Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Kirche in der Welt (Teil 9)

16. Januar 2000

Die Pflicht, auf die Kirche zu hören

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Gott will, daß alle Menschen selig werden und zur Wahrheit kommen. Weil aber die Seligkeit und die Wahrheit an die Person des Erlösers Jesus Christus geknüpft ist, will Gott, daß alle zu Jesus Christus finden. Die Vermittlung des Weges zu Jesus Christus ist der Kirche aufgetragen. Darum will Gott, daß alle Menschen in diese Kirche eintreten, sich ihren Normen unterwerfen und in ihr leben und sterben. Gott hat also die Mitgliedschaft zur Kirche zu einer Pflicht für jeden Menschen gemacht, und er hat auch gewollt, daß die Menschen auf diese Kirche hören. „Wer euch hört, hört mich.“ So kann man in einem gewissen Sinne sagen, daß die christliche Grundtugend der Gehorsam ist, der Gehorsam der Kirche gegen Gott und der Gehorsam der Menschen gegenüber der Kirche. Daß der Gehorsam die Grundtugend ist, können wir auch daran erkennen, daß der Apostel Paulus den Lebensinhalt Jesu als Gehorsam beschreibt. „Er ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze.“ Der Gehorsam ist in einem gewissen Sinne die katholischste aller Tugenden. Ohne Gehorsam kann niemand zur Kirche finden, in der Kirche bleiben und über die Kirche den Weg zu Jesus nehmen.

Der christliche Gottesbegriff, der diesem Gehorsam zugrundeliegt, ist aus zwei wesentlichen Kraftströmen erwachsen. Der erste dieser Kraftströme ist das Alte Testament, die Offenbarung Gottes an die Väter. Hier tritt vor allem Gottes Herrentum deutlich zutage. Gott tut im Himmel und auf Erden, was er will, und diesem Willen hat sich der Mensch zu unterwerfen. Der zweite Kraftstrom ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Hier ist Gott uns nahegekommen, hier ist Gott in die Menschheit eingegangen, und seitdem ist die Menschheit mit Gott in einem objektiven Sinne verbunden. Er hat für alle Menschen genuggetan. Freilich muß noch jeder einzelne sich diese Erlösung aneignen

Das Werk der Erlösung des einzelnen nun ist der Kirche aufgetragen. An ihr ist es, die Erlösung zu den Menschen zu tragen im Wort der Verkündigung und in der Gnade der Sakramente. Die Kirche bringt die Erlösung zu den Menschen. Sie ist deswegen Dienerin Gottes, aber auch Herrscherin der Menschen. Die Kirche ist Dienerin Gottes. Ja, sie ist ihm zum Gehorsam verpflichtet, und alles, was sie tut und was sie anordnet, muß sich vor dem Urteil Gottes ausweisen können. Sie ist Dienerin Gottes im Weltplan, im Erlösungsplan Gottes. Sie soll nach Gottes Willen die Erlösung den Menschen zuwenden; durch sie sollen die Menschen zu Jesus finden.

Damit liegt auf ihr eine ungeheure Verantwortung. Sie ist das Werkzeug und das Organ und der Statthalter Jesu, und sie muß dafür sorgen, daß sie ein lauteres Organ, ein ehrlicher Statthalter, ein geeignetes Werkzeug ist und bleibt. In die Hand der Kirche ist gewissermaßen die Ehre Gottes gelegt; sie muß dafür sorgen, daß er die Ehre empfängt, auf die er Anspruch hat. Deswegen ist sie auch so eifersüchtig darauf bedacht, daß die Ehre Gottes gemehrt wird und daß sie nicht gemindert wird. Und zu diesem Zweck hat sie auch Autorität empfangen. Die Autorität ist nicht nur aus faktischer Notwendigkeit oder aus einem alltäglichen Bedürfnis entstanden, die Autorität der Kirche ist gottgegeben, und deswegen legt sie so viel Wert darauf, daß diese Autorität anerkannt wird und erhalten bleibt. Aber das alles ist Ausfluß ihrer Dienstbereitschaft, ihres werkzeuglichen Dienens gegenüber Gott.

Gegenüber den Menschen ist die Kirche eine Herrscherin, denn sie tritt auf in der Autorität Gottes. Hinter ihr steht die Autorität Gottes. „Wer euch hört, hört mich.“ Die Gebote Gottes werden zu Rechten der Kirche. Jesus sagt: „Gehet hin und lehret alle Völker!“ Jesus befiehlt: „Überall soll meinem Namen ein reines, heiliges Opfer dargebracht werden.“ Jesus will, daß alle Menschen zur Wahrheit kommen. Alle diese Gebote Gottes sind Rechte der Kirche, Recht auf Existenz, Recht auf Wirkmöglichkeit, Recht auf Freiheit der Verkündigung, Recht auf Verwirklichung des Kults. Auch die Ethik, die Christus verkündet hat, ist in die Hand der Kirche gelegt, und sie legt diese Ethik Christi vor in der Form von Gesetzen, von Sittengesetzen. Die Sittengesetze, welche die Kirche formuliert und den Menschen verkündet, haben hinter sich die Autorität Gottes. Das sind nicht Ansichten eines alten Mannes in Rom, sondern das sind die Gebote, die Gott seiner Kirche anvertraut hat auf dem Gebiete der Sittlichkeit. Eine dritte Schicht von Weisungen, die die Kirche erläßt, sind ihre eigenen Satzungen, also vor allem das Kirchenrecht. Auch hinter diesen Satzungen steht der Wille Gottes. Als er die Kirche schuf, wollte er, daß sie eine Sendung für die Menschen hat, welche die Autorität gegenüber den Menschen in sich schließt.

Nun werden alle Weisungen, alle Gebote, alle Dekrete, alle Befehle den Menschen kund durch das Gewissen. Das Gewissen ist ein Urteil der praktischen Vernunft über das, was nach Gottes Willen zu tun oder zu unterlassen ist. Es wird manchmal gesagt, das Gewissen sei eine Norm. Das ist eine verkürzte, fast eine falsche Redeweise. Das Gewissen ist ein Organ, durch das uns die Normen bekannt werden. Das Gewissen eines Christen, eines katholischen Christen schließt nun ein, daß der Mensch verpflichtet ist zum Gehorsam gegen die Kirche. Das katholisch gebildete Gewissen enthält in sich den Grundsatz: Ich muß die Kirche hören. Denn sie ist das Werkzeug, das Organ, der Statthalter Gottes. Wenn nun einer, wie es ja gelegentlich vorkommt, meint, sich auf sein Gewissen berufen zu können gegen die Kirche, dann kann das in der Regel nur ein falscher Gewissensspruch sein. Ein wahrer und rechter Gewissensspruch wäre es nur dann, wenn Männer der Kirche ihrer Sendung untreu werden, wenn sie nicht das, was Gottes ist, fördern, sondern wenn sie das fördern, was des Satans ist. Dann müßte allerdings auch das katholische Gewissen aufstehen. Aber solange das nicht der Fall ist, solange die Hirten der Kirche rechtmäßig gebieten, ist der Katholik gebunden, kraft seines Gewissens gebunden, diesen Weisungen und Anordnungen nachzukommen.

Jedes Gesetz hat seine Grenzen. Die Gesetze sind an den Rändern irgendwie so beschaffen, daß es Ausnahmen geben kann, sofern sie nicht in sich Schlechtes verbieten. Wenn in sich Schlechtes verboten wird, gibt es keine Ausnahme. Es gibt beispielsweise keine Ausnahme von dem Verbot, außerhalb der Ehe sich geschlechtlich zu betätigen. Es gibt keine Ausnahme. Das ist ein Verbot, das ausnahmslos gilt, von dem keine staatliche Rechtsordnung eine Ausnahme machen darf, wenn immer sie dem Gesetze Gottes treu bleiben will. Aber bei anderen, bei positiven Geboten gibt es gewisse Unterscheidungen zwischen Buchstaben und Gesetz oder zwischen Buchstaben und Geist des Gesetzes. Ich nenne drei solcher Möglichkeiten der Freiheit. Einmal kann es geschehen, daß der Gesetzeszweck konträr wegfällt. Was heißt das: Der Gesetzeszweck fällt konträr weg? Das besagt: Der Zweck, den das Gesetz in sich hat, wird, wenn man es beobachten würde, nicht mehr erreicht, sondern im Gegenteil: es entsteht ein Schaden. Die Erfüllung, die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes würde nicht Gutes bewirken, sondern Schlimmes. Es ist klar, daß in einem solchen Falle das Gesetz nicht mehr verpflichtet. Ein Beispiel: Wir dürfen keine schlechten Bücher lesen, denn schlechte Bücher sind eine Gefahr für unsere Seele. Aber wie soll ein Gelehrter, der die schlechten Bücher widerlegen soll, seine Widerlegungsarbeit leisten, wenn er sie nicht liest? Er muß also die Möglichkeit haben, solche Bücher zu lesen. Wenn er sie nicht lesen würde, könnte er seiner Aufgabe nicht nachkommen, nämlich sie zu bekämpfen und die aufgestellten Irrtümer zurückzuweisen. Hier sieht man: Der Gesetzeszweck fällt in einem solchen Falle konträr weg. Wenn man das Gesetz wörtlich beobachten würde, würde es Schaden stiften.

Eine zweite Möglichkeit zur Freiheit besteht dann, wenn Normen zusammentreffen. Es können sich die Verhältnisse so verwickeln, daß man mehrere Gesetze – die alle verbindlich sind! – nicht gleichzeitig erfüllen kann. Ein Beispiel: Ein Mann ist auf dem Wege zur Arbeit. Um 8 Uhr muß er an seinem Arbeitsplatz sein. Aber da sieht er auf der Straße einen Verunglückten, der dringend seiner Hilfe bedarf. Niemand ist in der Nähe, der ihm helfen könnte. Also muß er ihm helfen. In diesem Falle geht selbstverständlich das Gebot, einem Verunglückten zu helfen, der Pflicht vor, um 8 Uhr am Arbeitsplatz zu sein. In dieser Normenkollision weicht das geringere Gesetz dem höheren.

Und noch einen weiteren Fall gibt es, wo die Freiheit dem Menschen gewährt ist. Es kann nämlich sein, daß es unmöglich ist, ein Gesetz zu erfüllen. Diese Unmöglichkeit kann wieder eine physische oder eine moralische sein. Von einer physischen Unmöglichkeit, ein Gesetz zu erfüllen, spricht man dann, wenn die Kräfte in keinem Falle ausreichen, das Gesetz zu beobachten. Ein Beispiel: Ein Nichtschwimmer sieht, wie jemand sich in den Rhein stürzt, um sich selbst zu töten. Er kann ihm nicht helfen, denn als Nichtschwimmer kann er nicht einmal versuchen, ihn zu retten; das würde sein eigener Untergang sein. Das ist eine physische Unmöglichkeit. Normalerweise muß man ja einen Selbstmörder zurückhalten von seinem Beginnen. Aber in diesem Falle ist es nicht möglich. Es ist aufgrund seines eigenenen Unvermögens absolut unmöglich, daß er einen solchen, zum Selbstmord entschlossenen Menschen rettet.

Davon zu unterscheiden ist die moralische Unmöglichkeit. Gesetze können so schwierig zu erfüllen sein, daß es dem einzelnen unzumutbar ist, sie zu erfüllen. Wiederum ein Beispiel: Im Jahre 1951 war ich in einer Pfarrei tätig, in der sich Kohlengruben befanden. Eines Tages kam ein braver oberschlesischer Katholik zu mir und sagte: „Herr Kaplan, ich habe oft Schicht von Samstag zu Sonntag und komme dann früh am Sonntag, um 6 oder um 7, aus der Grube und gehe gleich in die heilige Messe, kann aber nicht die heilige Kommunion empfangen, weil ich natürlich nicht von nachts 12 Uhr an bis am Morgen nüchtern bleiben kann. Ich muß Kaffee trinken. In der Hitze und in der Glut der Grube, im Staub da unten, da muß man etwas zu sich nehmen.“ Ich habe ihm gesagt: „Lieber Freund, in diesem Falle gilt das Gesetz nicht für Sie. Sie dürfen auch dann zur heiligen Kommunion gehen, wenn Sie nach 12 Uhr etwas getrunken haben.“ Das war für den Mann unzumutbar, 6 Stunden lang bei schwerer Arbeit ohne Getränk zu bleiben. Dieser letzte Grundsatz, nämlich daß bei moralischer Unmöglichkeit ein Gesetz zessiert, gilt aber nicht für Gesetze, die in sich Schlechtes verbieten. Solche Gesetze sind immer zu erfüllen, davon gibt es keine Ausnahme.

Sie können an diesen Beispielen sehen, daß der Christ, auch wenn er an Wort und Weisung der Kirche gebunden ist, nicht ohne Freiheit ist. Er muß sich überlegen, wie und in welchem Grade ein Gesetz zu erfüllen ist. Das tun ja auch die Menschen. Wie unterschiedlich ist das Verhalten etwa, wenn jemand erkältet ist. Der eine sagt nun: „Mit dieser Erkältung kann ich den Gottesdienst nicht besuchen.“ Der andere sagt: „Ich gehe trotz der Erkältung in die heilige Messe.“ Man wird weder dem einen noch dem anderen einen Vorwurf oder ein Lob zuteil werden lassen können. Die Menschen sind eben verschieden. Sie sind auch verschieden in ihrer Anfälligkeit, und so muß man es dem einzelnen überlassen, wie er das Gesetz in dieser konkreten Lage erfüllt.

Die Gesetze liegen auf uns nicht nur wie eine schwere Wucht. Nein, die Gesetze heben uns auch. Durch die Gesetze Gottes und seiner Kirche gewinnt unser Leben ein Gewicht, gewinnt unser Leben einen Inhalt, gewinnt unser Leben eine Erfüllung. Wir werden durch das Gesetz gehoben, und zwar erhoben über die Untiefen unserer eigenen Natur. Wenn man sich nämlich der Natur überläßt, dann verfällt man immer dem Bequemen und Leichten und dem Lässigen. Durch das Gesetz werden wir emporgerissen aus unseren Niederungen und empfangen eine Erfüllung unseres Lebens, die ohne das Gesetz nicht möglich wäre. Daraus erklärt sich auch der Idealismus, der jedenfalls in guten Zeiten der Kirchengeschichte immer in denen war, die der Kirche sich zum Dienste geweiht haben. In ihnen war ein großer Wille, ein tapferer Entschluß, ein unabänderlicher Vorsatz, der Kirche zu dienen und durch den Dienst an der Kirche Gott zu dienen. Das war ihre Würde, das war ihr Glück, das war ihre erhabene Berufung. Und wenn es Menschen gegeben hat, die dieser Berufung untreu wurden, dann handelt es sich um solche, die von kleinem Format sind, die den Ruf zur Größe entweder nicht gehört oder absichtlich von sich gewiesen haben.

Die Kirche ist die Organisation, die Christus ins Leben gerufen hat. Er hat ihr einer hierarchische Verfassung gegeben. Ihre Zwecke sind die Bewahrung und die Ausbreitung der Erlösungsgaben, die er ihr vermittelt hat. In der Kirche versammeln sich die Menschen, die Gott gehorsam sind, und dieser Gehorsam führt sie auf dem geraden Wege in die ewige Seligkeit. In der Kirche sind die Menschen versammelt, die ein Wissen darum haben, daß es sich lohnt, daß es die Mühe lohnt, Gott und der Kirche Gehorsam zu frommen, daß sie ein Ziel haben, das über allen irdischen Zielen steht, und daß sie Kräfte haben, die aus ewigen Quellen fließen und die in ewige Meere münden.

Amen.

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