21. Mai 2000
Die übernatürlichen Tugenden: Der Glaube
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Im vergangenen Jahrhundert lebte und lehrte in Köln ein gelehrter und frommer Priester und Professor, Matthias Josef Scheeben. Dieser gelehrte und fromme Mann hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade“. Es ist seit geraumer Zeit unsere Absicht, diese Herrlichkeiten der göttlichen Gnade uns vor Augen zu führen. Daß wir teilhaftig sind göttlicher Natur, das ist etwas so Überwältigendes und Unbegreifliches, daß es vieler Überlegungen bedarf, um einigermaßen in analoger Weise in diese Herrlichkeiten einzudringen. Die heiligmachende Gnade, das ist das große Geschenk, das ist das größte Geschenk, das Gott uns gemacht hat und machen kann. Mehr kann er nicht geben als sich selbst.
Die heiligmachende Gnade durchdringt das Ich des Menschen, vergöttlicht seinen Wesensbestand. Von dieser Vergöttlichung sind aber auch die Kräfte des Menschen erfaßt, denn der Wesensbestand des Menschen soll sich ja im Tun bezeugen. Deswegen ist es notwendig und erforderlich, daß auch die Vermögen, die Kräfte, die Fähigkeiten des Menschen vergöttlicht werden. Die heiligmachende Gnade senkt sich auch in die Fähigkeiten, in die Vermögen, in die Kräfte des Menschen ein. Diese Fähigkeiten, Vermögen und Kräfte werden übernatürlich erhöht, überhöht, vergöttlicht.
Wir sprechen davon, daß durch die heiligmachende Gnade die göttlichen und die sittlichen Tugenden den Menschen eingegossen werden. Eingegossen – das heißt: Sie werden nicht vom Menschen erworben. Die übrigen Tugenden, die natürlichen Tugenden, erwerben wir ja durch Übung. Wir überwinden uns, wir versuchen, Fertigkeiten auszubilden im Tun des Guten. Durch ständige Wiederholung des Guten schaffen wir eine Gewohnheit, eine gute Gewohnheit. Das sind die natürlichen Tugenden. Die übernatürlichen Tugenden werden nicht durch eigenes Bemühen gewonnen, sondern sie werden von Gott dem Menschen eingesenkt; es sind eingegossene Tugenden. Die übernatürlichen Tugenden sind Qualifizierungen, göttliche Qualifizierungen unserer menschlichen Vermögen. Sie nehmen nicht die Hindernisse, die sich dem Guten entgegenstemmen, hinweg. Sie beseitigen nicht die Sinnlichkeit, die Bequemlichkeit, die Trägheit, nein, sie machen, daß unser Tun gottförmig wird, daß wir bei unserem Handeln in einer übernatürlich qualifizierten Weise handeln können. Das heißt also: Man braucht sich nicht zu wundern, wenn ein Mensch in der heiligmachenden Gnade sich immer noch bemühen muß, mit sittlicher Anstrengung das Böse fernzuhalten. Das ist selbstverständlich. Die heiligmachende Gnade ersetzt nicht das menschliche Sich-Bemühen und Sich-Anstrengen, sondern es erhebt es in eine höhere Sphäre. Menschliches Bemühen und göttliches Wirken kommen in einer uns letztlich nicht begreiflichen Weise zusammen, damit wir gottförmig handeln.
Unter den Tugenden, die uns eingegossen werden, unterscheiden wir die göttlichen und die sittlichen Tugenden. Die göttlichen Tugenden sind jene, mit denen unsere Fähigkeiten sich auf Gott hinrichten. Deswegen heißen sie göttliche oder theologische Tugenden. Daß wir also Gott erkennen, lieben, ersehnen, das ist die Wirkung der göttlichen Tugenden. Wir nennen sie Glaube, Hoffnung und Liebe. Die sittlichen Tugenden dagegen sind dafür geschaffen, daß sie die Bewältigung des Alltags im christusförmigen Sinne gestatten. Wir bekommen die sittlichen Tugenden eingegossen, damit wir unsere täglichen Arbeiten, Mühen, Leiden und Beschwerden in gottförmiger Weise bewältigen können.
Die drei göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe sind grundlegend für das christliche Leben. Es ist Glaube, Hoffnung und Liebe die Weise, wie wir mit Gott in Gemeinschaft treten, in eine Denk-, Willens- und Liebesgemeinschaft. Deutlich ausgesprochen wird das im Römerbrief vom Apostel Paulus, wenn es dort heißt: „Gerechtfertigt also durch Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus. Durch ihn haben wir mittels des Glaubens auch Zutritt zu dieser Gnade, in der wir stehen, und rühmen uns ob der Hoffnung auf die Herrlichkeit der Kinder Gottes. Aber nicht allein dies, sondern wir rühmen uns auch ob der Trübsal, da wir wissen, daß Trübsal Geduld wirkt, Geduld Bewährung, Bewährung aber Hoffnung. Hoffnung aber trügt nicht, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ In diesem Text, meine lieben Freunde, haben wir die drei göttlichen Tugenden beisammen, Glaube, Hoffnung und Liebe. Sie sind es, die uns in eine Denk- und Lebensgemeinschaft mit Christus bringen. Wenn man fragt: Wie stehen denn die drei göttlichen Tugenden zueinander, wie verhalten sich Glaube, Hoffnung und Liebe zueinander?, dann muß man mit Gewißheit sagen: Der Glaube ist die Grundlage von allem. Ohne Glauben kann es weder Hoffnung noch Liebe geben. Der Glaube ist das Fundament. Aber wenn ich glaube, daß Gott ist, und wenn ich glaube, daß er die Schönheit und die Größe und die Güte und die Allmacht und die Liebe ist, dann werde ich auch Hoffnung haben, ihn zu besitzen. Und wenn ich die Hoffnung habe, zu Gott zu gelangen, dann muß auch die Sehnsucht in uns erwachen, dieses geliebte Antlitz zu schauen, dann steht die Liebe in uns auf zu diesem Gott, der uns alles in seinem Sohne geschenkt hat. Glaube, Hoffnung und Liebe greifen ineinander, auch wenn der Glaube das Fundament von allem ist.
Nun steht aber eine schwierige Frage zur Beantwortung an: Wie ist es denn, wenn jemand durch die Sünde, durch die schwere Sünde die heiligmachende Gnade verliert? Gehen da die göttlichen Tugenden auch verloren? Wenn wir die heiligmachende Gnade verlieren, fehlt ja die lebendige Hinrichtung auf Gott. Was ist dann mit den Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe? Eines ist sicher: Wenn wir die heiligmachende Gnade verlieren, geht auch die Liebe verloren; denn die Sünde ist ja Abwendung von Gott, und mit der Abwendung von Gott kann die Liebe nicht bestehen. Die zuständliche Liebe geht durch die schwere Sünde verloren. Aber es müssen nicht auch der Glaube und die Hoffnung verlorengehen. Auch der Todsünder kann in irgendeiner Weise Glauben und Hoffnung bewahren. Sie sind zwar nicht mehr lebendig, und deswegen spricht die Heilige Schrift und das kirchliche Lehramt von dem „toten Glauben“. Er ist tot deswegen, weil er nicht mehr von der Liebe lebendig gemacht wird. Man könnte ebensogut von einer toten Hoffnung sprechen, eben weil sie nicht mehr von der Liebe informiert wird. Aber, und das ist gegen die Reformatoren des 16. Jahrhunderts festzuhalten: Auch der Todsünder kann einen, wen auch geschwächten, wenn auch unlebendigen Glauben behalten, und er kann eine geschwächte, eine unlebendige Hoffnung bewahren. Nur durch eine direkte Sünde gegen den Glauben oder gegen die Hoffnung gehen Glauben und Hoffnung verloren. Das ist ein gewisser Trost, denn der Todsünder hat ja dann wenigstens einen Ansatzpunkt, auf dem er sich wieder zu Gott wenden kann im Glauben. Er glaubt ja noch, und infolgedessen kann er durch den Glauben auch den Weg zurück finden in die Liebe.
Wir wollen am heutigen Sonntag die erste dieser göttlichen Tugenden näher betrachten, nämlich den Glauben. Der Glaube ist eine neue Seh- und Hörkraft. Durch den Glauben wird uns ein neues Hörvermögen und ein neues Sehvermögen eingesetzt. Wir erhalten mit dem Glauben gewissermaßen neue Augen. Wir sehen mehr als andere; wir sehen anderes als die übrigen, denn wir sehen jetzt mit den Augen Gottes. Durch den Glauben werden wir in eine höhere Sphäre des Sehens erhoben. Der Glaube schenkt uns eine neue Erkenntnisfähigkeit. Wir sind durch die eingegossene Tugend des Glaubens in der Lage, die Offenbarung Gottes zu verstehen, anzunehmen und zu bewahren. Die eingegossene Tugend des Glaubens befähigt uns, Gottes Worte zu verstehen und zu bejahen.
Freilich ist der Glaube, wenn er lebendig sein soll, immer verbunden mit der Liebe, deswegen auch mit dem Willen; denn der Glaube ist ja nicht nur Annahme der Offenbarung, er ist auch Gehorsam gegen die Offenbarung, und gehorsam ist man eben mit dem Willen. Deswegen ist, wenn wir gläubig sind, das Willensvermögen verbunden mit dem Erkenntnisvermögen. Wir erkennen Gott, und wir wollen Gott. Wir richten uns auf Gott hin mit dem Erkennen und mit dem Wollen. Das ist nicht meine Weisheit, meine lieben Freunde, sondern das ist die Lehre der Heiligen Schrift, etwa, wenn der Apostel Paulus im Römerbrief schreibt: „Dank sei Gott, daß ihr, die ihr Knechte der Sünde wart, von Herzen gehorsam geworden seid gegen die Vorschriften der Lehre, in die ihr eingeführt wurdet.“ Als die Römer gläubig wurden, da wurden sie gehorsam, gehorsam gegen den Anruf Gottes. Und tatsächlich ist der Glaube gehorsame Überantwortung des menschlichen Geistes an Gott. Der Mensch läßt seine Selbstherrlichkeit fahren. Er verzichtet darauf, zu bestimmen, was Gott tun kann und was er nicht tun kann, wie das unseren Herren Exegeten versuchen, nicht wahr? Nein, er läßt seine Selbstherrlichkeit fahren und überantwortet seinen Geist an Gott, wie es Paulus etwa im 2. Korintherbrief schreibt: „Denn ob wir auch im Fleische wandeln, so kämpfen wir doch nicht nach dem Fleische. Die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern machtvoll durch Gott, um Festungen zu zerstören. Wir zerstören damit Pläne und jede Mauer, welche sich wider die Erkenntnis Gottes auftürmt. Wir nehmen gefangen jeden Verstand, um ihn zum Gehorsam Christi zu führen. Wir sind auch bereit, allen Ungehorsam zu züchtigen, sobald euer Gehorsam vollendet sein wird.“ Also eine neue Erkenntnis wird uns geschenkt. Diese Erkenntnis nehmen wir gewiß entgegen mit unserem Erkenntnisvermögen, also mit dem Verstand, aber unter Beteiligung des Willens, denn wer nicht will, dem ist überhaupt nichts zu beweisen. Wer nicht will, der kann auch die Erkenntnis Gottes nicht gewinnen. Der menschliche Wille ist und muß beteiligt sein. Es gibt, allen Einwänden der Reformatoren zum Trotz, eine menschliche Mitwirkung bei der Rechtfertigung und natürlich auch beim Empfang des Glaubens.
Nun hat der Glaube es an sich, daß er unanschaulich ist. Wenn Sie einmal sich die Zeit nähmen, das 11. Kapitel im Brief an die Hebräer zu lesen, da würden Sie finden, wie hier die Wesensnatur des Glaubens, die sich eben auf etwas Wirkliches, aber Unanschauliches richtet, dargestellt wird an den Zeugen des Glaubens, angefangen von Abraham bis zu den letzten im Neuen Bunde. Am Anfang des 11. Kapitels steht als wuchtiger Satz: „Es ist aber der Glaube das feste Vertrauen auf das, was man erhofft, ein Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht.“ Und eben diesen Glauben haben Abraham und alle seine Nachfolger bewährt: das feste Vertrauen auf das, was man erhofft, ein Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht. Das gilt es immer im Auge zu behalten, meine lieben Freunde. Der Glaube richtet sich auf Zukünftiges (festes Vertrauen auf das, was man erhofft) und auf Unsichtbares (ein Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht). Aber das ist eben die Verbindung von diesen beiden Haltungen, von Hoffnung und Überzeugtsein: Wir sind überzeugt, daß wir das, was wir erhoffen, einst sehen werden. Wir sind unterwegs zu diesem Zustand, der einmal hervorkommen wird, wo wir nicht mehr glauben, sondern wo wir schauen werden, wo wir das schauen werden, was wir jetzt geglaubt haben.
Das Erste Vatikanische Konzil hat den Glauben als ein Fürwahrhalten alles dessen beschrieben, was Gott geoffenbart hat und was die Kirche uns zu glauben vorstellt. Das ist richtig. Es ist notwendig, das zu betonen. Ein Fürwahrhalten – der Glaube ist ein Fürwahrhalten, auch wenn Kaspar dagegen Einspruch erheben will. Der Glaube ist ein Fürwahrhalten, und zwar eben auch von Wahrheiten, von geoffenbarten Wahrheiten. Aber diese Bestimmung ist nicht erschöpfend, denn letztlich zielt ja unser Erkenntnisvermögen, auch unser Willensvermögen, nicht auf Sätze. Letztlich zielen sowohl das Erkenntnisvermögen als auch das Willensvermögen auf eine Wirklichkeit, auf eine Person, auf das lebendige, fleischgewordene Wort Gottes. Wir könnten also ebensogut sagen – und das wäre vielleicht eine gefülltere Aussage: Der Glaube ist ein Fürwahrhalten, ein Festhalten der lebendigen Wirklichkeit Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn. Jawohl, das ist der Glaube.
Wenn wir an Gott glauben, dann fragt es sich, wie es möglich sein soll, an Gott zu glauben, ohne ihn zu lieben. Ist er nicht der Schönste von allen? Ist er nicht unser Beseliger und Erlöser? Ist er nicht unser Herr und König? Muß nicht, wenn man an ihn glaubt, auch die Liebe in uns aufstehen? Ja, eigentlich schon. Es ist schwer zu begreifen, daß jemand an Gott glauben kann, ohne ihn zu lieben. Und deswegen hat der Apostel Jakobus, von dem wir ja heute die Lesung gehört haben, in seinem Briefe geschrieben: „Du glaubst, daß ein einziger Gott ist. Du tust wohl, auch die bösen Geister glauben und zittern.“ Es gibt also einen Glauben, der zum Zittern führt und nicht zur Liebe. Das ist der Glaube, den die bösen Geister haben. Sie wissen: Es gibt einen Gott, es gibt einen Christus, es gibt einen Heiligen Geist. Aber diese Erkenntnis führt nicht dazu, daß sie sich Gott unterwerfen, sondern daß sie Angst haben. Sie zittern. So ist es eben leider Gottes auch bei Menschen möglich. Sie können Glauben haben ohne Liebe, einen toten Glauben, einen unlebendigen, einen gewohnheitsmäßigen, einen unernsten Glauben, aber es bleibt ein solcher Rest, den man als Glauben bezeichnen muß. Das Konzil von Trient hat die Möglichkeit der fides informis, des ungeformten Glaubens gegen die Reformatoren festgehalten.
„Das Auge des Christen sieht in die Ewigkeit hinein“, hat einmal der heilige Pfarrer von Ars gepredigt. O wie schön! Das Auge des Christen sieht in die Ewigkeit hinein. Der Glaube hat zwei Wirkungen für unser Erkennen. 1. Er weitet unseren Horizont, und 2. Er bewahrt uns vor Irrtum. Wer glaubt, weiß mehr und sieht mehr. Wer nicht glaubt, ist verkümmert. Er ist beschränkt auf die Erfahrungswirklichkeit, er vermag es nicht, durchzustoßen zum letzten Geheimnis der Welt, nämlich zu Gott. Wer nicht glaubt, ist ein armer, bedauernswerter, unglücklicher Mensch. Er ist verfangen in das Irdisch-Weltliche, er stößt nicht durch zum Beseliger und Erlöser des Menschen. Der Glaube eröffnet neue Horizonte. Der Glaube bewahrt aber auch vor Irrtum. Wie nahe liegt es dem Menschen, daß er, wenn er die Welt ansieht, in ihr die letzte Erfüllung zu finden hofft! Wie leicht ist der Irrtum, daß die Erde ein und alles ist! Wie billig ist es, zu sprechen: „Tot ist tot und aus ist aus“! Wie leicht ist das – und wie falsch ist es! Der Glaube befreit uns vom Irrtum.
Der Apostel Paulus schreibt einmal an seine Gemeinde: „Einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn.“ Genau das ist es. Wer den Glauben gewonnen hat, der ist lichtvoll, lichterfüllt geworden. In ihm ist der Irrtum besiegt, und in ihm ist die Wahrheit aufgegangen. Deswegen jubelt der Apostel Johannes: „Das ist der Sieg, der die Welt überwindet – unser Glaube!“
Amen.