Predigtreihe: Die Dogmen der Kirche (Teil 5)
15. Dezember 2002
Das Dogma von der Erlösung
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Ein mittelalterlicher Heiliger, der heilige Anselm von Canterbury, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Cur deus homo?“ – Warum ist Gott ein Mensch geworden? Das ist eine berechtigte Frage und eine echt menschliche Frage; denn wir fragen ja auch schon bei jedem Menschen: Wozu ist er da? Welches ist sein Lebenszweck? Diese Frage richten wir auch an uns selbst: Wozu sind wir da? Welchen Zweck hat unser Leben? Diese Frage ist deswegen erst recht berechtigt, wenn ein einmaliger, ein einzigartiger Mensch kommt, wie Jesus, so daß man ihn fragen muß: Wozu bist du gekommen? Er hat darauf Antwort gegeben. Er hat erklärt, daß er einen Auftrag vom Vater hat, eine Sendung, eine Bestimmung, die er erfüllen muß, und es dränge ihn, diese Bestimmung zu erfüllen; er müsse arbeiten, solange es Tag ist, um dieser Sendung nachzukommen, und er nehme von diesem Auftrag Speise und Trank, so daß er gleichsam von ihm lebe.
Diesen Auftrag, den Jesus hatte, hat vor Hunderten von Jahren vor seiner Ankunft der Prophet Isaias in das Wort von der Erlösung gekleidet. Jesus hat dieses Wort aufgenommen. Er hat erklärt, daß er gekommen ist, Gefangenen die Freiheit zu verkünden und den Menschen das Leben zu bringen. Er hat sich als den gewußt, der gekommen ist, sein Blut hinzugeben als Lösegeld – als Lösegeld! – für die Vielen. Und seine Jünger haben diese Botschaft von der Erlösung aufgenommen und haben sie weitergetragen mit Mund und mit Schrift, haben für sie gezeugt und sind für sie gestorben. Wir müssen also am heutigen Sonntag uns die Frage stellen: Was besagt das Wort von der Erlösung? Wir wollen die Antwort in drei Schritten versuchen, nämlich erstens:. Die Erlösung schließt in sich ein Wagnis, nämlich ein Wagnis Gottes, sie schließt in sich zweitens ein Versagen, nämlich ein Versagen der Menschen, und sie schließt schließlich in sich ein Gelingen, nämlich ein Gelingen der Gottesgedanken in dem Knechte Gottes.
Das Wagnis Gottes ist von doppelter Art. Das erste Wagnis bestand darin, daß er den Menschen schuf, daß er ihn als einen Freien schuf, daß er ihm etwas von seiner Ehre und Herrlichkeit, etwas von seiner Souveränität gab, indem er ihm den freien Willen mitteilte. Gott hat es dem Menschen überlassen, ob er zum Guten geht oder zum Bösen, ob er zum Licht schreitet oder zur Finsternis. Er hat ihm eine furchtbare und erschreckende Macht gegeben, nämlich: „Siehe, ich stelle vor dich hin Leben und Tod.“ Der Mensch entscheidet durch seine irdische Lebensweise über sein ewiges Schicksal, ob er in das ewige Dunkel geht oder in das ewige Licht. Er trägt es in seiner Hand, die Gesamtrichtung seines Lebens, die Gesamtrichtung seines Wollens. Das war das erste Wagnis, das Gott mit den Menschen eingegangen ist. Es ist ja eigentlich erstaunlich, daß Gott gleichsam dasteht und wartet, wie sich seine Kreatur, sein Geschöpf entwickeln wird, daß er sich insoweit seiner Allmacht gleichsam begibt, um abzuwarten, in welche Richtung der Mensch gehen wird.
Das zweite Wagnis bestand darin, daß Gott den Menschen an sein Herz zog, daß er ihn zu seinem Kind machte, daß er ihn in sein Heiligtum berief. Wir sprechen hier von der gnadenhaften Erhebung des Menschen, von der Kindschaftsgnade, und wir meinen eben damit, daß Gott im Herzen des Menschen, den er begnadet, ein Heiligtum aufrichtet, ein Heiligtum, in dem der Vater sein göttliches Leben mit dem Sohne im Heiligen Geiste führt. Nicht mehr und nicht weniger. So hat Gott den Menschen geliebt, daß er ihn an sein Herz zog. Wir nennen diese Begnadung übernatürlich, weil sie über dem normalen irdischen Leben hinaus liegt. Sie bedeutet eine Erhebung über das irdische, über das natürliche Leben. Kindschaftsgnade, Herrlichkeitsgnade, Übernatur – diese Worte deuten an, daß Gott ein weiteres Wagnis eingegangen ist mit den Menschen.
Aber dieses Wagnis ist, wenn man so sagen darf, gescheitert. Der Mensch hat versagt. Es gibt ein Versagen des Menschen vor dem Wagnis Gottes. Er hat den Erwartungen und dem Vertrauen, das Gott in ihn gesetzt hat, nicht entsprochen. Er ist von Gott fortgegangen, er hat gesündigt. Das ist eigentlich etwas fast Unbegreifliches, daß eine Kreatur, die Gott geschaffen hat, der Allweise und der Allmächtige, anders ausfällt, als Gott es gewollt hat. Wie ist es möglich, daß selbst Gott nicht an das Ziel seiner Absichten und Wünsche kommt? Wie ist das möglich? Das Geheimnis ist groß; wir können es nur mit der Gabe der Freiheit erklären. Die Freiheit reicht so weit, daß der Mensch von seiner Heimat, von seinem Licht, von seinem Gott fortgehen kann. Auf der ganzen Erde gibt es dann nichts Widrigeres, nichts Grausameres, nichts Widerwärtigeres als den Menschen, der vor Gott geflohen ist.
Anderseits kann man ahnen, welche Wunder geschehen können, wenn der Mensch seine Freiheit nach Gottes Willen gebraucht, welche Wunder der Liebe, welche Wunder des Lichtes. Es ist eben tatsächlich so, daß der Mensch zwei Abgründe in sich trägt, den Abgrund des Lichtes und den Abgrund der Finsternis; daß im Menschen gleichsam zwei Wesen wohnen, ein Engel und ein Satan; daß er sich zwei Ewigkeiten schaffen kann, einen Himmel und eine Hölle. Der Mißbrauch der Freiheit wurde zu einem Verrat an der Liebesgemeinschaft mit Gott. Die größte Liebe, die es je gab, stieß auf Kälte, auf Widerstand, auf Untreue und Falschheit. Die Liebe, das Vertrauen, die Großmut und die Hochherzigkeit Gottes wurden durch den Menschen zertreten, entehrt, geschmäht und getäuscht.
Die Sünde zeigt auch ein Antlitz, das dem Menschen zugewandt ist. Wenn der Mensch sich von Gott abwendet, wendet er sich ja vom Licht ab, und das heißt, er geht in die Finsternis. Wenn er sich von Gott abwendet, wendet er sich vom Leben ab, das heißt, er geht in den Tod. Und so wissen wir, daß das große Weltleid, das wir beklagen und spüren, daß dieses Weltleid zum größten Teil aus der Weltsünde stammt. Die Weltsünde gebiert das Weltleid. Indem der Mensch versagte, fiel er aus der Geborgenheit, aus der Heimat, aus den Himmeln der Seligkeit. Er ist jetzt ein Vertriebener mit unvorstellbarem Leid, mit erschreckender Unseligkeit. Schon die ersten Menschen haben die Treue Gottes verraten, haben versagt, sind ausgezogen aus der Gottesnähe und damit aus allen Paradiesen auch des Menschen, und dieser Auszug hat sich dann fortgesetzt im Brudermord. So ist eine Flut von Tränen und Blut und Trübsal und Schmutz über diese Erde gerollt, über die unerlöste Menschheit. Keine Gemeinschaft, keine Heimat, keine Sicherheit, keine Geborgenheit, kein Friede mehr auf dieser Erde, die das Blut des Bruders getrunken hat. So wandert und kämpft und weint die Menschheit seit Jahrhunderten auf dieser düsteren Erde – bis sich Gott ihrer erbarmt hat. Es gibt nämlich auch ein Gelingen der Gottesgedanken über den Menschen.
Den ersten Schritt zur Annäherung mußte Gott tun. Der Mensch kann zwar sich von Gott trennen, aber er kann nicht allein zu Gott zurückfinden. Er ist ein Verlorener; er ist ein Vereinsamter; er hat den Weg verloren, und er findet ihn nicht, wenn Gott ihm nicht entgegenkommt. Die Brücke ist zerstört, und nur Gott kann eine neue Brücke bauen. Die Tür ist geschlossen, und nur Gott kann sie öffnen. Was der Mensch, was der Sünder Gott antut, kann er selbst nie mehr gutmachen. Das kann nur Gott selbst, und Gott hat den ersten Schritt getan, großzügig, wie er ist: Er wurde ein Mensch. Er wurde einer aus diesem Geschlecht von Verrätern und Versagern. Er nahm Platz inmitten derer, die ihn verleugnet und verlassen hatten. Das ist das Geheimnis der Erlösung. Ja, man muß sagen: Die Menschwerdung ist im Keim, im Ansatz, im Grunde schon die Erlösung. Wir werden noch sehen, daß die Erlösung auch angeeignet werden muß, aber noch einmal: Im Keim und im Grunde ist die Menschwerdung schon soviel wie eine Erlösung. Seit dieser Gottestat wissen wir, daß Gott, der Heilige, uns nicht aufgegeben hat, daß er uns nachgeht, daß er uns sucht, daß seine Sterne noch über unserer Welt stehen. Das wissen wir seit der Menschwerdung Christi.
Dieser auf Erden erschienene Gott hat das Werk in die Hand genommen, das die Menschen versäumt hatten. Er hat das Werk auf seine Schultern und in seine Hände genommen, er wurde der Mensch der großen Hingabe, der freien Hingabe, er, der gehorsame Knecht, der sich zu Tode gedient hat mit seinem Dienen, ja bis zum Tode am Kreuze. Was alle anderen versäumt hatten, das hat er getan. Sein Leben war eine beispiellose und nie da gewesene Gemeinschaft und Herzenseinheit mit Gott. Dieser Liebende hat den bitteren Kelch getrunken, den der Vater ihm reichte. Er hat sich die Füße blutig gelaufen und die Hände blutig gerissen, aber wie soll denn einer Licht bringen, wenn er nicht in das Dunkel geht, das auf dieser Erde ist? Wie soll man denn das Leben schenken, wenn man es nicht opfern will? Und so hat er sein Leben geopfert, so hat er dem Blut und den Tränen einen neuen Sinn gegeben, nicht indem er sie abschüttelte, wie wir das so gern tun. Wir wollen die Kreuze abschütteln. Er hat das Kreuz auf seine Schultern geladen und es mit Liebe umfangen und ihm dadurch einen neuen Sinn gegeben. Das ist es, meine lieben Freunde, das einzige, was möglich ist, um dem Kreuz einen Sinn zu geben, es in der Liebe zu umfangen. Wer das Kreuz nicht in Liebe auf seine Schultern nimmt, dem wird es ein Marterpfahl und nicht das Zeichen der Erlösung. Das war seine Überwindung des Leidens, nicht indem er das Kreuz abschüttelte, sondern indem er es auf seine Schultern nahm. Und so hat er die Kelter getreten, die Kelter Gottes, die Kelter des Zornes Gottes, so daß sein Gewand ganz blutig war. So hat er sich wundgelaufen, und so ist er aus der furchtbarsten Verlassenheit zu Gott gekommen, so daß er selbst am Ende seines Lebens rief: „Mein Gott, mein Gott, wie hast du mich verlassen!“ Da hat er sich in die Hände des Vaters gestürzt und ihm gesagt: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“ Und damit hat er selbst Gott überwunden. Wenn Gott ihn hätte fernhalten wollen, er hätte es nicht vermocht. Dieser Liebende, dieser Hingegebene ist in seine Hände gestürzt und hat sich ihm übergeben: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist.“ Da hat er selbst Gott überwältigt.
Und das hat er nicht nur für sich getan. Auch hier gilt wieder das Gesetz der Verbundenheit. Wie durch einen Menschen der Tod in die Welt kam, so durch einen Menschen das Leben. Jesus hat das Schicksal der Menschen auf sich genommen, indem er das Leid und die Mühsal des Menschen auf sich nahm. Er hat aber auch sein Schicksal uns übertragen, indem er uns mitnimmt zum Vater. Wenn er jetzt in der Auferstehung zum Vater geht, spricht er zu ihm: „Siehe, Vater, das sind die, die an meinen Namen glauben; das sind die, die meine Worte halten; das sind die, die von meinem Fleische und von meinem Blute genährt und getränkt sind. Siehe, Vater, ich will, daß sie seien, wo ich bin, ich will, daß du sie aufnimmst, daß sie die Herrlichkeit schauen, die du mir gegeben hast. Vater, ich will.“ Jetzt hat er plötzlich einen eigenen Willen, und dieser Wille muß gelingen. Denn so wie der Vater ihn aufgehoben hat und ihm einen Namen gegeben hat, der über alle Namen ist, so muß er auch alle aufheben, die im Namen Jesu zu ihm kommen. Er muß sie aufheben und zulassen, er muß zu ihnen sagen: „Ich will euch nicht mehr Knechte nennen oder gar Feinde, sondern ich will euch Freunde nennen und meine Kinder.“
Aber freilich, diesen Weg kann nur gehen, wer ihn gehen will. Die Tür ist aufgegangen, aber es ist unsere Sache, ob wir sie durchschreiten. Die Hand Gottes ist ausgestreckt, aber an uns liegt es, ob wir sie ergreifen. Auch die Menschwerdung rettet die Menschen nicht, wenn die Menschen sich nicht retten lassen wollen. Wer nicht an ihn glaubt, der bleibt unerlöst. Wer nicht zu ihm kommt, der findet nicht heim. Wer diesen Weg nicht geht, der hat keinen Weg. Und wer nicht zu diesem Licht kommt, der bleibt in ewiger Finsternis.
Der Weg, den Jesus geht, ist, wie wir alle wissen, ein Weg, der über Gethsemane und Golgotha führt. Seine Hände und Füße sind blutig, sein Gewand ist ein Spottmantel, seine Krone ein Dornengeflecht. Und alle, alle, die ihm nachfolgen, müssen so zu ihm kommen, wie er gegangen ist. Es kann ihnen nicht anders ergehen, ihr Weg kann nicht anders aussehen als der Weg, den er gegangen ist. Es muß ein Weg sein, der über das Kreuz führt, ein Weg, der mit der Einsamkeit und mit der Plage bekränzt ist. Es muß ein Weg sein, der durch Blut und Tränen führt. Denn die Botschaft von der Erlösung, meine lieben Christen, ist eine Botschaft von der Liebe, und die Liebe, alle Liebe, auch die Liebe Gottes, ist eine wundentragende, eine kreuztragende, ist eine gekreuzigte Liebe.
Amen.