2. Juni 1988
Die helfende Gnade
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Der Fronleichnam, der Leib unseres Herrn, ist unser höchstes Gut, er, der Herr selbst, lebendig und wahrhaft gegenwärtig unter den Gestalten von Brot und Wein. Wer ist würdig, dieses Geheimnis zu preisen? Wer ist würdig, es gebührend zu ehren? Wer ist würdig, es zu empfangen?
Um in den Stand der Würdigkeit versetzt zu werden, muß Gott uns helfen. Und so ist es angemessen, am heutigen Fronleichnamstag über die helfende Gnade, über die aktuelle oder Beistandsgnade zu sprechen. Wir hatten ja am vergangenen Sonntag die beiden Haupteinteilungen der Gnade uns vor Augen geführt, nämlich in die heiligmachende Gnade und in die helfende Gnade. Die helfende oder aktuelle Gnade ist eine vorübergehende übernatürliche Einwirkung Gottes auf die Seelenkräfte, um sie zu befähigen, Heilsakte zu setzen – eine vorübergehende Einwirkung im Unterschied zur heiligmachenden Gnade, die eine bleibende Zuständlichkeit ist. Die aktuelle Gnade dient dazu, den Menschen zu bereiten, daß er das Heilsmysterium empfangen kann, daß er es bewahren kann und daß er es vermehren kann. Sie ist also gewissermaßen die erste und notwendigste Gnade. Von dieser Gnade gilt buchstäblich, was der Herr sagt: „Ohne mich könnt ihr nichts tun,“ nämlich nichts Heilswirksames. Man muß diese übernatürliche Einwirkung unterscheiden von der allgemeinen Mitwirkung Gottes bei allen unseren Akten. Was wir tun, ob wir arbeiten oder ruhen, immer ist Gott, der Schöpfer und Erhalter alles Seins, beteiligt mit seinem concursus generalis, wie die Theologie sagt, mit seiner allgemeinen Mitwirkung. Aber diese allgemeine Mitwirkung, die für unser ganzes Leben benötigt wird, ist von der helfenden Gnade unterschieden. Die helfende Gnade ist die Mitwirkung zu Heilsakten, also zu Handlungen, die für die Ewigkeit von Wert sind.
Das Konzil von Orange im Jahre 529, also in grauer Vorzeit, hat einmal den Satz verurteilt, der Mensch könne aus sich, aus eigener Kraft das Gute denken und es vollbringen. Und diese Lehre des Konzils von Orange in Frankreich ist durch Rezeption für die ganze Kirche maßgebend geworden. Der Mensch braucht, benötigt übernatürliche Erleuchtung und übernatürliche Stärkung, um heilswirksam tätig werden zu können. Der Verstand muß erleuchtet, der Wille muß gestärkt werden.
Im 2. Korintherbrief sagt der Apostel Paulus einmal: „Nicht als wenn wir aus Eigenem geeignet wären, gleichsam aus uns selbst etwas zu denken, sondern unsere Eignung kommt von Gott.“ Also nicht von uns selbst sind wir fähig, heilswirksam zu denken und zu urteilen, sondern nur mit der Hilfe Gottes, wenn die helfende Gnade unseren Verstand erleuchtet. An einer anderen Stelle spricht er davon: „Ich habe gepflanzt, Apollo (ein anderer Jünger Jesu) hat begossen, Gott hat das Wachstum gegeben.“ Also ist weder der etwas, der pflanzt, noch jener, der begießt, sondern der, der das Wachstum gibt – Gott. Hier wird mit anderen Worten dasselbe ausgedrückt, daß nämlich die heilswirksame Tätigkeit Gott zum Prinzipal, zum Urheber haben muß.
Und ähnlich wie es mit der Erleuchtung des Verstandes ist, ist es auch mit der Stärkung des Willens. Da schreibt Paulus im Philipperbrief: „Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen nach dem Maß seines Wohlgefallens schafft.“ Also sowohl das Wollen als auch das Vollbringen stammt von Gott.
Ich weiß, daß sich hier schwerwiegende Fragen erheben. Denn wenn Gott das Wollen wirkt, wie bin ich es dann noch, der will? Diese Frage muß natürlich noch behandelt werden. Aber in jedem Falle ist es so, daß Gott das Wollen und das Vollbringen wirkt. Oder wenn es der Heiland selber sagt: „Niemand kommt zu mir, wenn ihn der Vater nicht zieht,“ dann ist ja mit anderen Worten dasselbe gesagt. Es muß ein Zug von Gott erfolgen, damit wir zu Gott kommen können. Der Mensch braucht, um heilswirksam handeln zu können, die zuvorkommende Gnade. Der Anfang des Heiles muß gemacht werden durch die Gnade. Nicht der Mensch ist der erste, der sich auf den Weg begibt, sondern Gott ist es, der ihn zieht. „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an,“ sagt der Heiland. Das ist es. Das ist die zuvorkommende Gnade. Sie wirkt in uns ohne uns, wie die Theologen sagen, in uns ohne uns, sie ist die gratis excitans, die Gnade, die unser Vermögen gleichsam erweckt und uns fähig macht, heilswirksam zu handeln. „Der Anfang der Rechtfertigung muß von Gott gemacht werden beim Erwachsenen,“ sagt das Konzil von Trient.
Diese zuvorkommende Gnade wird dann abgelöst durch die mitwirkende Gnade, durch die Gnade, die unser Tun begleitet. Bei dieser Gnade wirkt Gott in uns mit uns. Da ist also ein Unterschied. Bei der zuvorkommenden Gnade wirkt er in uns ohne uns, bei der mitwirkenden Gnade wirkt er in uns mit uns, d.h. wir stimmen zu, wir willigen ein in die Gnade, wir wirken mit. Wir müssen also der Rechtfertigung zustimmen, damit sie geschieht. Sie geschieht nicht gegen uns, aber auch nicht ohne uns, sondern sie geschieht so, daß sie mit uns sich vollzieht. Und in dieser Gnade ist der Mensch dann wirksam und tätig, ist er vermögend, Großes zu wirken.
Im 1. Korintherbrief rühmt sich der Apostel Paulus beinahe. Er hat viel geleistet und gelitten. Doch dann hält er beinahe erschreckt inne. „Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin, und seine Gnade, die er mir gegeben hat, ist nicht unwirksam geblieben, sondern ich habe mehr geschafft als sie alle. Nicht ich,“ besinnt er sich gleich wieder, „nein, die Gnade Gottes, die mit mir war.“
Nicht wahr, das ist ein wunderbarer Satz, das ist eine Beschreibung, wie Gott mit seiner Gnade, mit seiner mitwirkenden Gnade im Menschen wirkt. Zunächst sagt er nämlich: „Ich bin ja gar nicht würdig, Apostel zu heißen, weil ich die Kirche verfolgt habe.“ Aber dann: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin (nämlich Apostel), und seine Gnade, die er mir gegeben, ist nicht unwirksam geblieben (sie hat ihre Kraft entfaltet!), sondern ich habe mehr geschafft als sie alle.“ Er stellt sich an die Spitze der Apostel mit seiner riesenhaften Tätigkeit. „Aber nicht ich, nein, die Gnade Gottes, die mit mir war!“
Da sehen wir also, meine lieben Freunde, wie wir heilswirksam wirken können und wirken müssen. All unser Vollbringen kommt von Gott. Aber das schließt unsere Tätigkeit nicht aus, sondern fordert sie heraus – wir werden tätig, aber wir werden tätig in der Kraft der Gnade. „Gott wollte,“ so sagt es das Konzil von Trient in unübertrefflicher Weise, „Gott wollte, daß seine Geschenke gleichzeitig unsere Verdienste sind.“ Wenn wir in der Gnade Gottes arbeiten, verdienen wir, aber dieses Verdienst ist uns von Gott geschenkt.
Wir versuchen, meine lieben Freunde, mit menschlichen Begriffen das Unsagbare, nämlich das Geheimnis des Wirkens Gottes in der Seele, auszusagen. Ich weiß, daß Reste bleiben, daß eine völlig befriedigende Lösung dieses Vorgangs von Menschen vermutlich nie gefunden werden wird. Aber es läßt sich doch etwas aufhellen von dem Wirken Gottes, und es lassen sich falsche Meinungen abweisen. Und dafür wollen wir dankbar sein, daß Gott gleichsam einen Zipfel des Geheimnisses gelüftet hat, so daß wir sehen können, wie er wirkt und wie wir wirken müssen.
Wenn wir also beten und handeln und Gutes tun, dann wollen wir uns wieder erinnern: Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn, der Himmel und Erde geschaffen hat. Ihm sei Ehre und Lob! Nicht uns, nicht uns, o Herr, sondern deinem Namen gib die Ehre!
Amen.