten unverlierbar. Sie sind gleichsam von Gott gefangen. Sie sind so von Gott entzückt und hingerissen, daß sie sich davon weder losreißen können noch wollen. Es ist das also auch keine Unfreiheit, wenn sie in Gott gefangen sind, denn sie realisieren ja ihre innersten Neigungen, nämlich Gott zu lieben, Gott zu ehren und Gott zu dienen. Sie verwirklichen den innersten Kern ihres Wesens. Da kann keine Langeweile und kein Überdruß auftreten. Langeweile und Überdruß stellen sich ein, wenn ein Mensch in einem Gut kein Genügen findet, wenn ein Ding oder eine Wirklichkeit ihn nicht zu sättigen vermag. Aber das ist bei Gott nicht der Fall. Gott vermag den Menschen in einer Weise zu erfüllen, die für ihn unvorstellbar war. Er vermag ihn zu sättigen in einer Weise, die kein Gefühl des Hungers mehr aufkommen läßt. Die Vollendeten sind also insofern in einer fraglosen Ruhe. Sie brauchen nicht zu bangen, daß ihnen jemals entrissen wird, was ihnen von Gott geschenkt ist. Sie sind geborgen in der Allmacht und in der Liebe Gottes.
Das also, meine lieben Freunde, ist die Vollendung und die Seligkeit des Himmels. Das ist der Zustand, dem wir entgegengehen. Das ist jene Vollendung, die wir erwarten, für die wir arbeiten wollen, für die uns zu mühen wir nicht müde werden wollen. Das ist das Ziel, das einzige Ziel, das wir nicht verpassen dürfen. Alle anderen Ziele auf Erden sind nur Etappenziele. Das ist das endgültige Ziel, auf das wir hinstreben und das alle Mühen und alle Drangsale, alle Überwindungen und alle Anstrengungen, die wir auf Erden auf uns nehmen, lohnt.
Amen.